Der Hechelberg

In Norwegen gibt es einen höchst furchtbaren Berg, der vom Meere umgeben ist, gewöhnlich Hechelberg genannt wird und ein höllisches Aussehen hat, wo solches Klagegeheul und Geschrei gehört wird, dass der schauerliche Lärm fast eine Meile weit im Umkreise vernehmbar ist. Überdies fliegen unter fürchterlichem Geräusch grosse Geier und allerschwärzeste Raben um diesen Berg herum, so dass jedermann die Angst abhält, sich ihm zu nähern.

Agrippa von Nettesheim: de occulta 41

Prolog

Ein Zeckenbiss, der aus der Bahn mich warf,
Als ich ins Fünfzigste getreten war,
Hat mich in einen Heidewald gelockt,
Wo Ruhe ich, im Schlaf Erquickung suchte.
Doch fand ich Trümmer früh’rer Kriege dort,
Gebräunten Stahl, der aus der Erde ragte,
Zyklop‘sche Brocken von Beton, armiert,
Darüber Adlerfarn und Disteln wuchsen.
Rot und geschwollen schmerzten die Gelenke,
Der Augen Klarheit war wie Milch getrübt,
Da tratest du mir, Kostbare, entgegen,
Licht meines Lebens, Heldin meiner Seele,
Die ich zuerst durch einen Schleier sah
(das Haar emporgesteckt zu einem Helm,
Gehüllt in ein Gewand von brauner Seide),
Hast meine Hand ergriffen, auf die Augen mir
Dein andres Händchen heilend aufgelegt,
So dass ich staunend nach so vielen Monden,
In denen ich halbblind umhergetappt,
Die Sonne deiner Schönheit leuchten sah.
Dein Lächeln hast du, Holde, mir geschenkt
Und Hoffnung neu im Herzen angezündet.
„Da wir“, so sprachst du freundlich, „beide
Von Vätern stammen, die Soldaten waren
In einem Krieg, der dem Verbrechen diente,
Woll’n wir für unsre Wunden Heilung suchen,
Indem wir gehen an den Schreckensort.“
Ich folgte deinem Zauber, war nicht fähig,
Ohn‘ dich im Lichte weiter zu verweilen,
Das düster mich und arg verdunkelt deuchte,
Seit deiner Augen Strahl mich einst durchbohrt.
Wir stiegen einen glatten Pfad hinab,
Der unter Trümmern in die Erde führte,
Der Weg war glitschig, weisse Tropfen fielen
Herab aus dem Geklüft und scheckten uns,
So dass wir Leoparden glichen, weissgefleckten,
Als unten uns ein Felsentor empfing,
Das, abgeschlossen und mit schwerem Eisen
Beschlagen, unser Weiterschreiten hemmte.
Du aber pochtest mit energischer Faust
An seine Eichenbohlen, dass weithin
Das Echo hallte durch die Katakomben.
„Wer stört in ihrer Ruh‘, die hier verweilen?“
Rief eine Stimme, rauh wie Sandpapier.
„Ich bin es, Helche!“ riefst du frohgemut,
Und mein Begleiter, Eduard Eisenpflicht.“
„Ihr dürft die Kasematten nicht betreten,
Denn eure Herzen schlagen warm und stark,
Und liess‘ ich euch herein, ihr wärt des Todes,
Denn allzu schrecklich ist, was euch erwartet.“
„Wir sind aufs Allerschrecklichste gefasst,
Wollen es sehen, koste es das Leben.
Was ist ein Leben wert, das nur sich fristet,
Indem vom Schrecklichen es weg sich kehrt?“
„Ich habe euch gewarnt, so tretet ein!“
Das Tor hat knirschend sich vor uns geöffnet,
Und als ich es durchschritt, las ich darauf
Die Inschrift suum cuique und erwog,
Was sie an diesem Orte mocht‘ bedeuten.
Des Wächters Anblick unterbrach mein Sinnen:
Er war von hohem Wuchs, schöner Gestalt,
Des Körpers Ebenmass aus Alabaster,
Die graue Farb‘ von Adern schwarz durchzogen;
Die Hüften schmal, die Hände voller Kraft,
Niemals hätt‘ ich die rauhe Stimme in
So grosser Schönheit wohnend mir gedacht.
Doch als ich auch sein Wesen wollt‘ erfassen,
Zu seinen Augen meinen Blick erhob,
Erschrak ich, denn sie waren sternlos weiss,
Gerade als ob Hühnereier ihm
Im Kopfe rollten statt bestirnter Äpfel.
„Sein Name ist potentia, die Macht.
Er steht an diesem Tore und hält Wache,
Weil keiner eintritt, der ihm nicht gedient.“
Mit diesen scheu gehauchten Worten hast
Du über ihn mich aufgeklärt, du Holde.
„Ich aber will den Mächtigen nicht dienen!“
Hab‘ ich so laut, dass er es hören musste,
Darauf erwidert, woraufhin er grollte:
„Mir dienen alle, selbst die mich bekämpfen,
Denn wie die Luft den horror vacui hat,
So füll‘ auch ich jedweden leeren Raum,
Und selbst der fromme Eremit, der glaubt
Er wäre mir entronnen, dient mir noch,
Indem er mich unangefochten lässt.“
„Wie aber sind wir sicher hier vor ihm?“
„Uns schützt das Pochen unsrer Herzen. Es
Weist einem andren Reich als seinem uns,
Demjenigen wonnigen Lebens, zu.“
So sagtest du und nahmst mich bei der Hand,
So dass ich wie ein Söhnlein mich von dir,
Die ich im Herzen meine Herrin nannte,
Liess ziehen in der Kasematten Tiefe.

Erste Passage

Zuerst vermeint‘ ich, wir durchschritten Höhlen,
Aus fels’gem Boden von des Wassers Kraft
In Jahrzehntausenden herausgewaschen.
Doch strauchelte ich, und nur deine Hand
Hat mich vor härt’rem Sturz bewahrt. Als ich
Zurückschau, seh‘ ich überm Boden ein
Armierungseisen aus dem Felsen zittern.
„Verrat mir, wo wir sind“, sprach ich dich an,
Du aber strebtest unaufhaltsam vorwärts.
Erst als der Weg sich sachte aufwärts hob
Und wir auf einer Plattform Atem schöpften,
Zu der herabsank Licht wie Magermilch,
Verweiltest du und setztest an zu sprechen.
Da machte dich ein dumpfes Tosen stumm,
Und Massen Staubes wölkten aus der Klamm,
Die wir soeben erst durchschritten hatten.
„Wir sind in einem Berge“, hubst du an,
„Den schon Agrippa uns beschrieben hat:
Sein Nam‘ ist Hechelberg, und wenn du lauschst,
Wirst du von oben das Gekrächz vernehmen,
Die schrillen Schreie des Geflügels, das
In Ewigkeit um seinen Gipfel kreist.“
Tatsächlich hörte ich, sobald das Grollen
Der eingestürzten Trümmer war verhallt,
Aus weiter Ferne, ja, aus Kindheitsferne
Ein Rufen wie von Dohlen niederhallen.
„Auch Homeros hat diesen Ort besungen
Als einen, wo in Nacht und Nebel nur
Elende Menschen tappen, die das Licht
Der Sonne niemals zu Gesicht bekommen.
Kimmerien hiess er dieses Land und liess
Ulysses dort das Tor zum Orkus finden.“
Minerva hätte mir nicht kundiger
Entgegnen können, als es Helche tat,
Die den behelmten Kopf nach vorne wandte
Und mir vorausging in die nächste Kluft.

Erste Kluft

Wie hätte ich den Anblick wohl ertragen,
Der dort sich bot dem aufgeriss’nen Aug‘,
Hätt‘ ich den Blick auf dich nicht wenden können,
Du Himmlische, auf deren klarer Stirn
Das Grässliche ein sanfter Schauer ist.
Verwundet lag der Männer grosse Zahl
Am Boden rings umher so dicht bei dicht,
Dass oftmals einer war die Deck‘ des andern.
Ich will die Vielfalt der Verstümmelungen
Hier nicht beschreiben und die Wollust nähren,
Die allzu leicht aus dem Entsetzlichen
Zieht zweifelhaften, sünd’gen Lustgewinn.
Da lag mit einem Munddurchschuss der eine,
Mit Zähnen gurgelnd im gestockten Blut,
Dem anders war’s Gesicht hinweggerissen,
Nur Hals und Schädel waren noch zu sehn.
Zu unerträglich war mir dieser Anblick,
Ich wandt‘ mich anderen Versehrten zu.
Es waren die, die nur ein Glied verloren:
Der einen Arm, der andre einen Fuss,
Und kläglich stützten sie sich auf einander,
verbargen schamvoll ihrer Stümpfe Graun,
aus denen Blut und Lymphe sickerten.
Als ich herantrat, löste einer sich,
Auf einem Beine hüpfend sprang er auf
Mich zu, dem Knaben gleich, der Hahnenkampf,
Den einen Fuß erhoben, spielt mit andern,
Und vor mir angekommen, hub er an,
Mit einer Stimm‘ zu mir zu sprechen, die
Mich schaudern und vor Schrecken zittern liess:
„Leih mir dein Ohr, o fremdester Besucher,
Der sich nicht scheute, hier zu uns herab
Durch rauhe Klüfte kühn herabzusteigen.
Wir alle büssen hier für unser Tun,
Doch sind wir ohne Hoffnung nicht so ganz,
Dass eines Tages uns Begnad’gung winkt.
Ich habe mich vom Bösen täuschen lassen,
Das gleisnerisch das Kleid der Wahrheit trug,
Hab‘ unter Einsatz meines Lebens dann
(sieh diesen Stumpf, aus dem das Blut noch trieft!)
Das Reich des Bösen nicht allein verteidigt,
Sondern gekämpft, es über ganz Europa,
Ja, weltweit düstre Mordlust auszubreiten.
Ein Kaufmann darf sich täuschen lassen, selbst
Ein Wissenschaftler und ein Mann der Kunst,
Wie Gottfried Benn, der Hautarzt, einer war,
Der seinen Irrtum bitter hat gebüsst.
In dem Beruf jedoch, den ich erwählte,
Ist das Durchdringen jeden Truges Pflicht.
Was taugt ein Richter, der sich täuschen lässt?
Die Täuschung aber, die zu Fall mich brachte,
Sie schritt einher als strenge Theorie,
Zu der demütig aufzublicken ich
Von akadem’schen Lehrern ward erzogen:
Positivismus war ihr eitler Name,
Und sie gebot mir, das Gesetz als höchste
Instanz all meines Denkens anzusehn.
Dass aber ein Gesetz als Menschenwerk
Auch Unrecht in Gesetzesform kann giessen,
Dieser Gedanke wär‘ mir nie gekommen,
Und als die Stimme des Gewissens sich
Schüchtern zu regen wagte, hab‘ ich sie,
Weil das Gesetz für mich das Höchste war,
Statt des daimonions, wie es Sokrates
Den Gymnasiasten einstmals hat gelehrt,
Missachtet und getreten in den Schmutz.“
Ein Weinen, das vom Zwerchfell aufstieg, machte
Den Mund, den ich nie weinen hab‘ gesehen,
Verrät’risch zucken, und er griff sich in
Die blutdurchnässte Hose, fand dort nicht,
Des er bedurfte, weshalb ich ihm schnell
Mein arg zerknülltes Taschentuch gereicht.
Es tat mir bitter weh, dass ich den Mann,
Dem ich das Leben dank, so elend sah.
„Gibt es kein Lazarett an diesem Ort?“
Hab‘ ich an dich, du Holde, mich gewandt,
Aus deren Augen stumme Tränen flossen.
„Man kann doch diese grosse Zahl Versehrter
Nicht unversorgt auf harter Walstatt lassen!“
„Sie dauern mich nicht weniger als dich,
Doch brauchen sie des Wundbrands ew’ge Qual,
Um die der Reue weniger zu spüren,
Die noch viel schmerzhafter als jene nagt.“
Du nahmst mich bei der Hand, um mich hinweg
Und an das Ende dieser Kluft zu führen.
Doch da vertrat derselbe, der mit lautem
Trompetenton die Nase sich geschneuzt,
Auf einem Beine hüpfend, uns den Weg.
„Du trägst wie ich den Namen Eisenpflicht,“
Hub er erneut zu rauher Rede an,
Der ich mich nicht entziehen konnte, „doch
Weisst du noch nicht, dass erst mein Vater ihm
Die heutige Gestalt gegeben hat,
Als er, der von Beruf ein Schuster war
(wie auch der Vater Winckelmanns, den ich
Als meinen Geistesbruder sehr verehr‘,
Zumal auch seinen Lieblingen die Zeit
Dem einen Fuss, der einen Arm geraubt),
Fortzog aus kleiner Stadt im Hessischen
Und Wohnsitz nahm im Bienenkorb der Stadt,
Hat er aus Gründen, die mir unbekannt,
Dem Namen eingefügt den Buchstab p.
Gern hätte ich dies Rätsel aufgeklärt
Und bitte dich: Tu es an meiner statt!“
Die letzten Worte rief er laut mir nach,
Weil deine Ungeduld kein Säumen kannte
Und ich dich aus den Augen schon verlor.
Als ich die Felsennase dann umschritt,
Die zwischen dich und mich sich hatt‘ geschoben,
Sah ich am Hals dich eines würd’gen Alten
Mit Tränen nässen seine breite Brust,
Hörte dich schluchzen immer wieder: „Ach,
Wie konntest du so ungetröstet gehn,
Und mich, dein Töchterchen, der Bosheit der
Verruchten Menschen schutzlos überlassen?“
Er drauf erkundigt sich, in welcher Form
Man dich zu quälen wage: „Ach, mein Vater,“
Erwidertest du, während du geschickt
Durchnässenden Verband erneutest, „Slawa,
Den ich von Herzen liebe, hat, seitdem
Du nicht mehr bist, in seinem Slawenherzen,
Berechtigt oder nicht, Ressentiment
Auf alles Deutsche ausgemacht und quält
Mit Hasstiraden und Verachtung mich,
Beschimpft auch dich als ausgepichten Nazi,
Lässt alles, was die Deutschen seinem Volk
Im Kriege angetan, an mir jetzt aus,
Und damit nicht genug, sogar die Kinder
Setzt er als Nazibankerte herab…“
Voll Kummer wandte sich der Alte um,
Bedeckte seine Augen mit den Händen
Und murmelte, dass ich es kaum verstand:
„Geh hin zu Slawa, sag ihm einen Gruss,
Erzähl ihm, wie ich hier für alles büsse,
Was ich in Jugendtorheit und auch in
Leichtfertigem Gehorsam angerichtet,
Verführt vom teuflischen Ideenbrei,
Den Wissenschaftler ausgegoren haben.
Dich aber trifft daran gar keine Schuld.
Und erst die Enkel sind wie Lilien rein.
Die Nazis pflegten, wenn sie einen hassten,
Den Hass auf Frau und Kinder zu erstrecken.
Sag Slawa: Wenn er denen, die er hasst,
Nicht zum Verwechseln ähnlich werden will,
So soll er aus der Sippenhaft euch lösen.“
Damit entschwand er in die schatt’gen Klüfte,
Mir ward das Glück, dich tröstend zu umfangen:
An meiner linken Schulter ruhte schluchzend
Der schönste Frauenkopf des Erdenrunds.

Zweite Kluft

Die Halle, die nach langem Schlängelweg
Durch dunkle Felsenmassen, nässend, leckend,
Wir aufwärts kriechend dann erreichten, war
’nem Flugzeughangar ähnlich: riesenhoch,
Aus vierundzwanzig rechten Winkeln, die
Acht Ecken von so gnadenloser Schärfe
In grauen Anhydrit gestossen hatten,
Dass Angst vorm Tod unmittelbar daraus
In meinem Herzen aufstieg, aber da
Stach nadelspitz mich etwas in die Schulter,
Ein Wesen, wohl mit menschlichem Gesicht,
Doch ausgestattet mit den schwarzen Schwingen,
Den Krallen und den grossen haut’gen Ohren
Der Fledertiere, die im Dunkel hausen.
Sie hingen hier zu vielen Hundert in
Der Flügel schwarze Nacht gewickelt, an
Der Decke, die so glatt war, dass sie andern
Als diesen Zwitterwesen keinen Halt
Geboten hätte; viele aber lösten
Von ihrem Ort sich und umkreisten uns,
Kreischten dabei und suchten unsre Hälse.
„Wer seid ihr und was wollt ihr?“ rief ich aus
Und fügte an, um Helches Hals zu schützen,
Des weisse Zartheit süss erstrahlt‘ im Dämmer:
„Wer mir das sagt, dem biet ich einen Schluck
Lebend’gen Bluts aus meiner Halsschlagader!“
Da setzte sich auf ein Gewirr aus Eisen,
Verbrannter Leinwand und geschmolznem Blei,
Der mich als erster angefallen hatte,
Erhob die Stimm‘ und fistelte: „O Freund
Aus alten Schülertagen an dem Institut,
Das Lornsens Namen trug, des edlen Friesen,
Der sich an einem nebelgrauen Morgen
Im Genfer See ertränkte und erschoss,
Erinnerst du dich noch des schwachen Knaben,
Der in der Halle, die als Inschrift trug:
Lass‘ den Helden in deiner Seele nicht sterben!
Wenns darum ging, am Reck oder am Barren
Zu zeigen, wie man eine Übung turnt,
Gezwungen wurde, ans Gerät zu gehn,
Damit er hilflos hampelnd, baumelnd dort
Den andern zeige, wie man’s kein’sfalls macht?“
„Du bist es, Jens! Was hat dich hergeführt?
Ich habe wohl gehört, dass du verstarbst,
Doch warum musst du hier als Vampir leben?“
Er schwieg und hüllte kummervoll den Kopf
In seine haut’gen Flügel, aber Helches
Schneller Verstand hat sanft mich aufgeklärt:
„Die du hier siehst, mein Freund, die lechzend uns
Nach unserm warmen Blut umschwirren, sind
Selbstmörder alle und verdammt dazu,
Nach jenem Leben, das sie fortgeworfen,
In alle Ewigkeit zu sehnen sich.“
„Du hast dich umgebracht,“ hab ich an Jens,
Der immer noch in seinem Schmerz verharrte,
Erneut das Wort gerichtet; „sag mir, wie,
Und sag mir auch, was dich bewogen hat,
Des Lebens holde Bürde abzuwerfen?“
„An Diabetes leidend, hielten mich
Nur Spritzen aufrecht, und ich brauchte sie,
Damit ich starb, nur einfach abzusetzen.
Das aber tat ich an dem Tag, an dem
Ich jenen Film ‚Bei Nacht und Nebel‘ sah
Der mit den mörd’rischen Exzessen mich,
Den Halden von Gebissen, Brillen, Schuhen
Hat konfrontiert, der Hinterlassenschaft
Der Menschen, die der Rassenwahn ins Gas
Getrieben hat in den Vernichtungslagern.
Die Last des Grauens, die uns aufgebürdet,
Hat nieder mich von Jugend auf gedrückt,
Ich wollte Deutscher nicht, nur niemand sein.
Nun aber löse dein Versprechen ein
Und lass aus deinem Hals mich Leben trinken!“
Schon spürte ich den Luftzug seiner Flügel,
Und Dornen gleich bohrten die Krallen sich
Durchs Leder meiner Jacke in die Schultern,
Als er auf mir sich niederliess, um dann
In meinen Hals den gier’gen Zahn zu schlagen.
Du aber hast ihn mit Gebieterstimme
An seinem Tun gehindert und verscheucht:
„Nicht du hast ihm gesagt, wer ihr hier seid,
Ihn aufgeklärt über eu’r Sein und Wollen,
Ich hab es ihm gesagt, und wenn hier wer
Ein Recht hat auf sein Blut, dann bin es ich.“
So sagte sie, und Jens entflatterte,
Ausstossend der Enttäuschung schrill Gekreisch.
„Und wer bist du?“ sprach ich ein Mädchen an,
Das mich durchs Brillenglas mit grossen Augen
Wie eine Eule ansah, „kenn ich dich?“
Sie wischte mit der lapp’gen Haut der Flügel
Die Augen sich, die weinend überflossen,
Und sprach dann zögernd und vermied dabei,
Mich anzuschaun, als schämte sie sich sehr:
„Ich bin enttäuscht vom Leben wie vom Tod,
Hab es mir hier ganz anders vorgestellt,
Gemeint, ich könnte Asphodelen pflücken,
Wo grauer Staub allein den Boden deckt.
Wie gerne streunte ich durch Wald und Flur,
Warf auf ein Polster harten Grases mich
Auf einer Lichtung hin, lauschte den Stimmen,
Die süsse Waldesstille noch vertieften,
Zerschmolz in Wonne, wenn ich an den Jungen,
Den blonden, hochgewachs’nen dachte, der
Als einziger um mein Alleinsein wusste.“
„Bist du es, Hella? stolz verschämtes Wesen,
Das sich dem Schicksal, Weib zu sein, entzog?
Wer aber ist der Blonde, Hochgewachs’ne,
Dem du die Liebe deines keuschen Herzens,
Die Zartheit einer edlen Seel‘ geweiht?
Da er dich nicht erhört, dich nicht gerettet
Vor der verfluchten Röhre tödlichen Opiats,
Verdient er, dass ich strafend ihn benenne,
Wenn ich in Verse giess den Hadesgang!“
„So nenne nur den eignen Namen, Edu,
Denn dir allein gab ich anheim mein Herz.
Und sag mir nicht, du hätt’st es nicht gewusst!
Wie oft hab ich dich schmachtend angeblickt,
Stand unauffällig dann an deinem Weg,
Stolz darauf wartend, dass du mich bemerkst.
Dich aber hat der Hochmut blind gemacht,
Mit meiner Demut konnt’st du nichts beginnen,
Auch hat es dir an Mut gefehlt, um mit
Dem Mädchen, das allseits belächelt wurde,
Kühn anzubandeln ohne Rücksicht darauf,
Wie andre wohl darüber reden würden.“
Ich taumelte zurück, bedeckte mit
Den Händen meine Augen, deren Sehkraft als
Sehr unzulänglich sich erwiesen hatte,
Und niederkniend bat ich um Verzeihung
Die stolz Verschämte, die sich von mir wandte
Und aus der Ferne rief: „Ich trage dich,
Geliebter Eisenpflicht, als einen Mann
In meinem Herzen, der vor nichts und niemand
Jemals das Knie gebeugt…“

„Zu hungern nur, scheint mir geringe Qual,
Verglichen mit dem Bösen, das ich tat.“
„Was ist es, dessen du, o Kriemhild, dich
Nach Strafe voller Sehnsucht lechzend, zeihst?“
„Ich habe nicht die Absicht, auszubreiten,
Wann, wie und wo, worin ich hab gefehlt.
Nur eines will ich sagen: Dass bei allem Schmutz,
In den mein Leben lange Zeit versank,
Ich niemals aufhörte, nach Reinheit mit
Der ganzen Kraft des Herzens zu verlangen.
Jedoch die Männer waren stärker, die
In ihren Bannkreis mich verrucht gezogen.
Ich war ein halbes Kind noch, als ich dem
Verführer ward vom Vater zugeführt,
Ein sittenloser, ganz verrohter Mensch,
Für den nur eines galt: der Selbstgenuss…“

Im Hintergrunde schlich ein schlanker Mann
Verstohlen fort und blieb nur stehen, um
Des Wassers sich, mit dem er vollgesogen,
Erbrechend zu entledigen und dann
Die Hand auf eine Wunde seiner Brust,
Die schwarzer Schmauch umgab, schmerzlich zu pressen:
„Wann endlich,“ rief er aus, „beendet man
Das Erbsenzählen und erwacht zur Tat?
Ich aber bin und bleib verflucht, weil ich,
Behaftet mit der Marschkrankheit, den Tod
Hab‘ Tausenden und Abertausenden
Gebracht hier in Europa und auch dort,
In Rio de Janeiro, im Exil.“
Dann aber schaut er wie gebannt ins Nichts,
Ergreift ihn Rührung, man weiss nicht, wodurch:
„O Erkel!“ ruft er, „was tat ich dir an?
Wie konnte ich mit meiner Küsse Gift
Dein unschuldsvolles Leben so zerstören?
O liebste Schwester, wonnige Gespielin,
Vergib dem Bruder, was er dir getan!“
Und seinen Leib mit dumpfen Hieben klatschend,
Entfernt‘ er sich ins dunkle Bergesinnre.

Nicht weit davon erkenn‘ ich einen Schatten,
Von so unglaublich mächtiger Statur,
Dass alle andern schrumpften neben ihm
Und unbedeutend, zwergengleich erschienen.
Er schüttelt seinen Helmbusch fürchterlich
Und schlug, der scheinbar doch so starke Mann,
Die Brust mit Fäusten sich in tiefer Reue:
„Unschuld’ge Tiere hab‘ ich hingemetzelt
Und ihn, der unsre Geissel war, verschont:
Laertes‘ Sohn, der mit der Zunge hurte
Und es dahin gebracht hat, dass man ihm,
Der mit ’nem Parispfeil Achilleus fällte,
Hat zuerkannt des Toten Waffenzier.“

Das Schussloch in der Schläfe, trat mir dann
Ein Mann entgegen: stattlich, braungebrannt,
Den ich noch nie gesehn, das wusste ich,
Und dennoch musste ich wie einen Freund
Voll Trauer die gebrochene Gestalt,
Die Blut bis an die Füsse überströmte,
Mit fragendem, betroffnem Blick umfassen.
„Ich bitte dich,“ hub an sein Bariton,
„Wenn meine Ahnung mich nicht trügt, so bist
Du Astrids Jugendfreund und hältst Verbindung
Zu ihr, die meine Gattin war und die,
Als sie dein Werben ausschlug, sicherlich
Dir herben Schmerz bereitet hat.“ „O ja,“
Sprach ich darauf, „du hast zur Gattin die
Erworben, die mir, die mir ganz allein,
Wenn Liebe Arbeit wär und Ehe Lohn,
Hätt‘ zugestanden, aber ihre Wahl
Fiel dann auf einen, der die Kostbarkeit
Ihres Besitzes nicht zu würd’gen wusste,
Der sich mit ’nem Pistolenschuss davon-
Und in die Hölle stahl, nur weil bei der
Beförderung er übergangen ward.“
„Das war der Grund nicht, nur der äuss’re Anlass,“
Erwiderte der blutbefleckte Mann,
„Und deshalb bitt‘ ich dich, der du sie kennst,
Von mir zu bringen ihr und unsern Kindern
Verzweifelt schreienden, trauernden Gruss.
Der Junge soll sich meinethalb nicht grämen,
Ich habe ihn geliebt, nichts als geliebt,
Der Tochter aber bringe viele Küsse,
Weil sie mein Liebling und mein Abgott war.
Vor Astrid selbst erfüllt mich tiefe Scham,
Dass ich zu schwach war, meine Pflicht zu tun.
Ich habe früh schon aus dem Haus gemusst,
Fort von der Mutter auf ein Internat,
Bin Offizier dann und Chirurg geworden
Und hab in Astrid eine Frau gewonnen,
Wie’s keine bessere auf Erden gibt.
Doch alles, was ich suchte, war die Liebe,
Die mir die Mutter kühl verweigerte
Und ganz entzog, als man mich überging.
Da brachen auf die Schleusen eines Schmerzes,
Der Stärkere als mich hätt‘ weggeschwemmt.
Verworfen von der eignen Mutter, mochte
Ich länger nicht mehr weiterleben und
Hab‘ mir die Waffe an den Kopf gesetzt.“
Sprachs und entzog sich weiterem Gespräch
Indem er, blut’ge Spuren hinterlassend,
In feuchte, dunkle Kälte schwand zurück.

                                                 …ihn, der am Reck
Dem fliegenden, dem Engel gleich einst turnte,
Als Musterbeispiel gegen Jens gesetzt:
Noch immer füllt er sich mit Pillen ab…

Mit dem Skalpell in Händen, das vom Blut
Vom eigenen, aus schwarzer Gall‘ vergoss’nen,
Noch immer troff, sah ich ein Mannsbild, wie
Ich schöner und gestählter lange keins
An diesem Ort der Trauer und Verdammnis
Gefunden hab auf langer Wanderung.
Für seine Töchter flottes Märschchen pfeifend,
Damit sie ihn für glücklich halten sollten,
Durchschnitt er, an die Waschmaschin‘ gelehnt,
Die Bänder, die die Lungenflügel hielten,
So dass sie, Säcken gleich, die ausgeleert,
In sich zusammenfielen unrettbar…

Marina Zwetajewa: Die beiden Völker, die sie am meisten von allen liebt, sind zur gleichen Zeit vom selben Wahnsinn erfasst worden: Stalinismus und Hitlerismus, zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach Schönheit und Frieden…

In trotz’gem Stolz, den Staub der Pyrenäen
Noch auf den sorgsam blankpolierten Schuhn,

Walter Benjamin will den Zusammenbruch des Kommunismus nicht wahrhaben (wie kann eine Idee zusammenbrechen?) und fängt Streit darum mit xy an; beide, zarte, schwache Menschen, wälzen sich im Staub, da tritt

Aus dem Hintergrund mit leichtem Schritt
Hervor ein braungelocktes, hübsches Weib,
Das lachend sie bei ihren Händen fasste
Und, eh‘ wir uns versehn, sie hat versöhnt.
Darauf stiess sie ein Lachen aus so hell,
So glucksend aus des Leibes Tiefe, dass
Wohl eines jeden Zwerchfell, der’s gehört,
Begann zu zucken, ohne dass man wusste,
Was eigentlich der Grund des Lachens war.

Ich erkenne in ihr Rachel, die Grossmutter meiner Kinder, bringe ihr die Nachricht, dass sie sieben Enkel habe und ihr Andenken von uns in Ehren gehalten wird. Sie drückt ihr tiefes Bedauern aus, ihre Enkel nie kennengelernt zu haben, und bittet ihre Kinder um Verzeihung für die damals unbegreifliche Tat, als deren eigentlichen Grund sie den Verlust ihres Bruders im Krieg angibt, des einzigen Menschen, den sie jemals geliebt habe.

Zweite Passage

Sie kommen an einer steinernen Eiche vorbei, unter der Armin (Hermann) der Cherusker sitzt. Helche bringt ihn zum Sprechen.

„Vom Deutschen hab ich nie zu viel gehalten,
Denn was ist Deutschland schon, verglichen mit
Der Kraft der Stämme, die zum deutschen Reich
Sich später schlossen freiwillig zusammen?
Der Schwabe ist ein strebsam guter Mann,
Der seine Pflicht stets allerorten tut,
Der jeden Überfluss verabscheut und,
Als Suebe mit dem Knoten auf der Stirn,
Dem röm’schen Reich viel Schrecken eingejagt.
Der Bayer kam aus rätselhafter Ferne,
Ist seines Ursprungs völlig ungewiss,
Vielleicht entstammt er Persiens Wüstenei’n,
Brachte von dort die Sturheit mit, die Kraft,
Die Freude am Gehorchen und am Saft,
Aus süssem Malz des Gerstenkorns gegoren.
Die Sachsen aber sind vor allen durch
Die Fruchtbarkeit der Weiber ausgezeichnet;
Sie sind der Quell der Cimbern und Teutonen
Die Rom beinah schon vor der Kaiserzeit
Mit ihrer Menschheit ungeheuern Zahl
Zu Boden trampelten; aus ihrem Schoss
Stammen Britanniens seeerprobte Männer,
Und auch nach Osten nahmen sie sich Land,
Den stillen Slawen mordend und verdrängend.
Das sind mir Stämme! Doch der Deutsche ist
Nichts weiter als ein bunt Konglomerat,
Gewürzt mit Dänen, Sorben, Juden und den Kranken,
Die Rom, ersterbend, liess am Rhein zurück.
Ich schweige von den Hessen und den Pfälzern,
Den Falen, die in Ost und West zerfallen,
Und von der Kelten stiller Samenbahn,
Die in so manche bayrische und schwäb’sche
Mischt ungestüme Druidenkraft hinein.
„Wir kennen dich vor allem,“ sprachst du dann
Mit deiner Stimme kehligem Organ,
„Als den, der Varus schlug im Jahre neun
An einem Regentag im Teut’ger Wald.“
Darauf hat er sich schmollend abgewandt
Und erst nach einer Zeit des Schweigens fand
Er sich bereit, dir zu erwidern dies:
„Ich habe damals meine Pflicht getan,
Jedoch gewollt hab diesen Sieg ich nie
Und war enttäuscht, wie schnell sich Rom ergab
Und damit abfand, wir sei’n unbesieglich.
Es hätte Deutschlands Stämmen gutgetan,
Wenn röm’scher Sitte Form und Disziplin
Sie wär’n beizeiten unterworfen worden.
So aber ward der Deutsche formlos, tief,
Wohl manchmal packend, doch auch unbeherrscht,
In manchem Guten doch auch vielem Bösen
Die Nachbarvölker furchtbar übertreffend.
Latein’scher Witz, mediterrane Form,
Sie hätten jenen Schrecken früh gebannt;
Ein so zivilisiertes Volk, es hätte
Sich über jenen Weltkrieg-eins-Gefreiten,
Wenn er hysterisch zuckend geiferte,
Kaputtgelacht, statt ihn auch noch zu wählen.
Durch wieviel Irrtum und Verwirrung muss
Dies Sammelsurium, das deutsches Volk
Mit allzu viel Begeisterung sich nannte,
Hindurch zu jener Weisheit finden, die
Es ihm erlaubt, in Frieden und in Freundschaft
Zu leben mit den andern in der Welt!
Ich habe nie Germanien retten wollen,
Ich hab allein mich meiner Haut gewehrt,
Und für die römische Zivil’sation
Heg‘ ich bis heute allerhöchste Achtung.
Ich bitt‘ euch deshalb: Jenes Denkmal schleift,
Das dumpfer Chauvinismus mir gesetzt,
Wo sanfte Weser durch die Berge bricht
Den schmalen und bescheid’nen Weg gen Nord.
Man soll mich mehr bedauern als verehren!“
Mit diesen Worten zog er sich zurück
In seines Innern ungeheures Grollen,
Weil ein Erfolg ihm ward, der ungewollt.

Um die Eiche herumgehend, treffen sie auf ein in die schwarzrotgoldene Trikolore gehülltes Weib, das sich als Germania erweist. Ihr strotzend-fülliger Leib plastiziert das Fahnentuch, das an den Brüsten gerissen ist, so dass sie hervorlugen. Hier wachsen statt Eichenblättern Geldscheine am Baum.

Dritte Kluft

Hier finden sich die grausamen Vollstrecker und Vergewaltiger. Sie dursten und werden gepfählt. Fliegenplage. Eichmann. Höss. Mengele, Heyde-Sawade und andere Nazi-Ärzte.

Der Leib, in dessen Wunden grässlich sich
Urin mit Kot und Blut zu Brei vermischte,
Er war gepanzert mit ’ner blauen Brünne,
Die sich bei näherm Zusehen entpuppte
Als surrenden Geschmeisses gier’ger Schwarm,
Der sich an eben jenem Schreckensbrei
Nicht nur erlabte, sondern liebestoll
Begattete, um Batterien von Eiern
Hineinzulegen…

Dritte Passage

Kaum zu erkennen war im Höhlendämmer
Die massige Gestalt des Sitzenden,
Dessen Gelock durch den granit’nen Tisch,
Auf den er kampferprobte Arme stützte,
Im fahlen Licht, das durch die Klüfte nieder
Mehr sickerte als fiel, zu wachsen schien.
„Dass ich noch, als das Wasser mir des Saleph
Schon in die Lungen drang, in ihrem Bild
Empfand so süssen Trost, wie ihn kein Heiland
Und auch kein Gott dem Herzen schenken kann!
Bist du es selbst, du Holde, deren ich
An diesem Tisch seit Ewigkeiten harre?
O zeig dich einmal noch dem müden Sinn,
Wie du dem frischen oft dich hast gezeigt!
In Kämpfen hab ich, unablässigen,
Nur nach Befestigung des Reichs getrachtet;
Italiens Hochmut musst‘ ich dämpfen, doch
Nach allem, was ich hör, erhebt’s schon wieder –
Ach nein, das war ja gestern – o verzeih!
Ich hab den Kopf nicht völlig beieinander…
Sag du mir, Holde, wie’s um Deutschland steht!“
Er hob das Antlitz, das von Haaren völlig
War überwuchert, wie von Efeu oft
Ein alter Eichbaum überwuchert ist,
Zu ihr empor, die lächelnd auf ihn blickte,
Dann niederkniete zu des reisigen,
Ertrunknen Kaisers Füssen, dessen Bart,
Der eh’mals blonde, den man rot auch nannte,
In grauen Strömen, ein vereister Fluss,
Bis über seine Knie niederwallte.
Auf seinen Schultern sass ein Dohlenpaar,
Das, mit den Köpfen ruckend, misstrauisch
Uns musterte als Störer einer Stille,
Die in der Kluft seit so viel hundert Jahren,
Wie’s Wochentage gibt, betäubend herrschte.
Dann wieder hieb es hungrig scharfe Schnäbel
In dieses Greises Schulter, seinen Hals
Und labte sich an Fetzen dürren Fleischs.
„Ich will von Deutschland dir nichts sagen, Herr,
Begannst du mit gewohnter, süsser Stimme,
„Weil ich nicht weiss, wozu das gut sein soll.
Durch viele Irrungen mag unser Volk
Vielleicht nun endlich Ruh‘ gefunden haben,
Indem es in ein wachsendes Europa
Bescheiden sich hineinfügt und der Hybris,
Die ja auch du mit deiner Herrschaft Glanz
Genährt hast, wenn ich recht berichtet bin,
Dem Übermut entsagt, der es mit Schande
Und fürchterlichem Greuel hat bedeckt.
Doch richte du, mein Kaiser, an die Jungen,
Für die dein Name gleichbedeutend ist
Mit angemasster deutscher Grösse…“ Hier
Schriest du ganz plötzlich auf und wichst zurück,
Ergriffst mich bei der Hand und zogst mich fort
Und sankest dann auf graugeäderten
Und nassen Steinklotz hin, verbargest die
Warmdunkeln Sterne deiner Augen mit
Verzweifelt fest davor gepressten Fäusten.
„Was ist es“, wagte ich dich anzusprechen,
Das dich so sehr erschreckt hat, dass du flohst?“
Frag mich das nicht“, erwidertest du leise,
Ich will versuchen, es so schnell als möglich
Vollständig zu vergessen, lieber Freund,
Und lass in deinen treuen Augen mich
Erholung und Erquickung finden nach dem Schreck!“
Sprachs und enthüllte flugs ein Augenpaar,
Das, frisch gebadet von geweinten Tränen,
In mir entzündete so starkes Liebesfeuer
Dass ich‘s nicht aushielt, ihr zu Füssen stürzte
Und ihre Hand mit Küssen übersäte.

Vierte Kluft

IHier sind die, die der Macht des Geldes gedient haben, die Hitler in den Sattel hoben, Ostarbeiter zu Massen verbrauchten und hinrichteten, KZs bauten. Sie alle haben ihre Namen vergessen und leiden darunter, dass sie nicht einmal als Bösewichte in die Geschichte eingehen, sondern ganz einfach Niemande sind und bleiben. Unter ihnen auch ein steinreicher Sammler. Sie leiden unter Erstickungsangst, schnappen nach Luft, wollen die Fenster öffnen, können es nicht.

Ein namenloses Ächzen scholl mir aus
Der nächsten Kluft entgegen, wo sich Männer,
Von denen einer aussah wie der andre,
Einander rücksichtslos zu Boden tretend,
Entgegen uns in der Begierde drängten,
Sich mitzuteilen, über sich zu reden,
So dass sie bald einander überschrien
Mit heiserem Gekrächz wie dem der Krähen.
Doch Helche brauchte nur die Hand zu heben,
Auf der im Netzwerk feiner Runzeln das
Geheimnis ihres Lebens ist verschlüsselt,
Da wichen jaulend sie zurück, verstummten.
Auf einen wies sie, der von all den andern
Durch nichts besonderes sich unterschied.
„Wer bist du?“ fragt sie ihn, „und warum gleicht
Ihr elendes Gewürm einand wie Eier?“
„Ich habe profitiert,“ erwiderte
Der jammervolle Greis, „das sagt schon alles;
Zuerst davon, dass ich die Wehrmacht mit
Wirkwaren aus dem väterlichen Werk,
Besonders Strümpfen, massenhaft beliefert.
Bei ihrer herstellung haben mir Frauen
Aus Polen, der Ukraine, aus Wolhynien
Mit einem Fleiss, der unerschöpflich war,
Geholfen, bis der Krieg uns überrollte.
Von diesen etwa hundert Frauen starben
An Hunger rund ein Viertel, rund ein Viertel
An Krankheit und Entkräftung, und den Rest
Hab ich, bevor ich floh, erschiessen lassen,
Damit sie nicht verrieten, was geschehn.
Ich glaube, dass ich nicht viel schlechter war,
Als andre auch gewesen sind, die mir
An diesem Ort des Schreckens bisher nicht
Begegnet sind. Gern würd‘ ich meinen Namen
Dir sagen, hohe Unbekannte, doch
Wie es der Zufall will, ist er mir grad
In diesem Augenblick entfallen. Magst
Du dich vielleicht, verzeih, erinnern, wie
Die Firma hiess, die sächsische, bekannt
Für ihre feinen Wirk-…“ Das Letzte ging
Im Schreien unter all der anderen,
Die ebenfalls nach ihren Namen fragen wollten,
Sich an uns klammerten, als wir zurück
Zum ganz veralgten Ausgang wichen: „Gib,
Wenn meinen Namen du nicht weisst, mir einen!“
„Gib einen Namen mir, gleich welchen, dass
Ich endlich wieder existiere!“ „Nein,
Ich lass dich nicht, wenn du mich nicht benennst!“
Der faulige Geruch, der aus dem Maul,
Das so mich anschrie, dumpf entgegenschlug,
Bewog mich, seinen Wunsch ihm zu erfüllen:
„So heiss denn Fritz!“ rief ich voll Ekel ihm,
Die Händ‘ von meinen Kleidern reissend, zu.
Er aber wankte hochbeglückt davon,
Den Namen fromm wie eine Hostie kauend.
„Das ist die Qual, zu der man uns verdammt,
Nahm unser Strümpfefabrikant aus Sachsen
Erneut das Wort und hob den Zeigefinger,
„Dass unsre Namen ausgelöscht für immer,
Wir dadurch ewiglich vernichtet sind.
Das scheint mir ungerecht, wenn ich bedenke,
Wie weltberühmt die Namen derer sind,
Die all das Unheil über uns gebracht.
Wir aber hier in diesem Saal, wir sind
Zur Namenlosigkeit auf immerdar
Von einer Macht verdammt, die sich nicht zeigt
Und die wohl selber keinen Namen trägt,
Weshalb wir uns, wenn uns der Hafer sticht,
Mit Göttern zu vergleichen uns nicht scheun.

Fünfte Kluft

Hier stolzieren die Goldfasanen und gläubigen Nazis/Kommunisten: Koch, Heydrich, Himmler, Ulbricht, Berija, ein Platz reserviert für Mielke, mein Freund André Müller. Sie werden von Ärzten gemartert, mit Luft abgespritzt, mit Beton ausgegossen, in Kältebecken geworfen, lebendig operiert, transplantiert, zusammengenäht, ausspioniert, beschattet; zur Erholung werden sie auf die Bergspitze geschickt, von wo sie tief deprimiert zurückkehren.

Aus Riesentrümmern war gefügt der Saal,
In dem die Betten standen dicht bei dicht,
Und keines war darunter unbelegt,
Ja, vielfach zerrten zwei, gar drei Patienten
An einem Leintuch, das verkrustet war
Von all dem Ekelhaften, das aus kranken
Noch mehr als aus gesunden Körpern quillt.
Wir bahnten einen Weg uns durch die Hände,
Die wie Tentakeln einer unterseeischen Welt
Nach unsern Kleidern haschten, während Stimmen,
Aus denen jede Selbstachtung getilgt,
Erlösung und Behandlung von uns heischten.
Der eine jammerte nach einer Spritze,
Ihm den Verband zu wechseln, bat ein andrer,
Ein dritter hielt es einfach nicht mehr aus
In Enge und Miasma dieser Kluft,
Ein vierter litt unstillbar unter Durst
Und drohte, seinen Nachbarn auszusaugen,
Der selber mit der Zunge vom Beton
Die Tropfen leckte, die herniederrannen.
Du kühltest manche fieberheisse Stirn,
Indem du mütterlich die Hand auflegtest,
Doch nirgends mochtest länger du verweilen.
Du schrittest leichtfüssig von Bett zu Bett,
Und deine Augen, sanft und seelenvoll,
Schweiften umher an diesem Schreckensort,
So dass ich mich zu fragen nicht getraute.
„Ich bitte dich, gib mir von deinem Speichel!“
So flehte einer mich fast tonlos an
Mit Lippen, die sich voneinander kaum,
Weil sie so klebrig waren, lösen mochten.
Und ob mich auch der Ekel schüttelte,
Ich beugte nieder mich zu seinem Mund,
Ihm mit der Zung‘ die Lippen anzufeuchten.
Da packte er mich an mit Würgerhänden,
Riss mich herab in die Matratzengruft
Und schickte sich, in meinen Hals zu beissen,
Mit aufgerissnem Vampirmaule an.
„Sein Blut ist warm, er hat genug davon,
Dass etliche von uns daran gesunden!“
So hörte ich sie murmeln ringsumher
Und merkte, dass es viele waren, die,
An mir zu trinken, auf mich niederfielen.
Ich war verloren, als der Schreckensruf
Visite! wanderte von Mund zu Mund
Und meine Peiniger mich laufen liessen.
Wie sich der Schwäne strahlend weisse Schar
Mischt ins Getümmel schwarzer Wasserhühner,
So zogen jetzt in hochgeknöpften Kitteln
Mit rosigen Gesichtern, blanken Augen
Drei wohl genährte Herrn von Bett zu Bett.
Doch niemand bat um Hilfe; alle bargen
Sich im Gelump von Laken und von Decken
Und schrien laut, es gehe ihnen gut,
Es fehle ihnen nichts, sie sei’n genesen,
Wenn einer dieser Schwäne Anstalt machte,
Mit einer Spritze, einem Medikament
Oder dem Trunk aus einer Flasche ihnen
Zu geben, was sie eben heiss begehrt.
Doch half es ihnen nichts: den Schreienden
Wurde gewaltsam eingeflösst, wovor
Sie offenbar nur panische Angst erfüllte,
Und das mit Grund, denn offenbar bewirkte
Das Zugeführte keine Linderung,
Sondern das Gegenteil: Vor Schmerzen heulten
Die so Behandelten wie Wölfe auf,
In deren Fleisch das Tellereisen die
Gezackten Zähne seiner Bügel schlug,
Verfärbten sich, sanken bewusstlos nieder
Und röchelten wie Sterbende, jedoch
Des Todes Wohltat war ihnen vorenthalten
An diesem Orte, der kein Sterben kennt.
Sie kamen wieder zu sich, nur um neues
Und immer neues Leiden zu erfahren.
Am liebsten hätte ich den Lichtgestalten,
Die Heilkunst in ihr Gegenteil verkehrten,
Die feisten Hälse umgedreht, jedoch
Du führtest mich beiseite und hast mir
Mit einem Lächeln, das an diesem Ort
Mir erstmals nicht recht angebracht erschien,
Verboten in den Ablauf einzugreifen,
Den die Gerechtigkeit verordnet hatte;
Denn alle, die hier litten, waren solche,
Die im Gewande ärztlicher Berufung
Getötet und gequält. „Der Vampir, der
Dich anfiel, um dich auszusaugen, war
Von allen wohl der schlimmste, Mengele.
Ihm widerfährt nur, was er selber tat.“
O holde, höllische Gerechtigkeit,
Du lächelst so, wie Helche ’s hat getan,
Als sie mir das gesagt und bei der Hand
Den Widerstrebenden genommen hat,
Der rückwärts mit ganz andern Augen die
Verworfenen in grauenhafter Qual
Sich wälzen sah in den Matratzengrüften.

Ein sprechender Betonklotz schien er mir,
Bis ich die Öffnung sah, an deren Ende
Ein Mund und Augen zu erkennen waren,
Aus denen eine Angst mich angeflackert,
Wie ich sie nackter, grässlicher nie sah.
„Das ist ein Arzt,“ hast du mich aufgeklärt,
„Der in den Uterus von Frauen, um
Auf diese Art sie zu sterilisieren,
Beton gespritzt, weshalb er jetzo selbst
In ein Gefängnis aus Beton gepfercht…“

Vierte Passage

Frage an Helche, ob Gott weiblichen oder männlichen Geschlechts sei, ob es von irgendeiner Bedeutung sei, dass Christus ein weisser Mann sei; Helche gibt ihm zum Teil verhüllende ausweichende Auskunft, und er beobachtet sich, wie er, statt auf ihre Worte zu achten, sich in ihren Anblick verliert. Sie fragt ihn, ob es ihm denn nicht aufgefallen sei, dass sie bisher nur Männer gesehen hätten. Das bejaht er, und sie kündigt ihm die Frauenhölle an.

Sechste Kluft

Hier  werden Frauen, die sich dem Diktat der Männer unterwarfen und Krieg und Verbrechen durch Passivität, Wegsehen und Begeisterung für das Böse stützten und stärkten, bestraft, indem sie zu melkenden Säugerinnen erniedrigt werden, aus deren Brüsten Kampfmilch, latte die lotta, abgepumpt wird, mit der Gewalt und Unrecht in der Welt unterstützt werden.

Fünfte Passage

In einer Seiten kluft begegnet der Erzähler dem gekränkten Christus, der angesichts des Bösen, das seine Lehre ausgelöst hat, freiwillig in der Hölle Quartier bezogen hat.

„Verzeihen möge, was ich ihr getan,
Als ich in bester Absicht meine Lehre,
In Galiläa predigend, vertrat,
Die arme Menschheit, schon genug geplagt.
Nie habe ich, was dann in meinem Namen
So vielen Völkern widerfuhr, gewollt,
Und nie hab ich gewollt, dass meine Lehre
Mit Staatsgewalt verderblich sich vermählte.
Der Güte wollt‘ ich eine Bresche schlagen
Und trug nur Spaltung, Hass und Bosheit in
Die Menschheit, deren Unnatur seit eh
Auf Güte nicht, sondern auf Angst beruht.
Ach, hätte ich geschwiegen und das Wort,
Das meinem Munde regengleich entfiel
Zurückgestopft – wieviele Völker wären
Am Leben noch, wenn ich geschwiegen hätte
(ich denke nur der freundlichen Indianer,
Die euch wie Götter einst willkommen hiessen
Und dann in meinem und der Mutter Namen
Von eurer Gier wurden zusammenkartätscht –
Nicht eine dieser Seelen ist verloren,
Pizarro aberm Cortez und die ihren
Schmachten allhier in einem Sumpf von Blut).
Die, die mich kreuzigten, waren im Recht;
Denn Spaltung trug ich auch ins jüd’sche Volk;
Verantwortungslos hab‘ ich es geschwächt,
Zu einer Zeit, wo es der Herrschaft Roms
Nur mit Geschlossenheit begegnen konnte.
Ihr König war ich nie, und Gottes Sohn
War ich nicht mehr als Gottes Tochter du,
Erhabene Besuch’rin, Helche, bist.
Wer zu mir betet, weiss nicht was er tut,
Und sollte lieber zu dem Baume beten,
Aus dem die Angst vermehrte Zapfen treibt.
Es tut mir unrecht, wer mich überschätzt,
Und das Geheimnis meines Kreuzestods
Ist gar kein solches, ich bin ganz banal
Und, wie es tausendfach geschehen ist,
Als Ketzer und zurecht gerichtet worden.
Am tiefsten aber kränkt es mich, dass ihr
Die Angehörigen meines Volkes als
Die Mörder Gottes immer habt gehasst.
Nie war ich Gott und hab‘ es nie behauptet.
Was wär das für ein Gott, den man könnt‘ morden
Und der mit ird’schen Weibern Kinder zeugt?
Dass ihr sie aber dann zu Tausenden
Und Abertausenden vernichtet habt,
Und immer noch in jenen Mauerwerken,
Die euer Hochmut Gotteshäuser heisst,
Auf ehernen Tafeln nur die Mörder nennt
Und die, die dafür kämpften, dass sie ihr
Entsetzliches Gewerbe üben konnten –
O, dieser Schande schäm‘ ich mich so sehr
Und weiss von euch mich nicht nur missverstanden,
Nein, hingemordet tausendfach in jenen!“
Sprach’s, wandte brüsk sich ab, entwandelte,
Der schlanke Mann, aus dessen Händen, Füssen
Noch immer troff des Blutes nasse Spur,
Über den Höhlensee, in dessen Tiefe sich
Balgte der Grottenolme bleiche Schar
Um Herz und Nieren von Verwesenden.
Am andern Ufer angekommen, warf er mir
Über die Schulter einen Blick noch zu,
Der fragend mehr als zürnend mir erschien,
So dass ich hoffnungsvoll vondannen schritt
Und deiner Fährte, Tochter Gottes, folgte.
Von ferne hörte ich den Widerhall
Von einer Frage, die er wandelnd schrie
Und deren Wortlaut mir nicht klar erschien.
Soll ich, was ich im Echo der Kavernen
Zu hören glaubte, wiedergeben hier,
So wäre es ein Blankvers zwiegereimt:
Vor meinem Tod hätt‘ sich die Sonn‘ gegraust,
Die ungerührt schien auf den Holocaust?

Siebte Kluft

Hier sind die käuflichen Intellektuellen und Künstler: Breker, Speer, Ehrenburg, Göbbels, Gründgens – die wider besseres Wissen am Grossverbrechen sich beteiligten. Reservierte Plätze für die serbischen Schriftsteller, die den Völkermord an den Bosniern rechtfertigen. Hier finden wir einen Vercors-Täter, der, auf einem Bein stehend (das andere hochgebunden), den Kopf in der Schlinge, ständig balancieren muss, in ewiger Todesangst. Der Erzähler tröstet ihn mit dem Hinweis, dass er bereits tot sei, aber der Balancierende kann das nicht glauben. Hier droht allen die Versteinerung, einzelne Glieder sind schon zu Stein geworden.
In hohen Schulen gibt es auf den Böden,
Auch in den Kellern die Versammlungen
Bleicher Gestalten, einst aus Gips geschaffen,
Repliken von Skulpturen alter Meister:
Der Dornauszieher beugt über den Fuss
Den längst von Staub ergrauten Knabenleib,
Der Diskuswerfer biegt zur Erde sich,
Den leeren Blick schon in die Ferne richtend…
An solchen Ort vermeinte ich zu kommen,
Als Helche ich in diese Grotte folgte,
Wo Mengen solcher Gipsfiguren standen –
Vielleicht jedoch war’n sie auch aus Beton.
Von Eisen sienarot gefärbte Rinnsale
Des Regenwassers, aus der Decke sickernd,
Hatten mit blut’gen Bahnen sie bestrichen.
Doch Stille herrschte nicht in diesem Raum,
Vielmehr vernahm ich leises Weheklagen,
Ein Seufzen wie aus Frau’n- und Männerkehlen
Und unterschied darunter auch die Worte:
„Ach, wär ich dem Gewissen doch gefolgt!
Ach, hätte ich’s mit Unfug nicht betäubt!
Ach hätt‘ ich mich geweigert zu gehorchen!
O furchtbare Versteinerung des Leibs,
Die von den Füssen langsam eisig kriecht,
Den Körper grässlich lähmend Richtung Hirn.

Achte Kluft

Hier befindet sich eine Art von Waschkaue, in der unter Duschen riesige Kakerlaken herumwimmeln und aufeinander steigen, einander beschmutzen vor Angst, weil giftiges Gas in diesem Raum hochsteigt und sie töten soll. Nach jedem Tod freilich erwachen sie zu immer neuem Leben. Es sind all die, die unmittelbar am Völkermord beteiligt waren.

Ein Heer von Kakerlaken meterlang,
Nervös mit den Antennen ihrer Fühler
Einander fächelnd und betastend…
Es sind all die, die dran beteiligt waren
Mit Zyklon B, einem Insektengift,
Unschuldige Menschen grausam zu vergasen,
Die einem Volke angehörten, das,
Jahrtausendalt, in der Zerstreuung lebte.

Haben sie nicht ihr Unglück durch ihre Anmassung, ihre Rechthaberei, ihre Erbarmungslosigkeit im Eintreiben überhöhter Zinsen selbst verschuldet? Helche bestreitet das ausdrücklich, gibt aber eine Hilfsantwort für den Fall, dass Edu recht hätte: Dann hätten sie Prozesse wegen Wuchers verdient gehabt nach Gesetz und Recht.

Bergspitze

Die Spitze des Hechelbergs, wo Hitler und Stalin, ineinander verkrallt, einander gegenseitig die Eingeweide herausreissen, auf die riesige Geier sich herablassen und daran zerren. Die Eingeweide wachsen wie bei Prometheus die Leber immer wieder nach. Ringsum erholen sich ihre Anhänger von den Qualen der Martern in Käfigen und müssen den ekelhaften Kampf ihrer Idole mitansehen. Der Erzähler wird ohnmächtig und glaubt in den schwindelnden Abgrund hinabzustürzen.

Und ineinander, dort, verbissen lagen,
Der eine wütend in das Fleisch des andern
Verkrallt und seine Zähn‘ zu schlagen suchend,
Während der Geier ausdruckslose Schar,
Die kahlen Hälse ruckweis drehend, harrte,
Wann sich Gelegenheit ergab den Schnabel
Der scharf wie eine Eisenzange war,
Als Werkzeug eines Raubes zu benutzen
Für ein Stück Darm, für eine Windung Hirn,
’nen Fetzen Haut oder ein Fingerglied.
So wären beide lange aufgezehrt,
Hätte Gerechtigkeit nicht angeordnet,
Dass sich die blut’gen Körper über Nacht
Regenerierten wie Prometheus‘ Leber.
Ringsum war’n hinter Gitter eingesperrt
Die Paladine und die Goldfasanen,
Die fassungslos mitansehen mussten, wie
Die beiden Heiligen, an die sie glaubten,
Einander würdelos mit grausem Zahn
Auf immerdar zerfetzten und zerfleischten.
Zu dir, du meine Tröstrin, wandte ich
Zuerst den Blick und sah dich treten hin
Nah an den Abgrund, der uns rings umfing,
Das weite Halbrund des Amphitheaters,
Darin in reuevollen Spielen die
Kimmerer aufarbeiten ihre Schuld.
Wir waren auf des Hechelberges Spitze.

Epilog

Als ich die Augen aufschlug, lag ich dort,
Wo vormals Helches Holdheit mir erschien,
Jedoch allein und kalt und durchgefroren,
Das Grauen noch in allen meinen Gliedern.
War Traum und Trugbild alles das gewesen,
Was ich an ihrer Hand zu sehn vermeinte?
Den Namen Helche unablässig rufend,
Durchstreifte ich das dornige Gestrüpp,
Von dessen messerscharfen Krallen mir
Der Mantel, leopardenhaft gefleckt,
In Fetzen bald vom Körper fiel.

Er gelangt an den Wasserfall von Gnade und Verzeihung, und dort erblickt er Helche, wie sie ihr Gewand zu Boden sinken lässt, mit anmutiger Bewegung in das marmorne Becken steigt und sich, schön und unschuldig, vom eiskalten Wasser überströmen lässt. Er will sie berühren, aber sie entschwindet, und eine Stimme ruft:

Lass dich beirren nicht von Ungebilden –
Sie wartet dein in anderen Gefilden!

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