Ich über mich

Das Bild zeigt Quoth the Raven (Dietrich Feldhausen)

Geboren 1941 im Norden Deutschlands, bin ich ein Kriegskind, habe vom Krieg aber so sehr viel nicht mitbekommen, denn pünktlich zu meinem vierten Geburtstag war er zu Ende, die Briten, die wir Tommys nannten, rollten mit ihren Panzern in meine Heimatstadt ein und eine Dudelsackkapelle untermalte effektvoll ihre Ankunft. Ich zeichnete und schrieb von Beginn an gern, war aber Linkshänder, musste mit rechts schreiben lernen – und entdeckte erst durch den Zufall eines Unterarmbruchs, dass ich fließend Spiegelschrift schreiben konnte. Gern würde ich die im Laufe meines nun schon viel zu langen Lebens angefallenen Texte in Spiegelschrift wiedergeben – aber dann läse sie mit Sicherheit niemand, und da ich Spiegelschrift selber nur schreiben und nicht lesen kann, opfere ich diesen Plan der leider immer noch weithin bestehenden Rechtshänderdiktatur. Als ich für die Schülerzeitung etwas Aufmüpfiges schreiben wollte und ein Pseudonym suchte, erinnerte ich mich an „Quoth the Raven“ in Poes Ballade, hielt Quoth für den Namen des Raben und legte ihn mir zu.

Danke, KI!

Für meine Mutter, 1907 geboren in Lübeck, aufgewachsen in Hamburg, war es ein schwerer Schlag, als sie 1939 von Hamburg in meine Heimatstadt umziehen musste, weil mein Vater, 1908 in Essen geboren, dort eine Planstelle als Amtsrichter zugewiesen bekommen hatte. Die verwitwete Schwägerin seines Vorgängers besaß und bewohnte ein schönes Haus in der Klosterstraße. So konnte meine Mutter mit meinem gerade geborenen älteren Bruder Hagen in die erste Etage einziehen, während der frisch gebackene Amtsrichter sich zuerst am Polen-, dann am Frankreich-, dann am Russlandfeldzug als Spieß einer Treibstoffkolonne beteiligte – er war zum Glück durch die Offiziersprüfung gefallen. Im Mai 1941 wurde ich im Kreiskrankenhaus geboren und von polnischen Hilfsschwestern umsorgt. Meine Mutter lebte sich nur widerwillig in der sehr provinziellen Kleinstadt ein, obgleich sie in Marta eine treue Haushaltshilfe und in der Frau unseres Hausarztes eine gute Freundin gefunden hatte.

Die dramatischen Kriegsereignisse führten bei meiner Mutter freilich zu einem völligen Umdenken. 1943 („Operation Gomorrha“) stand ihre Schwiegermutter mit Koffer vor der Tür: Ihr Haus in der Hoheluftchaussee bestand nur noch aus Trümmern. 1944 standen Mutter und Schwester mit verbrannten Gesichtern und Kleidern vor der Tür – ebenfalls ausgebombt. Der Stadtteil Hamm, wo meine Eltern vorm Krieg gewohnt hatten, war völlig zerstört. Plötzlich war die verachtete Kleinstadt, das „Kaff“, zur rettenden Insel geworden, ja, sie hatte unserer jungen Familie womöglich das Leben gerettet. Wenn nachts der Himmel im Süden rot war, wussten wir: Hamburg brannte; war er im Osten rot, brannte Lübeck, war er im Norden rot, hatte Neumünster oder Kiel was abbekommen.

Meinem Vater war auch das Leben gerettet worden: In der Panzerschlacht von Kursk wurde er verwundet, verlor einen Fuß, kam aber als fast einziger seiner Einheit nach Hause und konnte, wenn auch schwer kriegsbeschädigt, sein Amt als Richter antreten. Während ringsum die Welt unterging, verurteilte er Hühner- und Fahrraddiebe und aktualisierte das Grundbuch, denn u.a. waren etliche Häuser „arisiert“ worden. Ans Sondergericht in Kiel wurde er zum Glück nicht berufen. Wenn wir bei Luftalarm im Luftschutzkeller Zuflucht suchten, blieb er mit stoischem Fatalismus, sicherlich aber auch aus Bequemlichkeit, weil ihm das Treppensteigen mit Krücken zu beschwerlich war, im Bett liegen. Flüchtlingstrecks rollten in endloser Folge in die Stadt, viele der Karren von Rindern gezogen, hoch mit Bettzeug und Hausrat bepackt. Wir standen mit Marta am Straßenrand und gaben aus einer Milchkanne Erbsensuppe aus.

Dann kam das Kriegsende: Meine Mutter kniete zwischen meinem Bruder und mir am Ostfenster, von wo wir unmittelbar auf die Casinostraße schauen konnten, auf der die britischen Panzer dröhnend hereinrumpelten, dass die Gläser in der Anrichte klirrten. „Jetzt ist alles zu Ende!“, sagte unsere Mutter weinend. „Aber du hast doch uns!“, sagte mein Bruder und legte ihr den Arm um den Hals. Das war für sie die Wende. Wenig später kam ein Engländer an die Tür und verlangte die Herausgabe von Fotoapparat, Radio und Schusswaffe. Wir bekamen den Befehl, das Haus binnen eines Tages zu verlassen., weil die Engländer unsere Wohnung als Kantine nutzen wollten. Aber wohin sollten wir gehen? Ein Kollege meines Vaters schlug vor, wir sollten ins Amtsgericht ziehen. Er selbst karrte uns unser Bettzeug nach. Jetzt waren wir Vertriebene! Im Amtsgericht an der Hamburger Straße haben wir ein Jahr verbracht – wohl das bunteste und aufregendste Jahr meines Lebens! Ich habe es im Text „Das Jahr der Jahre“ verarbeitet. Im August 1945 wurde mein Vater als Richter entlassen, aber nach etwa ein bis zwei Wochen von den pragmatischen Engländern wieder eingestellt. Die Entnazifizierung erfolgte erst 1949, mein Vater wurde als Mitläufer eingestuft, wehrte sich mit Rechtsmittel und erreichte die Einstufung als unbelastet, so dass er das Richteramt bis zu seinem Tod 1971 ausüben konnte.

Danke, KI!

Im Sommer 1945 blitzte und rumste es dumpf immer wieder in der Ferne: Die Engländer hatten das Marine-Arsenal in der Nähe entdeckt und begannen mit der Sprengung. Hätten sie es vor Kriegsende entdeckt, wir wären sicherlich von Bombenangriffen nicht verschont geblieben. Hagen erinnert sich, dass bereits bei der ersten Versammlung, zu der das aus Lübeck kommende 6th Bataillon The Royal Scot Fusiliers auf den Markt rief, eine schottische Dudelsack-Kapelle aufspielte. Wir lieben diese Musik bis heute. Während der Siegesparade bestaunte ich ungläubig die trommelnden und dudelnden bärtigen Kriegerinnen in ihren Schottenröcken.

Das Kreiswehrersatzamt in Neumünster war ausgebombt worden und hatte in das von uns bewohnte Amtsgericht umziehen müssen. Den harten Winter 1945/46 überstanden wir nur, weil im Keller Massen von Akten und Wehrpässen lagen. Die verfeuerten wir in unserem Kanonenofen. Unser tägliches Essen war Hafergrütze mit Spelzen („Strohgrütze“), dazu Heißgetränk rot (Himbeer-) oder Heißgetränk grün (Waldmeistergeschmack). Aber gelegentlich kam unser „Engel“, ein Mann mit einem Korb voll Kartoffeln, Speck und Eiern. Mein Vater durfte als Richter nichts annehmen, aber irgendwie kam es doch auf den Tisch. Warum wir diesen „Engel“ hatten, blieb ein Geheimnis meiner Eltern.

Als wir im Frühsommer 1946 in die Klosterstraße zurückzogen, bekamen wir die östliche Hälfte des Parterres, in der westlichen wohnte eine ausgebombte Familie aus Hamburg, mit der zusammen wir ein Bad benutzten. Die Vermieterin teilte sich das Obergeschoss mit Vertriebenen. Zu unserer Wohnung gehörte auch die Küche, die völlig grünbraun versintert war. Das lag am Rauch der Gulaschkanone, die die Engländer auf dem Hof zurückgelassen hatten. Wir kletterten darauf herum und in sie hinein. Meine Mutter gab sich große Mühe, die Kaugummireste von unserem Esstisch abzukratzen, und kommentierte das mit den Worten: „Und ich habe die Engländer immer für eine Kulturnation gehalten.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert