Blüthner

Immer wieder fuhr ich in Altona an einem Antiquitätenladen vorbei, in dem neben Vasen und Seestücken auch ein zierlicher Sekretär ausgestellt war, der mich gleich in Bann schlug. Der Händler merkte, dass ich nicht behelligt werden wollte, und ließ mich das Möbelstück umkreisen, ließ mich die Schubladen aufziehen und wieder schließen, und als ich ihn schließlich nach dem Preis fragte, hat er ihn womöglich gleich verdoppelt, denn es konnte ihm nicht entgangen sein: Ich hatte angebissen! Zu Hause stellte ich fest, dass ein gewisser erbenlos verstorbener Herbert Eisenpflicht aus Himmelstein der Vorbesitzer gewesen war und einiges an Akten, Drucksachen und Manuskripten in den Schubladen zurückgelassen hatte. Ich veröffentliche erstmals mehrere Episoden, in denen Herbert Eisenpflicht sich mit seiner Schulzeit auseinandersetzt.
Quoth

Manfred

Wenn ein zartfingriger Junge von 16 und ein blondgelockter von 14 Jahren bei derselben Musiklehrerin Unterricht haben, ist es nicht auszuschließen, dass sie einander schätzen, wenn nicht lieben lernen. Manfred war ein atemberaubend guter Hundertmeterläufer, sprang weit und hoch, dass dir die Luft wegblieb, aber die Invention spielte er mit einer so glockenreinen Präzision, dass Herbert den dicken Band Nietzsche, den Fräulein Janssen ihm in die Hand gedrückt hatte, weil er warten musste, zuklappte und sich hilflos staunendem Lauschen hingab. Beim letzten Sportfest hatte er Manfred bewundert, wie er als Schlussläufer seiner Mannschaft den Staffelstab mit der enormen Kraft seiner Schenkel, der Boden erzitterte unter seinen Schritten, an die Spitze und zum Sieg trug, aber Manfred war ihm als Muskelpaket erschienen, als Repräsentant einer Welt von Tempo und Kraft, nicht von Klugheit und Sensibilität. Und nun das! Noch nie hatte er ein so wunderbar perlendes Klavierspiel gehört, schamvoll gestand er sich ein, dass die F-Altblockflöte, der Töne zu entlocken er bei Karla Janssen gelernt hatte, ein geradezu klägliches Instrument war, Meilen entfernt von der Klangfülle des lackschwarzen Blüthner, auf dem Manfred so sicher und genussvoll spazieren ging, als durchwandle er die Allee am Seeufer mit ihren beschnittenen Linden. Einen Menschen von solcher Daseinsfülle erleben zu dürfen, war ein Geschenk, das Herbert demütig in Empfang nahm. Gehorsam schlug er den Band „Jenseits von Gut und Böse“ wieder auf, aber die Sätze des großen Abräumers waren bloßes Buchstabengekräusel vor seinen Augen, und als Manfred sich verspielte und lachend über seinen Fehler wie ein Mädchen in die Hände klatschte, und von Fräulein Janssen mit den Worten „Noch mal von hier, mein Süßer!“, ermuntert wurde, neu anzusetzen, war es um ihn geschehen: Er schwor sich, einmal „mein Süßer“ von diesem Inbegriff der Männlichkeit genannt zu werden, und als Karla Janssen ihn, den Inbegriff der Männlichkeit, zur Tür geleitete, sagte sie, einer plötzlichen pädagogischen Eingebung gehorchend und auf Herbert blickend: „Das ist Herbert Eisenpflicht, der ist bald so weit, dass du ihn begleiten kannst. Hier, nimm die mal mit, das sind Telemann-Sonaten für Altblockflöte und Klavier, schau sie dir an, im Herbst habe ich wieder Eltern- und Vorspielabend!“ Mein Glück kannte keine Grenzen – denn Herbert Eisenpflicht, ich gestehe es, bin ich.

Walküre

Der Weg war wie immer, wenn es getaut hatte, matschig, Karla kam mit ihrem Moped kaum voran. Die Orgelei in der Dorfkirche war ein gutes Zubrot, obgleich auch nervend, denn das Instrument war alt und ausgeleiert, der Holzwurm tobte darin, einige der Pfeifen musste sie meiden, weil sie nicht mehr stimmten, und eine Reparatur konnte sich das arme Eichhagen nicht leisten. Sie jonglierte über lehmige Fladen, von denen das Vorderrad regelmäßig abrutschte, und dachte an Aarons letzten Brief von der Front, in dem er über den unergründlichen Schlamm klagte, der bei Nacht an den Fahrzeugen festfror, so dass sie ihn morgens mühsam abhacken mussten, um wieder in Gang zu kommen. Merkwürdig, dass sie auf ihren alten Tag noch zur Reiterin geworden war, zwar nicht eines Gauls, sondern einer Quickly, die mit stinkendem Gemisch fuhr, ein Auto konnte sie sich nicht leisten und hätte es auch als spießig empfunden. In ihrem regendichten Klepper über die Landstraßen zu brettern – das war doch etwas anderes als geborgen und verwöhnt auf weichem Autosessel zu sitzen! Sie kam durch Kleinfischbach, Dorfjungens riefen ihr Unverständliches nach, sie beschleunigte, die Straße hatte sich geglättet, und sie freute sich auf den jungen Vikar, der, während die Gemeinde ihre Choralpflicht absolvierte, neben ihr saß und ihr schüchtern auf die Schulter tippte, damit sie nicht wieder eine Strophe zu viel spielte. Der Fahrtwind griff ihr unter die Kapuze und warf sie zurück, sie hatte es gern, wenn ihre grauen Dauerwellen durchwühlt wurden, das erinnerte sie an die Zeit, als sie vom Dreimeterbrett den Abfaller gesprungen war und die Bewunderung und den Neid der mehrheitlich unsportlichen jungen Mädchen genossen hatte. Jetzt kam sie durch Rabenschlade, musste ihr Tempo reduzieren, spürte, wie auf dem Kopfsteinpflaster der Kitzel des Reitens ihren Körper erschütterte wie eine Abfolge elektrischer Schläge. Was sie nicht sah, war der Feuerstrahl, der ihrem Auspuff entfuhr, als habe sie wie ein Jetpilot den Nachbrenner eingeschaltet, wieder schrie die Dorfjugend Unverständliches, aber das Dorf war zu Ende, sie beschleunigte wieder, ihr grauer Klepper flog, sie sah aus, wie eine Riesenfledermaus, und „Hojotoho!“ erklang es in ihr, ja, sie sang es, hier war sie ja nicht in der Kirche und konnte sich einen Ausflug ins Heidnische leisten, es berauschte sie förmlich, aber dann, im Rückspiegel, sah sie den Feuerstrahl, sie versuchte zu bremsen, aber die Bremse versagte, da hielt sie zu auf einen Kieshaufen und flog über den Lenker des allzu plötzlich gestoppten Zweitakters.

Der Klavierstimmer

„Dies ist nicht irgendein Klavirr, sondern ein Blüthner,“ sagte der Stimmer, als ich mich erstaunt zeigte ob des riesigen Koffers voller Werkzeug, das er immerhin aus Leipzig hierher geschleppt hatte. In bewundernswertem Tempo nahm er den Flügel auseinander, lehnte die Abdeckungen an Karla Janssens brechend volles Bücherregal, spielte ein paar Takte aus einem Stück, das mir bekannt vorkam, runzelte die Haut seiner in eine Glatze übergehenden braunen Stirn, schüttelte den Kopf und klagte: „Seit zwanzig Jahren nicht gestimmt, mindestens! Gibt Arrbeit, viel Arrbeit!“ Er nahm die Stimmgabel hervor, schlug sie an, lauschte, schlug dann das A an, verglich und runzelte wieder die Stirn, schüttelte erneut den Kopf, packte einen kurzen und einen langen Stimmschlüssel aus, zog ein Dämpfband durch Saiten, die offenbar nicht mitschwingen sollten, und begann, sich quinten- und oktavenweise durch den Tonkosmos des Flügels hindurchzustimmen. Ich zog mich höflich ins Nebenzimmer zurück, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wolle ihn kontrollieren, griff ins Regal und zog einen schmalen Kunstband hervor. Er zeigt Bilder eines Künstlers, der davon besessen schien, Frauen in möglichst kompromittierender Weise darzustellen, ich las über ihn, dass er wie mein Großvater kurz nach dem Ersten Weltkrieg an der Spanischen Grippe gestorben sei (Egon Schiele), diese Parallele nahm mich für ihn ein. Plötzlich schrie der Klavierstimmer auf. „Es ist,, wie ich habe gesagt!“, rief er triumphierend. Ich ging hinüber: Er schwenkte einen Zettel in der Hand, den er unter die Saiten geklebt gefunden hatte. „14. März 1935 Adolf Levi & Co, Blüthner-Klaviere, Hamburg“, rief er und hielt mir den Zettel hin, „vor 20 Jahren das letzte Mal gestimmt, wie ich habe gesagt!“ Und er fügte versöhnlich hinzu: „Aber es ist nicht irgendein Klavirr, sondern ein Blüthner. Der nicht alle drei Jahre Stimmung benötigt! Habe Flügel gestimmt für Prokofjew, ein übler Patron, und für Schostakowitsch, ein Engel!“

Kreishospital

„So, er hat sich beklagt, der Flügel sei völlig verstimmt … Das ist Quatsch, zwei-drei Tasten im Diskant klangen ein bisschen schräg, und auch im Bass war eine, die ich tunlichst mied. Wieviel hat er genommen?“
„Fünfundsiebzig Mark, zuzüglich Rückfahrkarte von Leipzig nach Himmelstein, etwa noch mal dasselbe.“
„Ganz schön happig für das Stimmen von neun oder zwölf Saiten. Aber gut, es musste ja mal sein! Und er sprach mit russischem Akzent, sagst du?“ Karlas Hände waren unverletzt geblieben, aber das Gesicht war verpflastert und verbunden, doch die graublauen Augen blickten Herbert forschend und freundlich an.
„Ja, er sagte, er stamme aus Odessa und habe unter anderem für die perfekte Stimmung der Instrumente gesorgt, auf denen Prokofjew auf seinen Konzertreisen spielte.“
„Wer’s glaubt, wird selig,“ bemerkte Karla sicherlich mit einem Lächeln, aber man sah es nur angedeutet in ihren Augen, die sich zu Schlitzen verengten.
„Er hat mir noch so viele Pianistennamen genannt, dass mir der Kopf davon schwirrte.“ Karla ergriff seine Hand und drückte sie fest.
„Ich bin dir so dankbar, dass du den Termin für mich wahrgenommen hast. Ohne dich hätte ich ihn absagen müssen. Und ich bin dir dankbar für deinen Besuch! Denn es kommt ja sonst reinweg niemand! Im Krankenhaus lernt man bereuen, dass man nie eine Familie gegründet hat.“ Sie tupfte sich mit einem Herrentaschentuch die wässernden Augen, besann sich aber schnell und fuhr fort: „Leg das Portemonnaie mit dem Restgeld auf die Konsole. Und die Hausschlüssel.“
„Ich hätte eine Bitte,“ sagte Herbert und schwenkte das Schlüsselbund an einem Finger, „könnten Sie mir die noch lassen? Ich habe, offen gestanden, Manfred angerufen und ihn gefragt, ob er den Termin nicht übernehmen wolle, er verstünde doch viel mehr davon. Aber er konnte nicht, weil er für den Landeszehnkampf aufgestellt ist, schlug aber vor, wir könnten doch bei Ihnen die Telemannsonaten mal zusammen üben.“
„Ohne mich?“ Karla war offenbar gekränkt, fand es dann aber doch gut, weil sie wegen Hirnerschütterung und drei gebrochener Rippen mindestens noch eine Woche in Behandlung bleiben musste. Herbert machte Freudensprünge, als er das Hospital verließ. Und er nahm sich vor, die hohen Töne Telemanns, besonders das hohe G, bis zur Bewusstlosigkeit zu üben. Und plötzlich fiel ihm der Zettel ein, den der Stimmer im Flügel gefunden hatte. Sollte er Karla noch einmal in ihrem Zimmer aufsuchen? „Ach, es ist früh genug, wenn ich es ihr bei ihrer Rückkehr erzähle. Und wahrscheinlich kennt sie ihn längst!“

Schwedinnen

Ein Flügel ist eigentlich nichts anderes als eine liegende Harfe, auf drei Beine gestellt und mit Holz umkleidet, doch die Saiten werden nicht unmittelbar, sondern mittelbar angeschlagen: Über Tasten, die man mit den Fingern niederdrückt, werden Hämmerchen emporgeschnellt und erzeugen durch ihren Anschlag die Töne, naja, man kennt das. Und Flügel heißt das Ding, weil es entfernt an die Form eines Adler-, Schwanen- oder Kondorflügels erinnert, besser hieße es Schwinge, denn sein einziger Zweck ist es, Schwingungen zu erzeugen, die ans Trommelfell gelangen und in ihrer Kombination das erzeugen, was wir Musik nennen. „Und Musik ist nichts weiter als tönende Mathematik“, erklärte mir der Stimmer, den hereinzulassen und mit Kaffee zu versorgen die im Kreishospital liegende Klara Janssen mich gebeten hatte. Warum mich und nicht einen Klavierspielschüler wie Manfred, hatte ich mich gefragt, aber das hatte sich wohl zufällig ergeben. Mein Mütterchen hatte eine frisch an einer Senkung operierte Freundin besucht und bei der Gelegenheit auch Karla gute Besserung zu wünschen für gut befunden, von deren Unfall sie im „Volksfreund“ gelesen hatte, und bei der Gelegenheit hatte Karla ihr den Schlüsselbund und ihr Portemonnaie in die Hand gedrückt und ihr gesagt, dass der Kaffee oben rechts im Küchenschrank stehe. Ich füllte die Kaffeemühle mit sechs Esslöffeln Bohnen und begann zu drehen. Das mit der Mathematik war mir nicht neu, mein Bruder hatte sich aus einem Brett, einer Darmsaite und einer Kurbel ein Monochord gebastelt und mir bewiesen, dass man die Oktave eines Tons erhielt, wenn man die Saite halbierte – ich hatte es mit Hilfe meiner Blockflöte überprüft. Und auch für Quinte und Quarte und Terz gab es genaue mathematische Verhältnisse, und sonderbar war es auch, dass ich mit dem richtigen Ton auf der Flöte die Saite zum Mitschwingen anregen konnte. Und da die Bahn des Mondes, die Bahnen der Planeten seit Kepler und seinem dänischen Vorläufer Tycho Brahe berechenbar waren, und das so genau, dass z.B. Finsternisse auf Jahrhunderte genau vorausgesagt werden konnten, war die Idee einer mathematischen Sphärenharmonie gar nicht mal so abwegig. Ich versuchte, Manfred für diese Gedanken zu erwärmen, als wir zusammen Telemann übten – aber er hörte nur geduldig zu, lächelte etwas mitleidig, wie mir schien, und erzählte mir sichtlich stolz von einer der aufgedonnerten Schwedinnen, die uns im Rahmen eines Schüleraustauschs besuchten: Sie sei so begeistert von ihm gewesen, dass sie sich in das Revers seines Blazers verbissen habe, man könne es kaum glauben! Er zeigte mir stolzgeschwellt die Spuren von dunkelrotem Lippenstift auf seinem Lornsenschuljackett und schwor, sie so lange wie möglich zu konservieren.

Der alte Eichbaum

Einsam war ich schon immer, aber meine junge Freundin spricht mir Mut zu und verwöhnt mich mit dem Duft ihrer Blüten. Unter uns tummelt sich der Menschennachwuchs, weiß der Himmel, womit sie ihre Zeit verbringen, wenn sie auf ein Klingelzeichen, das mir schrill in den Blättern klingt, alle im Haus verschwinden, nur um zwölf Windstöße später alle wieder aufzutauchen und ihren Gang rund um das maibaumgeschmückte Rondell anzutreten. Heute aber ist alles anders. Alle sind ins ockerfarbene Gebäude gerufen worden, doch kurze Zeit später kommt eine Gruppe heraus mit Schemeln und Zeichenblöcken bewaffnet, sie nehmen auf der Seite Platz, von der mich die Sonne bestrahlt, und unter Anleitung ihres Lehrers zücken sie Holzkohle und beginnen, mit zischenden, kratzenden Strichen mich abzukonterfeien … O sie sehen nur den knorrigen Stamm, seine Verzweigungen, die Ästchen und Blätter, sie wissen nicht, was ich alles weiß, aber das ist auch gut, denn ich weiß nicht nur Gutes. Aber warum skizzieren sie nur mich und nicht meine anmutige Nachbarin, die mir immer die süßesten Düfte zulispelt? Ein Junge wirft seinen Block auf den Boden, nachdem er alles verwischt hat, aber der Lehrer, ein hübscher, schlanker junger Mann, redet ihm gut zu, findet das Gezeichnete „gar nicht mal so schlecht“, ergänzt es um ein paar eigene Striche, führt dem Linkshänder die Hand, und der scheint es zu genießen, hat er vielleicht nur deshalb den Verzweifelten gespielt? „Herbert,“ sagt der Lehrer, „sei nicht traurig, wenn man dich als Linkspoot verspottet, der größte Künstler der Welt, sein Name ist Leonardo, war Linkshänder, schaue genau hin und versuche, nicht den Baum, sondern seine Struktur zu erfassen und in deiner Zeichnung zu spiegeln.“ „Seine Struktur ist mir zu schwierig,“ sagt Herbert darauf, „lieber würde ich die Linde zeichnen, die nebenan steht, an ihr ist alles senkrecht und schön!“ „Dann zeichne die!“ Herbert wandert mit seinem Schemel ein paar Schritte seitwärts und zeichnet meine Freundin, und ich liebe ihn dafür und werfe eine Eichel vom letzten Jahr auf seinen Zeichenblock hinab, dass er erschrickt.

Der Zettel

Zu Karla Janssen in den Unterricht zu gehen, war für mich wie nach Hause kommen. So ein Elternhaus hatte ich mir immer gewünscht  – die Bücher, der Flügel, das Porträt der Großeltern – und Karla Janssen selber, die Sinn, Geborgenheit und Schönheit in Musik und Kunst, Wahrheit in Philosophie und Literatur verheißend und verkörpernd unter all dem residierte, sich kümmerlich genug mit Klavier- und Flötenunterricht und Orgelspielen auf verschiedenen Dörfern durchschlug und darüber hinaus noch ein Zimmer an Frau Pokraka, eine alte Flüchtlingsfrau, vermietet hatte, die mit nichts als ihrer Kaffeemühle im Arm aus Masuren in Himmelstein angekommen war.
„Ja, es ist richtig,“ sagte Karla Janssen, als ich sie nach ihrer Heimkehr aus dem Hospital auf den Zettel unter den Saiten aufmerksam machte, „es ist richtig, diesen Flügel haben die Vorbesitzer bei Adolf Levi in Hamburg gekauft und von ihm stimmen lassen. Sie waren auch jüdisch und haben ihn zum Verkauf angeboten, weil sie nach Palästina auswandern und die Reichsfluchtsteuer von dem Erlös bezahlen wollten. Das ist ein trauriges Kapitel, auf das ich nicht gern zu sprechen komme, denn haben wir damals nicht von der Not dieser zu Unrecht nur wegen ihrer Rasse vertriebenen Menschen profitiert?“ Sie tupfte sich die wässernden Augen mit dem Batisttaschentuch, das sie immer bei sich trug, und zeigte mir das in die Ecke eingestickte Monogramm: F.W. „Ja, wir haben ihnen nicht nur den Blüthner, sondern auch einen Großteil ihrer Wäsche, ihres Geschirrs und Mobiliars abgekauft. Sie wollten es ja so, waren glücklich, in meinen Eltern finanzkräftige Abnehmer gefunden zu haben, die den geforderten Preis nicht zu drücken suchten. Natürlich: haben wir ihnen für den Flügel höchstens ein Zehntel seines wahren Wertes bezahlt, dasselbe gilt für diese Couch mit dem Ledaschwan und den dazu gehörigen Tisch und die Stühle. Wir haben uns in bester Absicht, ihre durch staatliche Verfolgung verursachte Not nutzend, bereichert. Meinen Eltern schwante dann, dass es nicht mit rechten Dingen zuging. Sie waren absolut nicht antijüdisch eingestellt, im Gegenteil: Der Anwalt meines Vaters war jüdisch, unser Hausarzt war jüdisch, und die Lieblingsmusik meiner Mutter war das 1. Violinkonzert von Bruch, bei dessen Ertönen sie förmlich dahinschmolz … Das Angebot der Wolfs, uns ihr Haus zu verkaufen, nahmen wir nicht an, zumal mein Vater, Architekt, sich selbst eins bauen wollte. Die Wolf-Villa wurde vom Staat erworben, und als sich die Hausbaupläne meiner Eltern am ausbrechenden Krieg zerschlugen, erwarben wir sie, irgendein Regierungsrat spielte den Verkäufer … Ich weiß, wie sehr du es genießt, zu mir zu kommen, weil dir alles so bieder, brav und traditionell bürgerlich erscheint. Ja, das ist es, aber es ist eine vergiftete Bürgerlichkeit, denn die Wolfs, die sie aufgebaut haben, haben kein Schiff nach Palästina bekommen, dafür aber eines nach Kuba, du hast bestimmt von der St. Louis gehört, – aber als sie dort ankamen, wollte man nichts von ihnen wissen und hat sie zurückgeschickt, ihre Spur verliert sich …“ Sie hielt plötzlich inne, sog die Luft durch die Nase ein. „Himmel!“, rief sie. „Frau Pokraka hat wieder die Bratkartoffeln auf dem Herd vergessen … Das ist nun schon das dritte Mal in dieser Woche! Herbert, wir reden ein andermal weiter über Vergangenes, das nicht vergehen will. Den Telemann hast du schon wunderbar drauf; da wird Manfred sich anstrengen müssen! Grüß deine Mutter!“

Die Taste

Ich bin ja nur eine Taste, elfenbeinfarben und  a u s  Elfenbein, dabei haben Elfen ja keine Knochen, sondern sind geistige Wesen, bewegen sich bei Nacht schwerelos auf mondbeschienener Waldwiese, aber mir ist gar nicht schwerelos zumute, ja, manchmal glaube ich mich daran zu erinnern, dass mein stolzer Besitzer sich mit mir den Weg durch dichtes Unterholz bahnte oder laut trompetend mit einem Rivalen die Waffen kreuzte … Nun gut, jetzt ist es mein Schicksal, darauf zu warten, dass ein mehr oder weniger zarter Finger mich herunterdrückt, zuerst war es der elfenhafte Finger der Haustochter, die entscheiden durfte, welches Instrument sie haben wollte von dem runden Dutzend, das an der Elbe zu besichtigen war. Anfangs waren es nur seelenlose Läufe und Klimpereien, die sie absolvieren musste, dann waren es ein paar Volkslieder, ich erinnere mich, dass Glückl mitsang: „Flieg, Bienlein, flieg!“, dann waren es Kinderstücke von ihrem Ururgroßvater Mendelssohn, o ja, die waren süß, und schließlich kam der französische Pole oder polnische Franzose Chopin an die Reihe, und das war meine große Stunde, denn von dem gibt es ein Stück, da wurde ich einige hundert Male gedrückt, durfte immer denselben Ton erzeugen, ohne dass es langweilig wurde, es war ein Labsal für meine elfenbeinerne Seele, immer und immer wieder gedrückt zu werden von Glückls rosigem Ringfinger, in den ich mich schlichtweg verliebt habe: Wie kann ein Mädchenfinger so geschickt, so anmutig, so nachhaltig, so pochend und Glück verheißend sein! Jede seiner Berührungen genoss ich wie einen Kuss, obgleich ich gar nicht weiß, wie ein Kuss geht, denn ich habe keinen Mund, und mein Vorbesitzer hatte auch keinen – oder doch, er hatte einen, aber mit dem küsste er nicht, sondern steckte seine lange Nase hinein, was bin ich nur für ein sonderbares Zwitterwesen, möchte menschlich fühlen und bin doch tierischer Herkunft. Auch Siegfried hat mich zeitweise drücken dürfen, Glückls kleiner Bruder, an sich ein süßer Kerl mit seinen Wurstfingern und seinem trotzdem harten Anschlag, mit dem er den Czerny herunterhämmerte – aber dann wurde es still, die Familie zog aus und eine andere ein, und nun, so hörte ich, war es eine Karla, die Läufe und Etüden auf mir übte und das Lied „Pommerland ist abgebrannt!“ sang und sich schnell zu einer Musik emporarbeitete, die ich grässlich fand, sie rief „Hojotoho!“ und wechselte von einer Tonart in die andere, glatt zum Ertauben. Sie verschwand, ich stand still und verstaubte und sehnte mich nach den Urwäldern und Savannen meiner Herkunft, aber dann kam sie zurück, eine von der Liebe Gezeichnete, spielte Mendelssohn und Chopin, gab mich aber auch vielen Anfängern preis, die ihre ersten Musikschritte auf mir erlernten, o, ich habe zeitweise Furchtbares durchgemacht, wenn ich nur an den Türkischen Marsch denke, der immer an derselben Stelle scheiterte … Karlas Finger sind beherrschend und streng, aber einer ist jetzt unter ihren Schülern, dessen Finger haben die Zartheit und elfenhafte Anmut der rosigen Finger von Glückl, und ich hoffe auf den Tag, an dem er das Stück mit den pochenden Wiederholungen von Chopin spielt und mich einige hundert Male küsst.

Das Geständnis

Das Zusammenspiel Herberts mit Manfred wurde immer besser, der Telemann klang prächtig und beinahe schon virtuos (vor allem hatte er gelernt, die hohen Töne durch Bauchatmung besser zu beherrschen) – aber Manfred nach Hause begleitend, wurde ihm klar, dass er für ihn nicht die Rolle spielte, die Manfred für ihn spielte. Deshalb fasste er sich eines Nachmittags, als er mit Karla allein war, ein Herz und bat sie, das weitere Zusammenspiel auszusetzen. „Aber warum das?“, wollte Karla wissen, „Ihr seid doch das Glanzstück für meinen Elternabend! Darauf werde ich nicht verzichten!“ Herbert brach in Tränen aus. „Ich glaube, ich habe mich in Manfred verliebt,“ sagte er, „aber Manfred interessiert sich nur für die aufgedonnerten Mädchen aus Uppsala.“ „Dann hast du eben Pech gehabt und dich in den falschen verliebt. Das passiert jedem und jeder einmal, nein, zwei-, drei- oder sogar viermal im Leben. Mir ist es auch passiert. Ich habe mich während des Studiums in Köln in meinen Klavierlehrer verliebt. Das war sogar noch schrecklicher, denn er erwiderte meine Liebe, Beethovens Elise war unsere Kennmelodie, er pfiff sie unter meinem Fenster, wenn er zum Konservatorium vorbeiging, dann wusste ich, dass er an mich dachte, sich auf mich freute, für mich war klar, dass wir auf Verlobung und Ehe zusteuerten. Aber dann erfuhr ich von einer Kommilitonin, dass er auch mit ihr schlief – und nicht nur das – er war verheiratet mit einer gelähmten Frau. Wie naiv war ich gewesen! In einem furchtbaren nächtlichen Kraftakt wandte ich mich innerlich von ihm ab, verließ das Konservatorium und beendete mein Studium in Hamburg. Seine Frau ist inzwischen gestorben, wie ich von der Kommilitonin erfahren habe, und sofort sind meine unterdrückten Wünsche und Sehnsüchte wieder erwacht, ich würde mich an ihn wenden, aber er ist als Soldat im Osten vermisst – und das ist gut so. Er hat mir nicht gutgetan. Spiele den Telemann mit Manfred noch auf dem nächsten Vorspielabend, dann suche ich dir einen anderen Begleiter. Und wende dich innerlich von Manfred ab. Vielleicht wird dir gelingen, was mir nicht gelang: Ihn zu vergessen und eine neue Liebe zu finden.“

Ich, der Flügel

Natürlich bin ich ein bloßes Ding und von daher nicht berechtigt, mich zu Wort zu melden. Hat denn ein Flügel eine Sprache? Ist er ein Subjekt? Kapriziert sich womöglich gar auf ein Seelenleben? Nun, für einen fabrikneuen Flügel, mag er welcher Marke auch sein, Bechstein, Bösendorfer, Blüthner, Blüthner, wäre die Antwort auf alle Fragen ein energisches Nein! Aber über die Jahre sammelt sich so viel Schmerz, so viel Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, soviel jubelndes Entzücken, so viel dumpf hallende Verzweiflung, so viel zittrige Sehnsucht und süße Resignation in mir an, dass mein gusseiserner Rahmen, mein stählernes Saitenkleid und meine ulmene Hülle zu einer leise und unmerklich erwachenden Seele verwachsen, die begierig mehr und mehr lernt und durchaus zu empfinden, zu erlauschen und zu erraten vermag. Als vor gut 30 Jahren zum ersten Mal eine Musik auf mir gespielt wurde, die mir völlig neu war – da wusste mein sechster Sinn, woher sie stammte und dass sie in Militärkapellen, auf Baumwollfeldern und vor ärmlichen Hütten geboren wurde. Und auch Echos vermag ich wahrzunehmen; ich vernehme sie bis aus den Tiefen Asiens, wenn das wohltemperierte Klavier auf mir seine mathematische Schönheit entfaltet – oft spielen es Tausende zugleich und manchmal sogar synchron, als hätten sie sich verabredet; wenn Manfred präzise und sanft die Akkorde unter die Sonate setzt, die ein verliebter Junge auf der Altblockflöte spielt, spüre ich, dass der junge Athlet von anmutigen Mädchen träumt, die in schwingenden, tief ausgeschnittenen  Barockkleidern unter aufgetürmten Perücken tanzen, der Junge aber davon, zu sterben, Manfred an sein Sterbelager zu rufen und ihm seine heiße, hoffnungslose Liebe zu offenbaren; wenn Gudrun mit verzweifelt hochgezogenen Schultern den türkischen Marsch intoniert, immer wieder an der gleichen Stelle der Janitscharenmusik scheitert und sich so bezaubernd schämt; wenn Karla Janssen, sobald alle Schülerinnen und Schüler fort sind, ihr Lieblingsstück auf mir spielt und dabei widerwillig weint, klingt es leise aus Russland zurück, mit eben dem sanft kreisenden Anschlag, der gleichen verzweifelten Sehnsucht … Nur von einer erreicht mich keine einziger Laut: Von der ersten, die mich zum Leben erweckte, von Glückl Wolf, bitte, Karla, bitte: den Trauermarsch …

Thalysia

„Was sagen Sie – Sie haben keine Kinder?“ Karla ging diese Frage etwas weit. Grimmig erwiderte sie: „Nein.“ „Aber schwanger gewesen müssen Sie mal sein. Das fühle und sehe ich. Gut, es geht mich ja nichts an.“ Karla nickte energisch bestätigend. „Was schlagen Sie mir vor?“ „Meine Hausmarke hat für jede Figur eine Lösung. Wichtig ist für mich noch, Ihr Ziel zu erfahren. Wollen Sie schlank und jugendlich aussehen? Oder genügt es Ihnen, die altersbedingte Fülle ein wenig zu bändigen?“ „Ich möchte ein Kleid wieder anziehen, das ich vor 40 Jahren zuletzt in die Oper trug, damals Xerxes von Händel. Ich habe es dabei.“ Karla packte ein grünsamtenes Kleid aus, das Sorgenfalten auf die Stirn der Miederwarenhändlerin zauberte. „Damals waren Sie noch nicht …“ Sie korrigierte sich. „Damals waren Sie noch unschuldig, nicht wahr? Haben Sie nicht eine Schneiderin an der Hand, die es – ein wenig weitet?“ „Wozu verspricht die Marke Thalysia, sie forme die Figur? Bitte formen Sie mich!“ Das war einfacher gesagt als getan. Nachdem drei Schnürbänder durchgerissen waren und Karla zu keuchen begann, weil sie kaum noch Luft kriegte, stiegen die beiden Frauen auf das Konzept der bloßen Bändigung um. „Ich werde das Kleid meiner Mieterin geben, die kann nähen. Und es ist ohnehin zu lang. Sie kann unten eine Spanne abschneiden und draus Zwickel für die Erweiterung gewinnen.“ „Man soll zu seiner fraulichen Fülle stehen,“ meinte Frau Flöl, „die Herren schätzen sie ohnehin mehr als wir selbst. Haben Sie Karten für die Oper?“ „Bin ich so dick, dass ich mehrere benötige?“ „O, Entschuldigung, natürlich ja, Fräulein Janssen, das sagt alles. Was wird gegeben?“ „Norma von Bellini, und die Griechin soll die Norma singen … Sie haben bestimmt von ihr gehört. Herr Lademann hat mir die zurückgegebene Karte von Frau Eisenpflicht herausgerückt, die mit Migräne zu Hause bleiben muss.“ „Migräne ist Schicksal, hat mir mein Arzt mal gesagt, und ich glaube, er hat Recht. Man muss sich mit ihr abfinden.“ „Leiden Sie darunter?“ Frau Flöl wickelte das Mieder in Seidenpapier. „Sie meinen, unter der Mi? Ich kürze ihren Namen immer ab in der Hoffnung, sie dadurch günstig zu stimmen und mich nur alle vier Wochen heimzusuchen.“ Karla verließ das Geschäft in der Kasinostraße unmittelbar neben dem Buchladen von Herrn Lademann, der mit den Ohren wackeln konnte. „Alte Vettel!“, dachte Frau Flöl. „Hält sich für was Besonderes, nur weil sie ihr Fett in die Oper schleppt. Puh!“

Am Anfang war …

Das war nun eine sehr merkwürdige Geschichte, die Emil mir da auftischte. Er war plötzlich in unserer Familie aufgetaucht, meine Mutter hatte geweint und gesagt: „Man kann über Konrad Adenauer sagen, was man will, aber er hat sich nach Moskau getraut und hat die Gefangenen losgeeist.“ Und sie befahl uns, ihn Vati zu nennen und ihm vorm Ins-Bett-Gehen die stachlige Backe zu küssen und ihm „Gute Nacht!“ zu sagen. Sehr redselig war er zunächst nicht, auf die Frage, wie es in Russland war, sagte er: „Kalt!“ Er war dick geworden, hatte Wasser in den Füßen, die kaum in die riesigen Filzstiefel passten. Aber als er hörte, dass das Museum eine Abteilung für Funde aus der Slawenzeit eingerichtet hatte, war er wie elektrisiert, bewarb sich und wurde deren Kustos. Das war ihm gelungen, weil er in Russland Ausgrabungen geleitet hatte, und zwar in Nowgorod. „Ich hatte doch ein paar Semester Geschichte studiert, bevor ich eingezogen wurde, und das Bergwerk, in dem wir arbeiten mussten, naja, ich weiß nicht, ob ich es überlebt hätte. Und dann wurde uns eines Morgens beim Antreten gesagt, in Nowgorod brauchten sie welche zum Ausgraben. Da meldeten sich natürlich alle, aber es wurden nur fünf genommen, darunter auch ich, weil ich gesagt habe, ich hätte Geschichte studiert. Die Kommunisten hatten scheinbar die Verbindung zur Vergangenheit gekappt, als sie die Zarenfamilie liquidiert haben, aber in Wirklichkeit waren sie scharf auf Tradition und Geschichte wie Nachbars Lumpi, und so buddelten wir in Nowgorod alte Hausfundamente aus, und als ich an einem eine griechische Inschrift fand, waren sie total begeistert, weil das bewies, dass schon die Altrussen im Mittelalter gebildete Leute waren, und ich wurde zum Grabungsleiter befördert und bekam täglich einen Teller Borschtsch, der hat mir das Leben gerettet, denn die anderen starben wie die Fliegen, z.B. auch mein bester Kumpel aus dem Rheinland. Wir waren in einem früheren Hotel untergebracht, da stand ein Klavier mit kaputten Tasten, auf dem spielte er gern, am liebsten ‚Für Elise‘ von Beethoven, er sagte, es erinnere ihn an eine Geliebte, der er ein Kind gemacht habe und von der er nicht wisse, wie es mit ihr weiter gegangen sei. Er wurde immer klappriger und hohläugiger, aber er führte das nicht auf die magere Kost, sondern auf seine Schuldgefühle zurück, und als er wieder mal ‚Für Elise‘ anstimmte auf dem verstimmten Klavier mit den kaputten Tasten, fiel er tot vom Stuhl. Und soll ich dir was sagen? Die griechische Inschrift habe ich in das Fundament gekratzt, ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ Λόγος, das hatte ich aus dem Religionsunterricht behalten.“

Gudrun

Seit meiner Kindheit stottere ich und werde dafür veräppelt, aber daran habe ich mich gewöhnt. Das Traurige ist, dass auch meine Finger zum Stottern neigen, dass sie bestimmte Tonfolgen einfach nicht spielen wollen, ohne hängen zu bleiben. Ich erkläre das damit, dass Stottern nicht nur eine Sache der Zunge, des Rachens, Gaumens usw. ist, sondern des gesamten Körpers, der an bestimmten Widerständen immer wieder hängen bleibt, sich gleichsam eine Bedenkzeit ausbittet – und dann weitermacht, als wäre nichts geschehen. Da das bei Bach und Händel weniger der Fall war, wäre ich froh, wenn meine Klavierlehrerin mich mit Mozart und seinen „entzückenden Einfällen“ verschonen würde, aber sie sagt: „Du kannst doch nicht dein Leben lang nur Barockmusik spielen, Mädchen, Mozart ist eine einzige Quelle der Freude und Lebenslust, er wird sich deinen Händen und deinem Kopf ergeben!“ Der Elternabend am Donnerstag sollte eigentlich mit einer Telemannsonate für Flöte und Klavier eröffnet werden, aber weil Manfred nicht kam, wurde sie an den Schluss verlegt, Fräulein Janssen hoffte, dass er noch käme. Natürlich blieb ich beim Türkischen Marsch wieder hängen, und das nicht nur einmal, sondern dreimal! Dafür schämte ich mich in Grund und Boden, und besonders demütigte mich der allzu großzügige Beifall, der mich wohl trösten und ermutigen sollte, aber das Gegenteil bewirkte. Und dann kam der Anruf: Manfred werde nicht kommen, er habe sich beim Kugelstoßtraining eine Sehnenzerrung in der rechten Hand zugezogen und könne nicht spielen. „Dann begleite du ihn!“ Karla Janssen drückte mir das Notenheft in die Hand, ich wusste, es war die erste Sonate in F-dur (dam-da-da-di-daa), ich hatte sie, auf meine Stunde wartend, oft genug gehört, ich setzte mich bibbernd an den Flügel, aber schon nach den ersten drei Takten wusste ich: Es würde gelingen! Der Flötenspieler, ein gewisser Herbert Eisenpflicht, ruhte sich regelrecht auf meiner Musik aus, nahm Tempoänderungen bereitwilligst auf und war von einer Sicherheit, wie ich sie früher, als Manfred ihn begleitete, nie gespürt hatte. Er war selbst erstaunt; ich werde das ungläubige, bewundernde Lächeln nie vergessen, mit dem er mich ansah, als der nun gar nicht nur trostreiche, sondern begeisterte Beifall laut wurde. Und er wurde noch einmal stärker, als Karla Janssen sagte: „Gudrun hat den Klavierpart soeben zum ersten Mal und vom Blatt gespielt!“ Bevor ich ging, kniete ich nieder und umarmte das dritte Bein des Blüthner, um meinem Erlöser zu danken.

Zwanzig Jahre später

Während ich meine Alpenveilchen gieße, denke ich oft an Vergangenes, an meine vielen Schüler, und wie ich manchmal Schicksal gespielt habe in ihrem Leben. Z.B. als wir von der Aufführung der Norma zurückfuhren im Bus des Himmelsteiner Besucherrings … Wie Herbert sich da an mich oder vielmehr an meinen Rotfuchs kuschelte und schrecklich weinte … Er war so unglücklich verliebt in einen meiner Schüler, dem freilich sein Sport viel wichtiger war als die Musik, und mit einem Jungen, der ihn liebte, konnte er gar nichts anfangen. Herberts Vater freute sich, in Fräulein von Plunow eine für die Geschichte der Slawen interessierte Gesprächspartnerin gefunden zu haben, und war froh, als Herbert sich einen anderen Platz suchte. Und ich bilde mir ein, da habe ich ihm die Liebe unter Männern ausgeredet … Ich weiß nicht, ob man das kann, aber er war noch so jung, und ich sah ihn auf die Bahn kommen, auf der mein Bruder gescheitert ist. Stephan war Ministerialrat beim Land, hätte gern mit seinem Freund zusammengelebt, aber aus Karrieregründen musste er heiraten – eine Witwe mit drei Söhnen, an allen dreien hat er sich angeblich vergangen, ich kann es bis heute nicht glauben, wurde verurteilt, unehrenhaft aus dem Dienst entlassen und hat Jahre im Knast verbracht, wo er verachtet und vergewaltigt wurde … Aber das ist es gar nicht, was ich Herbert gesagt habe. Stephan hat mir von der Liebesraserei in manchen Clubs und Saunen erzählt, wo er die geschlechtlichen Kontakte gar nicht mehr zählen konnte, und als Begründung gab er an: Die Liebe unter Männern sei ziel-, wirkungs- und fruchtlos. Deshalb sei sie nicht schlecht, aber es fehle ihr eine bändigende Gegenkraft, die Gegenkraft von Schwangerschaft, Vaterschaft, Rücksichtnahme, Erziehung und Freude, das eigene Werk Kind gemeinsam heranwachsen zu sehen … Deshalb lechze der Gleichgeschlechtliche nach ständiger Steigerung, Bestätigung, nach Exzess … In der Liebe von Mann und Frau, und das sage ich dir jetzt, Herbert, ist hingegen ein Moment der Ewigkeit enthalten: So wie wir selbst nur leben, weil schon vor Tausenden von Jahren Männer und Frauen sich liebend miteinander vereinigten, so können noch in Tausenden von Jahren Menschen existieren, in denen etwas von dir, Herbert Eisenpflicht, lebt, du gibst dein Erbgut in die Ewigkeit, überlebst dich selbst in deinen Nachfahren! Natürlich kann auch die Liebe von Mann und Frau von der Fortpflanzung abgekoppelt und allein der Lust wegen ausgeübt werden – dann gibt es auch hier Orgien oder denke nur an den Bordellbetrieb. Aber das ist eine Verarmung der Liebe, Aaron, mein Kölner Liebster, hat mir gestanden, mehrfach mit Huren gegangen zu sein – es habe ihn jedes Mal todtraurig gemacht, er habe sich vor sich selbst geschämt. Während Herbert mir zuhörte, hat er sich immer fester an mich gedrückt, er hat mich unter Tränen zuerst dankbar, dann immer glühender geküsst, uns beiden ging die Arie „Casta Diva“ durch den Kopf, gesungen von dieser unglaublichen Griechin, die ihre Töne mit den schönen Händen förmlich knetet – geküsst hat er mich, bis ich ihm Einhalt gebieten musste, weil mir die Zahnprothese verrutschte, ja, die hatte ich damals schon. Ach, vielleicht beruht alles auch nur darauf, dass ich L’air du temps von Nina Ricci aufgelegt hatte, das mit seinem Geruch nach Nelke und Sandelholz wohl jeden Mann um den Verstand gebracht hätte. Aber warum habe ich es getan? Hatte ich mich in Herbert verliebt? Nein,  aber seine Orientierungslosigkeit hat mich gerührt, und die hat er, an meiner Seite im Bus des Besucherrings durch die Nacht schaukelnd, überwunden. Habe ich ihm wirklich was erspart? Sicherlich Einiges – aber wie unglücklich ist er mit seiner Frau geworden! Doch das ist eine andere Geschichte. Jetzt gehe ich Stephan besuchen und bring ihm das pinke Alpenveilchen. Das hätte ihm gefallen.

Relativitätstheorie

Mein Bruder heißt Emil genau wie mein Vater, so wie ich Herbert nach meinem Onkel heiße. Ich nenne ihn aus Vereinfachungsgründen aber einfach Emil und füge, wenn ich von meinem Vater rede, ein sen. hinzu.  Emil hatte einen Physiklehrer, der sich über nichts so sehr erregen konnte wie über Einsteins Relativitätstheorie. Er kanzelte sie ab als „jüdische Physik“, mit der sich zu beschäftigen reine Zeitverschwendung sei – und er stellte ihr eine „deutsche Physik“ gegenüber. „Was ist an der aber deutsch, wenn sie auf den Erkenntnissen von Galileo Galilei, eines Italieners, und von Isaac Newton beruht, der bekanntlich Engländer war?“ Von Emil sen. in seiner Skepsis bestärkt, suchte Emil unseren Buchhändler auf – es gab damals nur einen in Himmelstein – und fragte ihn nach einem Buch über die Relativitätstheorie. „Die ist noch viel zu hoch für dich,“ sagte Herr Lademann und ließ die Ohren bekümmert sinken „befasse dich erst einmal mit den Grundlagen. Hier habe ich z.B. ein Heft über die Schwerkraft: ‚Gewicht, Masse, Druck‘, damit fange mal an. Und dann dieses: ‚Die Trägheit der Masse‘, und hier, wenn du dir das schon zutraust, von demselben Autor ‚Die Physik der Weltraumfahrt‘.“ Ich stand neben ihm während dieser Beratung und beobachte fasziniert das Spiel von Lademanns Ohren, die sich aufmerkend spitzten und dann wieder resigniert herabsenkten. Fraglos waren diese Ohren und ihre Beweglichkeit auch geschäftlich von Vorteil, ich möchte nicht wissen, wie viele Bücher Herr Lademann an Leute verkauft hat, die nur seine Ohren sehen wollten. „Das ist doch alles Babyliteratur,“ rief aus dem Hinterzimmer plötzlich eine helle Frauenstimme mit sächsischem Akzent, „warum bietest du Emil Eisenpflicht nicht wenigstens das Taschenbuch ‚Mein Weltbild‘ von Albert Einstein an? Das verstehe sogar ich!“ Dieses Taschenbuch schwenkend, kam Minna Lademann hereinspaziert, ich kannte sie schon, Herr Lademann hatte sie aus der Ostzone von einer Reise zu Freunden mitgebracht, und sie nahm auch bei Karla Janssen Klavierunterricht. Sie war eigentlich Strumpfwirkerin von Beruf, ging aber beherzter als ihr Mann auf unsere Wünsche ein. Bevormundet worden sei sie genug da „drieben“, begründete sie das einmal, und es sei ein Fehler, immer nur ans Geschäft und den Profit zu denken! Also zogen wir mit „Mein Weltbild“ von Einstein davon, das war der Anfang von Emils Entscheidung für die Physik und die Astronomie, und seit zehn Jahren heißt der größte von 12 Planetoiden , die er von der Europäischen Südsternwarte in Chile aus, an der er arbeitet, entdeckt hat, Emil Eisenpflicht.

Norma

„Sag ich’s ihr oder sag ich’s ihr nicht? Er kam aus dem Rheinland, spielte sehr gut Klavier, hatte eine Geliebte, die er unglücklich gemacht hat und die dann aus seinem Leben verschwand, und er spielte ‚Für Elise‘, um sich an sie zu erinnern … Aber wie viele Rheinländer, die gut Klavier spielen und eine Frau unglücklich gemacht haben, mag es geben? Und ‚Für Elise` ist nun wahrlich eins der meistgespielten Verliebtheitsstücke der Welt! Nein, ich darf es ihr nicht sagen, denn ich müsste ihr auch sagen, dass er tot vom Stuhl gefallen ist, und eine wenn auch winzige Hoffnung, dass er zurückkommt, hat sie doch immer noch! Welches Recht habe ich, ihr diese Hoffnung auf Grund einer bloßen Vermutung zu nehmen?“ Das waren meine Gedanken, als ich, neben Karla sitzend, am Schlauchtrockenturm von Rabenschlade vorbei in die Oper fuhr. Aber es kann kein Zufall sein, dass es die Oper „Norma“ von Bellini war, denn sie handelt von einer Druidenpriesterin, die heimlich und verbotener Weise Kinder von einem Römer hat, und wenn sie mit dieser unglaublichen Stimme ihre „Keusche Göttin“ beschwört, tut sie das mit schlechtem Gewissen, so wie auch Karla Gewissensbisse hatte, als sie plötzlich erfuhr, dass ihr Liebster Aaron verheiratet war … Ich saß neben ihr auf der Heimfahrt und heulte wie ein Schlosshund, sie dachte wohl, es sei immer noch wegen Manfred, sie malte mir am Beispiel ihres Bruders aus, wie schrecklich es sei, als 175er zu leben, nein, Manfred ist längst vergessen, ich mag gar nicht mehr an ihn denken, schäme mich beinahe, in ihn verliebt gewesen zu sein, Gudrun ist meine Begleiterin geworden, ihr Klavierspiel trägt mich über alle Abgründe hinweg, wir spielen jetzt Händel zusammen, der ist zwar leichter als Telemann, aber so viel tiefer! Wenn sie nur mehr mit mir spräche, ich bin ihr wohl einfach zu jung, sie ist ja drei Klassen über mir und würde sich schämen, auch nur drei Schritte auf dem Schulhof neben mir zu gehen … Ja, deshalb weinte ich auch, aber am meisten wegen Karla, wegen des Unglücks, durch das sie hindurchmusste, hatte sie das Kind wohl bekommen? Hatte sie es zur Adoption frei gegeben? War es ‚still-born‘, wie der Engländer sagt? Und ich begriff, dass Frausein heißt, zum Leiden geboren zu sein, und dass man dafür die Normas, die Elisen, die Gudruns und die Karlas über alles lieben, umarmen, verehren und küssen muss! Und neulich komme ich zur Flötenstunde und höre, wie Gudrun die Arie auf dem Blüthner spielt, ich hatte sie darum gebeten, weil Karla die Noten einer Fassung von Chopin hatte, und Gudrun hatte gesagt, romantische Musik liege ihr nicht, und als ich hereinkam, verspielte sie sich, klatschte errötend in die Hände und rief: „Es hat einfach k-k-k-keinen Zweck!“

Skudde

Ich entstamme einer der ältesten Schafrassen, und wäre ich ein Mensch, so hieße ich mit Sicherheit von Skudde, oder sogar Freifrau von Skudde, hätte einen oder mehrere hübsche Vornamen, z.B. Birute Neringa, ja, da staunt ihr, was? Meine Vorfahren stammen nämlich aus Litauen, wir sind klein und anspruchslos, fressen zur Not auch Disteln, Brennnesseln und Schilf, man konnte uns auf ärmlichsten Böden halten, auf denen nicht ein Halm Roggen wuchs – aber uns verdross das nicht, und weil wir wenig Fleisch auf den Rippen haben, ließ man uns lange leben und begnügte sich mit unserer fusseligen Wolle, und um die geht es mir, denn in ihr habe ich mich überlebt. Aber zunächst einmal: Was verschlug uns von Litauen und Ostpreußen, wo wir jahrhundertelang Wiesen und Weiden gepflegt hatten, nach Sachsen? Größere, woll- und fleischreichere Rassen hatten uns verdrängt, nur noch ein paar Liebhaber unserer Art sorgten dafür, dass wir leben und Lämmerchen gebären konnten, und einen von ihnen, einen waschechten Baron, verschlug der Krieg von seinem Gut Dumala nach Dresden, dorthin nahm er auf dem Panjewagen, auf dem er reiste, meine Ururgroßmutter mit, und da er nicht wusste, wovon er leben sollte, bot er ihre Wolle der Filzerei und Strumpfwirkerei Lieberwirth an, wo mich die Tochter des Hauses höchstpersönlich wusch, kämmte und unter einem Wasserstrahl in wunderschönen weißen Filz verwandelte, und der wurde, nun, ihr habt es schon erraten, an eine Fabrik verkauft, die Klaviere und Flügel herstellt, aus mir wurden die Dämpfer geschnitten, die es dem Spieler, der Spielerin erlauben, leiser zu spielen oder auch einen nachklingenden Ton jäh zum Verstummen zu bringen. Leider wurde der Blüthner, in dem ich dämpfe, weit, weit fort nach Himmelstein verkauft, und da bin ich nun immer noch, dämpfe mal Bach, mal Beethoven, und zu den Freuden meines Alters gehört es, dass seit einiger Zeit Minna Lieberwirth  mit mir dämpft – sie weiß es nicht, dass wir uns kennen, ich weiß nicht, wie sie nach Himmelstein kam, aber ich dämpfe für sie mit einer Akkuratesse und einem Gefühl, dass ihre Lehrerin schon mal sagte: „Minna, wenn Du spielst, kommt mir der Blüthner vor wie neu geboren!“

Der Zeitungsausschnitt

Herbert hatte, auf seine Unterrichtsstunde wartend, wieder das Buch mit den Bildern Schieles herausgezogen. Er genoss den Anblick des schwarzhaarigen Mädchens mit hochgeschlagenem Rock, während Gudruns Klavierspiel in sein Ohr eindrang, eine Zweisinnigkeit, die ihn zugleich froh und auf sich selbst zornig machte. War seine Beziehung zu Gudrun nicht rein musikalischer Art, was hatte physische Weiblichkeit dazwischen verloren? Er wandte die Augen von dem Bild ab – und sein Blick fiel auf einen Ausschnitt aus dem Himmelsteiner Volksfreund, den Karla Janssen auf dem verschlissenen Sofakissen liegen gelassen hatte. Für ihn? Ja, für ihn, denn darin war von seinem Vater die Rede – er wurde interviewt:

Necenna = Himmelstein?
Seit einigen Tagen erschüttert ein Streit um die Anfänge unserer Stadt die Gemüter. Er wurde ausgelöst durch einen Artikel von Dr. Emil Eisenpflicht, Kustos der slawischen Abteilung im Landesmuseum, in den Blättern für sächsische Geschichte. Chefredakteur Wittkowski sprach mit dem Autor.
Wittkowski: War Ihnen klar, welch einen Sturm im Wasserglas Ihr Artikel „Himmelstein ist das Necenna der Wenden“ auslösen würde?
EE: Nein, das hat mich überrascht. Immerhin liegen diese Vorgänge 900 Jahre zurück.
W: Aber für viele Bürger macht es eben einen großen Unterschied, ob sie in einem Ort slawischen oder sächsischen Ursprungs leben.
EE: Das verstehe ich nicht. Slawen und Sachsen sind einander doch absolut gleichwertig.
W: Da gehen die Meinungen eben auseinander. Aber gehen wir auf die Details ein. Inwiefern soll Necenna den Namen Himmelstein vorwegnehmen?
EE: Es ist eine Latinisierung, in der sich zwei wendische Wörter verstecken: nebe für Himmel und kamen für Stein. Es ist auch nach den Grabungsfunden anzunehmen, dass sich, bevor die Sachsen ihre Festung auf dem Himmelstein errichteten, zuvor schon eine wendische Burg darauf befand.
W: Und verstehen Sie, dass Ihre Forschungen Pastor Westfal, der einen wütenden Leserbrief geschrieben hat, wie eine Einladung an Russland erscheinen, auch Himmelstein in seinen Einflussbereich einzubeziehen?
EE: Russland habe ich durch meine langjährige Gefangenschaft gut kennen zu lernen Gelegenheit gehabt. Es ist saturiert und hat Probleme genug mit seinen Satelliten und der Ostzone, die sich seit einigen Jahren DDR nennt. Für eine Grenzverschiebung bedürfte es eines Krieges, und von dem sind wir Dank Eisenhower und Chruschtschow weit entfernt. Außerdem ist völlig klar, Himmelstein ist eine sächsische Gründung, aber eben auf slawischen Ruinen.
W: Pastor Westfal hat gefordert, die slawische Abteilung im Museum zu schließen.
EE: Pastor Westfal soll mal ganz schön still sein. Er hat in SA Uniform von der Kanzel herunter gepredigt, Jesus sei ein Arier gewesen. Für mich ist es unfassbar, dass die Kirche solche Scharlatane weiter beschäftigt, statt ihnen die Ordination zu entziehen (von Karla Janssen dick mit Bleistift unterstrichen).

Herbert ließ das Blatt sinken. Warum hatte Emil sen. nie von dieser Auseinandersetzung gesprochen? Auch in der Schule war bisher nichts davon angekommen. Aber vielleicht war dies nun endlich ein Thema, auf das Gudrun einmal eingehen musste. Karla Janssen würde gleich mit ihr durch die Bibliothek hinausgehen, er wollte sie einfach fragen: Was sagst du zum Streit unserer Väter? Aber sie wählten den anderen Weg zum Flur, und als Karla hereinkam, sagte sie beiläufig: „Ich fürchte, du musst zu Manfred als Begleiter zurückkehren. Gudrun hat mir mitgeteilt, ihr Vater wolle nicht, dass ihr zusammenspielt. Ich sehe, du hast das Interview gelesen. Was dein Vater sagt, kann ich voll und ganz bezeugen. Gudruns Vater hat sich mit zelotischem Eifer für die Deutschen Christen eingesetzt. Auch ich finde, dass er in seinem Amt nichts mehr zu suchen hat. Komm, wir nehmen uns dies hier vor: Ein Divertimento von Bononcini, dem Rivalen Händels in London, sehr melodiös und gefällig!“

Braun SK4

Für ein Gerät wie mich macht es einen großen Unterschied, in was für eine Familie man kommt. Wenn da schon ein Plattenspieler war, ist man nur eine Steigerung. War da noch keiner (und das war in der Familie Eisenpflicht der Fall), ist man eine Sensation. Mit welcher Inbrunst hat die gesamte Familie der Kleinen Nachtmusik gelauscht – in meiner astreinen Präsentation in 45 Umdrehungen! Mit welcher noch größeren Inbrunst der Arie „Schöne Nacht, o Liebesnacht!“ Damit hörten aber die Gemeinsamkeiten schon auf. Wenn Emil sen. allein war, legte er mit Vorliebe die Arie „Sie hat mich nie geliebt!“ auf. An wen er bei „sie“ dachte, konnte ich als schlichtes Wiedergabegerät natürlich nur ahnen. War es seine Frau Vilma? Immerhin hatte sie ihm zwei Söhne geboren – kann man einem Mann zwei Söhne „schenken“, ohne ihn zu lieben, gleichsam nur als Pflichttribut der Ehelichkeit? Oder hatte Emil sen. eine große außereheliche Liebesenttäuschung erlebt? Womöglich während seiner Gefangenschaft? Vilma ihrerseits legte mit Vorliebe den Walkürenritt auf, wenn sie allein war und ihr Mann sie dafür nicht verspotten konnte, z.B. mit der Bemerkung, richtige Walkürenbeine habe sie ja schon. Sie hatte einmal Schauspielerin werden wollen, aber Ehe, Kinder und Krieg hatten ihr diese Flausen ausgetrieben. Emil liebte die Soli eines Jazztrompeters, ob er ihn wirklich so gern hörte? Oder wollte er seinem Bruder Herbert nur zeigen, was für ein kümmerliches Blasinstrument eine Blockflöte ist? Selber athletisch gebaut, machte er sich auch gern über Herberts „Streichholzarme“ lustig und dass er wie ein nasser Sack am Reck hinge, während er, Emil, schon einen halben Riesen turnte. Herbert hatte durch eine Radiosendung des NWDR, von mir auf UKW rauschfrei empfangen und wiedergegeben, die Sonatine von Ravel entdeckt, und die konnte er gar nicht oft genug hören, vor allem den ersten Satz, dessen Thema ihn nicht mehr losließ, als sei es von ihm selbst komponiert.  Dann aber betrat ein Mädchen die Szene, das die Familie Eisenpflicht fast gesprengt hätte, Elsi, eine Bauerntochter aus Rabenschlade, blond, robust, wortkarg und ein bisschen begriffsstutzig. Sie fegte, saugte die Teppiche, wusch ab, schälte Kartoffeln, aber wenn sie einmal allein war, alle Eisenpflichts waren außer Haus, legte sie eine Platte auf mich, die mein Maschinenherz fast zerriss. Die vergaß sie eines Tages auf meinem Plattenteller. Familie Eisenpflicht hörte sie sich an – und war ebenso verstört wie entsetzt von „Rock around the clock“. „Solche Klänge kommen uns nicht ins Haus!“, sagte Vilma, die blass geworden war, Emil sen. pflichtete ihr bei, die beiden Söhne aber meinten, Elsi solle Gelegenheit gegeben werden, sich zu rechtfertigen. Elsi rechtfertigte sich damit, dass alle diese Musik momentan hörten und vor allem eins täten: Danach tanzen. Wie man danach tanzen könne, wollten Emil sen. und Vilma wissen. Elsi führte es mit Emil jun. vor, dem diese Tanzstunde sichtlich Spaß machte, auch wenn er sich zu Anfang etwas linkisch anstellte, und auch Herbert ließ sich in dem ausgetüftelten Fern-Nah und Gekreisel unterrichten. Es war eine Musik, die den Gegensatz zwischen Alt und Jung erbarmungslos aufriss, aber ich, Braun SK 4 meines Zeichens, bin daran völlig unschuldig, ich versetze jede Platte in Drehung, egal, was sich in ihren Rillen verbirgt – und eine Brücke zwischen Jung und Alt deutete sich an, als Emil sen. eines Tages zugab, Elsi tanze mit der Anmut einer Russin, die ihn in Nowgorod – zu völlig anderer Musik freilich – mit dem Taschentuchtanz bezaubert habe.

Oase

Es begann nun eine andere Zeit. Mit Manfred wollte Herbert nicht zusammenspielen, warf die Blockflöte in die Ecke, wollte nur noch Ravel hören, Karla Janssen und ihr Blüthner verschwanden am Horizont. Aus der Schule kommend, folgte er Klassenkameraden, die ihn zu einer Runde am Flipperautomaten in der Oase aufforderten, begann Zigaretten der Marke Eckstein zu rauchen und Bier zu trinken, und musste sich daran gewöhnen, dass Emil ihm als leuchtendes Vorbild vor Augen gehalten wurde, der all dies nicht tat. Manfred hatte über Herbert in Umlauf gesetzt, er sei ein Stricher, und dadurch sah er sich gezwungen, sich eine Freundin zuzulegen, und obgleich ihm das wie Verrat an Gudrun erschien, fragte er Elsi an, ob sie mit ihm gehen wolle. Sie lächelte breit und verlegen und sagte dann, sie sei doch mit Holger verlobt, ob er das denn nicht wisse. Holger war ein zäher, kleiner Bursche, der die Balken, die er als Zimmermann tragen musste, als Knüppel bezeichnete – Herbert wurde klar, wie wenig er mit seinen Streichholzärmchen zu bieten hatte, überhaupt kam er sich so erbärmlich und wertlos vor, dass er sich eines Abends, mit einem dicken Mädchen namens Isabel in der Oase um die Wette flippernd – sie schlug ihn dauernd – völlig betrank und am nächsten Morgen, in ihrem Bett aufwachend, furchtbar schämte, aber sie tröstete ihn mit den Worten: „Du warst richtig gut!“, nahm ihn in ihre fleischigen Arme, küsste seine Brust, zupfte an einem ersten schwarzen Haar und sagte: „Vielversprechend!“ Obgleich er den Spott darin spürte, fühlte er sich aufgerichtet und fragte Isabel, ob sie mit ihm gehen wolle. „Ich gehe mit niemandem,“ sagte sie, und man merkte, es tat ihr leid, Herbert zu enttäuschen, „ich hatte einmal einen eifersüchtigen Freund und bin froh, ihn los zu sein, nie wieder!“ Sie war Maschinenbedienerin in der Schuhwichsefabrik „Gloria“ aus preußischer Zeit, und Herbert flipperte noch ein paarmal mit ihr und landete noch ein paarmal in ihrem Bett, hörte aber damit auf, als er wegen Schmerzen beim Wasserlassen Dr. Noor aufsuchen musste, den Himmelsteiner Hautarzt. „Wo hast du dir das denn geholt?“, fragte der Doktor, und als er den Namen Isabel hörte, lachte er: „O, dieses verflixte Gonokokkenmutterschiff! Schon seit einem halben Jahr war sie bei mir nicht mehr zur Kontrolle!“ Und zum Abschied schenkte er Herbert ein Gedichtbändchen mit der Bemerkung: „Von meinem Berliner Kollegen! Viel Spaß!“

Vilma

Was für ein süßer und strebsamer, freundlicher Junge Herbert war! Aber neuerdings entzieht er sich zunehmend unserer Kontrolle, kommt nach Hause, wann er will, gibt sein Taschengeld für Bier und Zigaretten aus und musste wegen einer unaussprechlichen Krankheit nun sogar zum Arzt … Wir Eisenpflichts erfreuten uns bis dato in Himmelstein eines makellosen Rufs, aber der ist nun dahin, denn wenn ich auch an Dr. Noors ärztlicher Verschwiegenheit nicht den geringsten Zweifel hege – Herbert sagt, das Wartezimmer sei gestopft voll gewesen, er sei mit vollem Namen aufgerufen worden, und Eisenpflicht ist nun mal kein Allerweltsname; Frau Flöl, zu der ich wegen eines Strumpfgürtels musste, fragte schon ganz beiläufig und hinterhältig, ob es Herbert wieder besser gehe. Er sei gar nicht krank gewesen, wie sie darauf komme? Sie benannte eine Dame, wenn man sie Dame nennen kann, denn sie steht in der Oase hinter der Theke, mir blieb nur, mit den Schultern zu zucken. Aber schlimmer ist noch, dass er nun mit allen anderen seines Jahrgangs in diesen Film getrieben wurde. Ich begreife nicht, dass man den 16Jährigen einen Film zumutet, der uns Deutschen wieder mal alles Böse in die Schuhe schiebt. Herbert ist völlig durch den Wind, seit er diesen Film gesehen hat, der natürlich aus Frankreich kommt, dort hat man uns schon immer gehasst. Er läuft treppauf, treppab, auf den Boden, in den Keller, durchwühlt alle Schränke, ich frage ihn, was er sucht, er sagt: „Das Kissen, das ich hatte, als ich drei war!“ Warum er das suche, frage ich ihn, und er sagt: „Weil ich glaube, dass ich Recht hatte! Erinnerst du dich nicht mehr, wie ich schrie, als ich entdeckte, dass Haare darin waren?“ Das fiel mir wieder ein, ja, es war schrecklich, was für einen Terz Herbert machte, immer zeigte er mit spitzem Fingerchen auf das Haar, das aus der Ritze des Kissens quoll, und schrie und schrie und war gar nicht wieder zu beruhigen. Ich konnte ihm tausendmal sagen, dass es Rosshaar sei, vielleicht kannte er das Wort Ross noch nicht, er hatte ein Steckenpferd, ich hätte Pferdehaar sagen sollen, er wollte partout seinen Kopf nicht wieder darauflegen, und da habe ich ihm ein anderes gegeben, und das Rosshaarkissen habe ich ausrangiert, ich glaube, es ist in den Müll gewandert, das sage ich Herbert, und Herbert sagt, er sei sicher, dass es Menschenhaar gewesen sei, er habe in dem Film einen Berg von Haar gesehen, das man den Frauen abgeschnitten habe, bevor sie ins Gas getrieben wurden, zwar nur in Schwarzweiß, nach seiner Erinnerung sei das Haar in dem Kissen brünett und es sei Menschenhaar gewesen, da sei er sich ganz sicher, deshalb habe er sich davor so geekelt, und es sei jammerschade, dass ich dies Beweisstück vernichtet hätte. Der Junge entgleitet mir, was soll ich bloß tun? Emil beruhigt mich und sagt, wir müssten uns den Realitäten stellen, aber bestimmte Realitäten, wenn es denn welche sind, lasse ich nicht an mich heran.

Der alte Eichbaum (2)

Soll ich von denen berichten, die bei Kriegsende als Fahnenflüchtige an mir aufgehängt wurden, nur weil sie sich weigerten, in einem sinn- und chancenlos gewordenen Endkampf verheizt zu werden? Oder von denen, die diese Urteile gefällt hatten und sich nun an mir aufhängten, weil sie als Komplizen eines verbrecherischen Haufens von den Siegern keine Gnade zu erwarten hatten? Nein, das ist alles zu traurig, davon schweige ich, meine Blätter rauschen und lispeln es weg, lieber freue ich mich am Gedeihen meiner Freundin, der Linde, berausche mich am Duft ihrer Blüten und beobachte die Dramen, die sich auf dem Pausenhof unter mir abspielen. Da ist ein Sportler von schön ausgebildeter Gestalt, dem zugleich der Ruf nachgeht, ein guter Klavierspieler zu sein, nun, aus ihm ist ein Casanova geworden, dieser Name ist mir aus Venedig zugeflogen, was für ein Jammer, dass die Menschen zweihäusig sind! Die Mädchen, die sich eigentlich vor ihm hüten sollten, fliegen ihm reihenweise zu, wollen von ihm und keinem anderen bestäubt werden und bilden die von Stolz und Eifersucht durchrüttelte Gruppe der vom gekörten Zuchtstier Bestiegenen. Und gekört ist er, seit er Landesmeister im Zehnkampf wurde, und nun reißen die Jungs sich darum, seine Nachfolge bei den Enttäuschten und Weinenden anzutreten, die getröstet und mit einer Treue und Zuverlässigkeit verwöhnt werden müssen, zu der er, der Vielbeneidete und Vielverhasste, nicht fähig ist. Am meisten leid aber tut mir der Junge, der meine Freundin, die Linde, einmal so schön und gerade gezeichnet hat. Nicht nur sein damaliger, so ermutigender Lehrer hat ihn verlassen, auch ein Mädchen, das er wie kein anderes angestaunt und mit den Augen verschlungen hat. Sie hat nichts von ihm wissen wollen, weil sie Schwierigkeiten genug hatte – denn sie konnte das nicht, was wir Bäume zum Glück nicht können müssen: Sprechen, und zwar fließend. Unsere Sprache erzeugt der Wind, weht er nicht, sind wir stumm, aber die Menschen müssen sie selbst erzeugen, und wenn ihnen das nicht ordentlich gelingt, werden sie verspottet, verlacht und nicht ernst genommen. Nun, sie hat trotz ihrer Sprachbehinderung die Schule mit einem sehr guten Zeugnis abgeschlossen und ist außer Landes gegangen, um zu studieren. Sie hat sich vorgenommen, Wunden heilen und Krankes herausschneiden zu können, sie will eine Chirurgin werden, und ihr Verehrer hat sich ein paar anderen Jungs angeschlossen, die wie er ein Buch lesen und aus ihm zitieren, Worte, die ich nicht verstehe, die aber ein merkwürdig raunendes Verstehenwollen in mir erzeugen:
„Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen,
und alles ballt sich zu ihm hin.“

Zwanzig Jahre später (2)

Frau Pokraka war gestorben, ich hatte viele gute Schüler verloren, aber damit fand ich mich ab, denn es kamen wieder neue, doch eine Gudrun, das war mir klar, würde ich so bald nicht wieder bekommen. Aber da geschah etwas Unglaubliches. Mit einer Flasche Rotwein in der Hand stand sie eines Julitages in der Tür, lachte übers ganze Gesicht und stellte mir die Frage: „Kennen Sie mich noch?“ Und im gleichen Moment fiel sie mir um den Hals, ja, dies war einer der schönsten Momente meines Lebens. „Natürlich, Gudrun!“ Sie wurde ernst, schob mich zurück: „Nenne mich nie wieder bei diesem Namen! Seit vier Wochen weiß ich, wer ich bin: Lea Wolf, die Tochter von Glückl!“ Ich war so perplex, dass ich zurückwankte in die Bibliothek und wie angeschossen aufs Sofa sank. Sie setzte sich neben mich, stellte die Weinflasche auf den Sofatisch neben die Salzstangen und sagte, nun wieder lächelnd: „Hast du es denn nicht geahnt? O, jetzt habe ich dich geduzt, darf ich beim Du bleiben? Du nickst … Habe ich nicht mehrfach das dritte Bein des Blüthner umarmt? Was hast du gedacht, warum ich das tue?“ „Ich hielt es für eine Huldigung an das Instrument, auf dem du so brillant warst!“ „Ich war zwei, als Glückl mich weggab, weggeben musste, um sich selbst zu retten, hier, in dieser Wohnung war ich klein gewesen, an den schwarzen Beinen des Flügels habe ich mich aufgerichtet, von ihnen aus erste Schritte gewagt … Ich konnte sie nicht ansehen, ohne Dank und Zärtlichkeit zu empfinden.“ Ich war so erschüttert, ich musste mich an etwas Praktisches klammern, ich ergriff die Weinflasche, ging damit in die Küche, entkorkte sie und, schrecklich, mein erster Gedanke war: Muss ich hier jetzt ausziehen? Das Haus an seine wahre Eigentümerin zurückgeben? Mit der entkorkten Flasche und zwei Gläsern kehrte ich zu Lea zurück, sie war an den Flügel gegangen und spielte Bachs Erste Invention … Ich hörte ihr zu, dann umarmte ich sie und murmelte: „Lea … Lea Wolf. Glückls Tochter … Unfassbar!“ Dann goss ich uns ein, wir prosteten einander zu und sie sagte: „Masel tov!“ Und ich: „Mein Haus ist dein Haus!“ Sie lächelte ein herrliches, erlöstes Lächeln, küsste mir die Hände und sagte: „Hände – wie von Elly Ney!“ „Vergleiche mich nicht mit ihr. Führerhörig wie sie bin ich nie gewesen. Aber sag mir – wie kommt ein derart fanatischer Nazi wie dein Vater dazu, ein jüdisches Mädchen zu retten?“ „Ich war seine Rückversicherung. Er war fanatisch, aber auch schlau. Er wusste, dass es schief gehen konnte – und dass ich dann gut zu gebrauchen war. Und so ist es auch gekommen. Die Pfadfinder haben Druck gemacht, sie wollten nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten – weil er sie zu paramilitärischen Übungen zwang und Lieder wie ‚Jenseits des Tales standen ihre Zelte‘ singen ließ– von einem Textdichter, der ihrem Liebling Gottfried Benn das Leben zur Hölle gemacht hat. Die obere Kirchenleitung wollte ihn loswerden – da hat er mich als seinen letzten Trumpf aus dem Ärmel gezogen.“ Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. „Soll ich Herbert Eisenpflicht anrufen, damit er mit uns feiert?“ „Er weiß es schon. Er ist doch bei den Pfadfindern und hat herausgefunden, wer Börries von Münchhausen war.“ Und dann kam eine Bitte, die ich meiner Lieblingsschülerin nur allzu gern erfüllte: „K-k-kann ich bei dir bleiben, Karla? Ich möchte zu meinen Eltern nicht zurück.“ So hatte ich Lea Wolf, ehemals Gudrun Westfal, für die Dauer ihres Studiums als neue Mieterin. Ihre Miete: Monatlich ein 50-Pfennig-Stück, das mit der Gärtnerin, die eine Eiche pflanzt.

Lea

Lieber Herbert, Pastor Westfal ist ein Feigling. Er hat es mir nicht mal selber gesagt! Vorm Disziplinargericht ist er damit herausgerückt, dass er mich bei sich aufgenommen hat – und dass ich jüdisch bin. Meine unterm Parkett versteckte Geburtsurkunde hat er vorgelegt. Der Effekt ließ nicht auf sich warten: Die Untersuchung gegen ihn wurde eingestellt. Die Unterstellung, er sei ein Nazi, ein Wolf im Schafspelz, sei angesichts dieser Tatsache eine Absurdität. Ich bin zerrissen zwischen Dankbarkeit, denn ich konnte bei ihm aufwachsen – und Hass – denn er gehörte zu denen, die meine Eltern und Großeltern ermordet haben – nicht ohne ihnen vorher noch furchtbare Leiden zuzufügen. Aber das Schlimmste ist der Sturz hinaus aus einer christlichen Glaubenswelt in ein jüdisches Universum, das mir fast völlig unbekannt ist. Juden, an die ich mich wenden könnte, gibt es in Himmelstein und an der Uni keine; aber Klara hat mich bei sich aufgenommen – in das Haus, das meiner Familie einmal gehört hat. Ich habe zu Jesus Christus, Gottes Sohn, beten gelernt, der von den Juden ermordet wurde – und jetzt gehöre ich dem Volk seiner Mörder an. Haben sie denn nicht vielleicht mit Recht dafür gesorgt, dass er hingerichtet wurde – weil er ein Aufrührer war, der den Widerstand gegen die Besatzungsmacht schwächte? Mit solchen Überlegungen schlage ich mich herum – und verbringe viele Stunden in der Bibliothek, aber das macht mich nur noch ratloser. Zum Glück habe ich Dich, lieber Herbert. und Du rätst mir immer wieder: „Kümmere dich nicht um die Religion! Nicht Gott hat den Menschen, sondern der Mensch hat Gott erschaffen. Es gibt nur einen, der die Wahrheit gewusst und ausgesprochen hat: Baruch Spinoza. Er hat die Natur mit Gott gleichgesetzt. Dafür ist er aus seiner jüdischen Gemeinde verstoßen worden.“ Das ist es, was du mich lehrst, und ich wünschte mir nur, Du beließest es dabei, aber ich sehe in Deinen Augen einen Hunger, der mir Angst macht und der alles zwischen uns zerstören könnte. Ich kann Dich nicht lieben, ich weiß ja kaum noch, wer ich selber bin! Ich fliege in den Semesterferien nach Tel Aviv, da lebt Walter Koch, ein entfernter Vetter, von diesem Besuch erhoffe ich mir eine Festigung in meiner neuen Identität, vor allem will ich Ivrith lernen – aber ich kehre zurück und wir spielen wieder zusammen, Karla Janssen  hat gesagt, der Graf von Ostost möchte uns spielen hören – stell Dir vor, wir beide im Rittersaal seiner Burg auf dem Himmelstein! Ich freue mich drauf – Lea Wolf

Die Juweleninsel

Die Aufführung von „Nacht und Nebel“ im Kino „Harmonie“ hat in Himmelstein ein wütendes Schweigen ausgelöst, denn wenn die Himmelsteiner auch nicht antisemitischer sind als der Durchschnitt derer, die sich mal Arier nennen ließen, haben sie doch gern und schnell zugegriffen, als sich zeigte, dass sie aus der Deportation ihrer jüdischen Mitbürger durchaus Vorteile ziehen konnten, und sogar die kluge und verehrungswürdige Karla Janssen wohnt, wie mir Herbert berichtet hat, im Haus einer Familie Wolf, deren Schicksal unbekannt ist. Sie und das gute Dutzend anderer, die ihr Haus unter Wert von Strohmännern „gutgläubig“ erworben haben, fürchten nun, dass dieser Erwerb angezweifelt werden könnte, und verschanzen sich sorgenvoll in ihrem Besitz. Hinzukommt, dass ich die Himmelsteiner, eine kernige Mischung aus sächsischen und fälischen Bauern, gegen mich aufgebracht habe durch meinen Hinweis darauf, dass hier einmal Wenden zu Hause waren. Ich sprach mit unserem Buchhändler über die Lage und beklagte, dass Himmelstein in der Literatur nur so geringfügige Spuren hinterlassen habe, ob er nicht Texte kenne, die das zerkratzte Selbstbild der Himmelsteiner ein wenig restaurieren könnten. Er senkte betrübt seine erstaunlich beweglichen Ohren – aber dann richtete er sie plötzlich auf und sah mich freudig an: „Ich glaube fast, meine liebe Frau könnte da hilfreich sein. Sie hat ein zerlesenes Bändchen aus dem vorigen Jahrhundert, und darin ist von Himmelstein die Rede, und für sie, so sagte sie, war dieses Romänchen mit dem Titel ‚Die Juweleninsel‘ sogar einer der Gründe, der Werbung eines Himmelsteiners durchaus aufgeschlossen gegenüberzustehen. Meine Frau ist eine geborene Lieberwirth aus Kötzschenbroda, Tochter eines früheren Strumpffabrikanten, der sich seit seiner Enteignung ein kümmerliches Leben als Tänzer des Balletts der Semperoper verdient. Aber da kommt sie ja – sie kann es Ihnen selber erzählen!“ Die Türglocke klingelte und die reizende Minna trat ein – was für eine hübsche Frau – und geschmackvoll und kühn in ein rotgeblümtes Sommerkleid mit Bolerojäckchen und einem kecken Hütchen gekleidet. „Stell dir vor, ich habe der Bäckersfau vorgeschwärmt von unserer Eierschecke, die es hier nicht gibt, und nun soll ich ein Probeblech für sie backen, sie will sehen, wie sie bei den Himmelsteinern ankommt. Grieße Sie, Herr Eisenpflicht, Sie sind sicherlich der Vater von dem jungen Einstein!“ Nun, ich gebe zu, in Himmelstein wird über Minna Lademann gelästert, sie sei ein billiges Mitbringsel aus der Zone – das ist sie keinesfalls, sie ist eine bemerkenswerte Frauenpersönlichkeit, und ich bin gespannt, ob sie das zerlesene Romänchen mitgebracht hat!

Schach

Die Oase und das Flippern mied Herbert, aber für die Schule zu arbeiten, gefiel ihm auch nicht, obgleich es verdammt nötig gewesen wäre, denn die Abiturprüfung rückte immer näher, er hätte eine Charakteristik von Hektor schreiben müssen, aber Hektor war ihm Hekuba, und so beschloss er, nachdem er im Gasthof zum Bären Schachspieler beobachtet hatte und fasziniert war von ihrer schweigenden Versenkung in Abläufe, die er nicht verstand, Schachunterricht bei Herrn Kalkar in der Höllenmühle zu nehmen, einer alten Wassermühle, die in einen Jugendtreff umgewandelt worden war, nachdem sie achtzig Jahre leer gestanden hatte, weil das Getreide aus Wirtschaftlichkeitsgründen in die Dampfmühle neben der Schuhwichsefabrik zum Mahlen gebracht wurde. Das gewaltige alte Räderwerk, die gigantischen Mühlsteine waren immer noch zu besichtigen, aber nun waren Tische in den halbdunklen Arbeitsräumen aufgestellt, und Inspektor Kalkar, beruflich als Ermittler in Betrugsfällen im Polizeipräsidium tätig, führte in das von ihm virtuos beherrschte Schachspiel ein. Wie gut er es beherrschte, war zu ersehen aus seinem Titel als Himmelsteiner Stadtmeister, den er souverän mit acht Siegen gegen seinen Vorgänger erobert hatte – und er begann mit der Eröffnungslehre. Herbert verbiss sich in die Spanische Eröffnung, die ihm auf ähnliche Weise gefiel wie die Sonatine von Ravel: Aus rätselhaften Gründen schien sie seinem Charakter nicht nur zu entsprechen, sondern ihn geradezu abzubilden. Der kühne Läuferzug, der den gegnerischen Springer fesselt, begeisterte ihn, dann mit Hilfe der Rochade und eines unauffälligen Turmzugs dem Schwarzen die Dame abzuluchsen, gelang ihm immer wieder, und als der Exstadtmeister einmal dabei zusah, knurrte er: „Der Junge hat Talent, Kalkar, den merken wir uns!“ – und bald schon saß auch er abends bis in die Puppen im Gasthof zum Bären und rang mit einem alten längst pensionierten einäugigen Studienrat, der einen ganzen Strauß tückischer Züge in petto hatte. Z.B. Herbert spielte den Königsbauern und freute sich auf den Läuferzug, aber der alte Engelbrecht ließ minutenlang seine welke Hand über dem Brett rütteln, und Herbert sah sich plötzlich der Jagdvariante eines Russen namens Aljechin ausgesetzt, von dem Engelbrecht sagte: „Er hat uns auch in schlechten Zeiten die Stange gehalten und sich klar gegen die Verjudung des königlichen Spiels in Stellung gebracht!“, und dabei nahm er das Glasauge heraus, putzte es und drückte es in die Höhle zurück. Im Bären wurde nicht weniger Bier getrunken und geraucht als in der Oase, auch Engelbrecht bot ihm einmal, als es drei Uhr morgens war, sein Bett an, aber Herbert schaffte es mit knapper Not in sein eigenes, nicht ohne, an der wolfschen Villa vorbeikommend, zu sehen, wie der große Blüthner trotz der nachtschlafenen Zeit in einen Speditionslaster gewuchtet wurde. Zu seiner Überraschung entdeckte er, dass sein Vater ebenfalls Schach spielte; in Nowgorod hatten sie Schachfiguren aus Zeitungspapier mit Spucke zusammengepappt, später mehrfach mit anonymen russischen Meistern simultan gespielt, auf einem Zeitungsfoto habe er einen von ihnen erkannt: „Es muss Botwinnik gewesen sein, der jetzige Weltmeister, die Stirnglatze, die starken konkaven Brillengläser. Keine Ahnung, warum er uns beehrte; ich nehme an, er hoffte auf Nuggets, das sind abseitige Zugideen, wie sie nur Amateure hervorbringen.“

Das Flugblatt

Öffentliche Lesung mit Musik

„Himmelstein“ von Karl May
Ein apokrypher Text aus seiner Jugend
Es liest: Minna Lieberwirth aus Kötzschenbroda
Wissenschaftliche Begleitung: Karl Lademann
Es spielt auf dem Blüthnervon 1922: Karla Janssen
Musik: Sonatine von Ravel
Ort: Rittersaal von Burg Himmelstein
Zeit: 11. August 19.30 Uhr
Alle sind willkommen! Platz ist genug!
Es lädt ein: Graf Ludolf von Osten
Spenden sind willkommen!

Ich, Ludolf von

Das Lazarett von Mariupol ist es, das uns gelegentlich zusammenführt. Vater hat dort gelegen, nachdem er mit seiner treuen Lotte auf eine russische Kastenmine geritten ist, Kustos Eisenpflicht hat seinen Beinbruch dort ausgeheilt und Vater, ungleich schwerer betroffen, war sein Bettnachbar, so dass Eisenpflicht mir seine letzten Worte überbringen konnte: „Lies Karl May!“ Waren das wirklich seine letzten Worte? Hat er nicht vielleicht „Spiel Schalmei!“, gemurmelt? Denn die Schalmei war sein Lieblingsinstrument. Ich habe die Werke des sächsischen Vielschreibers durchforscht und unterhaltsame Spannung gefunden, aber nichts, worauf er sich bezogen haben könnte oder was mich besonders betraf. Und nun überbringt Eisenpflicht mir eine Schilderung Mays von meinem Domizil, die so zutreffend ist, dass ich sie publizieren muss – aber wo? Im Himmelsteiner Volksfreund? Das genügt nicht – sie muss öffentlich verlesen werden, aber von wem? Von Gustav Gründgens, der schon mehrfach mein Gast war und mit unglaublichen Rezitationen glänzte? Er rief zurück, er habe keine Zeit, er sei mit der Rolle des Mephisto so ausgelastet, dass er leider absagen müsse. Und die Flickenschildt? Von dieser maßlos überschätzten Selbstdarstellerin will ich mir keinen Korb holen. Aber Eisenpflicht hat eine Alternative: Warum nicht die Buchhändlersfrau, die das vergessene Jugendwerk Mays entdeckt hat? Minna spricht kein akzentfreies Hochdeutsch, aber sie ist Sächsin wie May – und außerdem, wie ich mich in der Buchhandlung habe überzeugen können, eine reizende Person; allerdings zierte sie sich lange, und erst nachdem ich sie einmal durch mein Gemäuer geführt und ihr gezeigt habe, wie der allgegenwärtige und fortschreitende Verfall mich drückt, da ich ständig ausbessern, retten, stützen und mit Mauerankern befestigen lassen muss, hat sie erkannt, dass sie mir einen Gefallen tut, wenn sie einen Beitrag leistet zu einer Veranstaltung, die sicherlich einiges an Spenden einbringen wird, zumal es mir auch gelungen ist, für musikalische Begleitung zu sorgen: Zwar leider nicht von der Himmelsteiner Schalmeienkapelle, denn die sind alle gefallen, aber Karla Janssen wird Ravel spielen auf ihrem Bechstein – nein, um Himmels willen, auf ihrem Blüthner – denn der Name Bechstein ist … Lassen wir das! Wie gut, dass ich zu spät geboren bin, um Nazi zu werden, sonst wäre ich jetzt womöglich Gauleiter von Böhmen/Mähren, habe es zum Glück aber nur zum Flakhelfer gebracht, und dann war es aus mit der Ganovenbande, die sich so blendend mit Idealen tarnte!

Minna Lieberwirth

Wie ich den Text entdeckt habe, hat Karl Lademann erzählt, und er hat auch nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass wir ohne die Juweleninsel wohl nie zusammengefunden hätten. Als ich die Lehre zur Strickerin in Papas Firma begann, langweilte ich mich unsäglich und las alles, was mir an Gedrucktem unter die Augen kam. Auf dem Dachboden in Kötzschenbroda fand ich viele, teils sehr gewagte Fotos bestrumpfter Frauenbeine, weniger gewagte wohlbesockter Soldatenfüße, aber auch einen Stapel alter Zeitschriften, darunter ein gebundener Jahrgang „Für alle Welt“ und darin eine Fortsetzungsgeschichte, die mir so gut gefiel, dass ich sie herausriss und in einer Mappe zusammenheftete. Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Burg Himmelstein wirklich existiert, und nun im prachtvoll von dem Dänen Eckersberg ausgemalten Rittersaal dieser Burg verlesen zu dürfen, wie unser Karl May, der sie wie alles, was er in seinen Büchern schreibt, nie gesehen hat, sie aber dermaßen treffsicher wiedergibt, dass man sie förmlich vor Augen sieht, das ist ein Wirklichkeit gewordener Traum! Ich begann:
„Mitten in der weiten Ebene erhebt sich ein vielfach zerklüfteter, aus gewaltigen Basaltmassen bestehender Berg, welcher mit seinem Haupte hoch in die Wolken ragt und seine Füße weit in das Land hineinstreckt, wie ein vom Himmel gefallener Titane oder ein aus dem Innern der Erde emporgeschleuderter riesiger Cyklope, der nun seit Jahrtausenden im Schlummer liegt, um von den gigantischen Kämpfen auszuruhen, die ihn vom Olympos stürzten oder aus dem Orkus an das Tageslicht hervorgetrieben haben.“
Hier unterbrach ich mich erstmals, tupfte mir die Stirn mit einem Tempo und sagte: „Bitte entschuldigen Sie meine Aussprache, aber es ist diejenige des Autors dieses Textes, es ist diejenige Karl Mays, meines über alles geliebten und zu Unrecht vielgeschmähten Landsmanns.“ Und dann fuhr ich fort:
„Auf seinem Gipfel stand seit uralten Zeiten eine Burg, die den Namen Himmelstein führte. Sie wurde niemals erobert und zerstört, denn ihre Lage machte sie vollständig uneinnehmbar. Aber der Zahn der Zeit nagte unaufhaltsam an ihren Mauern, und als sie in den Besitz des königlichen Hauses kam, war es nothwendig geworden, sie von Grund auf zu renoviren, wobei ihre Einrichtung in jeder Beziehung den Ansprüchen der neueren Zeit angepaßt wurde. Jetzt gehörte sie als Privateigenthum dem Prinzen Hugo, der ‚tolle Prinz‘ genannt.“
Hier erhob sich Graf von Osten und rief lachend: „Er kann nur meinen Urgroßvater gemeint haben, Hugo von Osten, der ein notorischer Schürzenjäger, der aber auch nie mehr als ein Graf war, das königliche Haus müssen wir Karl Mays überschwänglicher Phantasie zugute halten.“
Jetzt spielte Lea Wolf, die überraschend aus Israel zurückgekehrt und an Karla Janssens Stelle getreten war, den ersten Satz der Sonatine von Ravel, nur 20 Jahre nach der Juweleninsel komponiert. Was für eine zu Herzen gehende, in ihrer raffinierten Einfachheit fast kindliche Musik! Beifall rauschte auf, und ich, schon ganz dutzsch von der Begeisterung meines Publikums, fuhr fort:
„Tief unten am Fuße des Berges liegt zwischen üppigen Feldern und grünenden Hainen, die sich langsam zur Höhe ziehen, ein kleines schmuckes Städtchen (Beifall), einst den Rittern und Kämpen da oben zu Lehn gehörig und auch jetzt noch unter der direkten Botmäßigkeit des alten Schloßvogtes stehend, der seinem gegenwärtigen Herrn außerordentlich treu ergeben ist, von seinen Untergebenen aber mehr gehaßt und gefürchtet als geehrt und geliebt wird.“
Erneut griff der Graf ein und beteuerte, dass sein jetziger Verwalter, Herr Wohlgemut, sich uneingeschränkter Beliebtheit erfreue. Beifall.
Nun spielte Lea Wolf den zweiten Satz der Sonatine, und der junge Eisenpflicht blätterte um. Wieder ganz großer Beifall, unterbrochen nur von Zwischenrufen eines alten Herrn, der sich erhob und anfing, vom Ersten Weltkrieg zu schwadronieren, vom Erbfeind, und dass Ravel ein Franzmann sei wie derjenige, der ihm ein Auge ausgeschossen habe, und dabei nahm er ein Glasauge heraus, wurde von meinem Mann aber hinausgeführt. Und ich las weiter vor:
„Wenn man von diesem Städtchen ostwärts geht, gelangt man in eine tiefe enge Schlucht, durch welche sich ein wildes Wasser rauschend Bahn gebrochen hat und das Rad einer Mühle treibt, die wie ein Schwalbennest an den steilen Felsen hängt. Die Umgebung der einsamen Mühle ist mehr als romantisch, sie ist schauerlich. Die Schlucht heißt die Höllenschlucht, und darum darf es nicht Wunder nehmen, daß man die Mühle die Höllenmühle genannt hat. Das Schloß heißt Himmelstein, daher sagt der Städter oder der ländliche Bewohner der Umgegend, wenn er den Berg besteigen will, er wolle „zum Himmel“ empor; will er dagegen sein Korn zur Mühle bringen, so meint er: ‚ich gehe in die Hölle.'“
Gelächter folgte, dann der dritte Satz der Sonatine, an dessen Ende der junge Eisenpflicht sich vor Lea Wolf hinkniete und ihr unter brausendem Beifall die Hand, nein, die Hände küsste, es sah fast aus, als mache er ihr einen Antrag.
Erfolg haben ist so eine Sache. Man nimmt gar nicht mehr wahr, was ringsum vor sich geht, was es an Pracht und großer Geschichte zu bewundern gibt. Es trägt dich einfach empor, alle wollen dir die Hand drücken, wollen mit dir anstoßen, und es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als strahlend ringsum zu blicken, Händedrücke herzhaft zu erwidern und verdammt genau aufzupassen, dass du nicht zu viel von dem sprudelnden Zeug in dich hineinschüttest und irgendwann die Kontrolle verlierst. Ich habe Papa oft zu den Premierenfeiern begleitet, Schwanensee, Nussknacker, jedes Mal gab es Krimsekt und dazu eimerweise Kaviar. Der hat mir hier gefehlt, es gab nichts weiter als diese ekelhaften Salzstangen, und deshalb war ich zum Schluss beschickerter, als gut ist, ich habe es lustig gefunden, im Stil der Roten Hilde auf die Kapitalisten zu schimpfen, die fett und faul in den Häusern ihrer deportierten Mitbürger hausen, und von mir sagen, ich sei doch nur ein ‚billiges Mitbringsel aus der Zone‘ – das hat mich bestimmt gleich wieder einen Teil der Sympathien gekostet, die mir die Lesung eingebracht hatte, und dann habe ich mit einem schwarzbärtigen Herrn auch noch langsamen Walzer getanzt, an dem riesigen Bartschlüsselbund, das er in der Hosentasche trug, hätte ich in ihm den Bürgermeister erkennen sollen, der uns zu Beginn ja feierlich begrüßt hatte, zum Glück hat mein lieber Mann mich schnell in seinen DKW und dann ins Bett verfrachtet.

Lea (2)

Ich gestehe, dass Eier in Senfsauce nicht mein Lieblingsessen sind, Shakshuka, wie ich es in Tel Aviv bei meinem Vetter bekommen habe, ist mir lieber, aber die Senfeier, die ich bei Eisenpflichts gegessen habe, haben mir doch sehr gut geschmeckt …  Woran lag es wohl? An den Kerzen, die in blank geputzten Messingleuchtern auf dem Tisch standen? An Herberts anbetenden Blicken eher nicht, ich hätte mir einen etwas weniger ergebenen Verehrer gewünscht, ich glaube, es war sein Vater, der so amüsant aus seinem Leben erzählte (wie er in Russland auf Bäume gestiegen ist und den Krähen die Eier unterm Bauch weggeklaut und auf der Stelle ausgeschlürft hat, um nicht zu verhungern), aber noch besser gefiel mir Emil jun., Herberts Bruder, der, als er ein Glas Riesling intus hatte und merkte, dass mich seine Planetenbeobachtungen mit dem Spiegelteleskop, das er sich selbst gebaut hatte, interessierten, anfing, mir die Relativitätstheorie zu erklären, die ich noch nie begriffen habe, und zum ersten Mal habe ich ein bisschen was begriffen durch den Vergleich mit einem gespannten Tuch, auf dem eine Billardkugel (Sonne) liegt, die dadurch, dass sie durch ihre Schwere das Tuch nach unten drückt, andere, kleinere Kugeln (Planeten) in eine spiralige Umlaufbahn zwingt – und das ist der gekrümmte Raum! Nun ja, das ist wohl sehr laienhaft, was ich da erzähle, aber seine kurzsichtigen Augen strahlten so begeistert durch die starken Brillengläser, ich war richtig ergriffen von diesen Zusammenhängen, die meinen Verstand doch weit übersteigen! Die Mutter freilich ist mir auf die Nerven gegangen mit ihren ständigen Hinweisen darauf, dass sie in einer jüdischen Familie als Kindergärtnerin gearbeitet hat, dass dort zwischen Milch- und Fleischgeschirr unterschieden wurde, und dann sagte sie die Beracha auf, die zum Beginn des Schabbes gesprochen wird, und zwar in Hebräisch: „Baruch ata adonaj,“… Das war mir alles etwas zu plakativ, als ob sie etwas beweisen wolle damit. Als ich sie fragte, was aus dieser jüdischen Familie geworden sei, zuckte sie die Achseln, darum habe sie sich im Krieg als Mutter zweier kleiner Söhne unmöglich kümmern können. Und zum Schluss verriet mir der alte Eisenpflicht noch, dies sei kein gewöhnliches Mittagessen, sondern eins, das von seinem Vater und Großvater und Urgroßvater immer am 11. August eingenommen worden sei, es sei wohl der Geburtstag des Stammvaters, der vor hundert Jahren mit einem Koffer voller Litzen, Spitzen, Gummibänder aus der Bukowina gekommen sei und es in Dortmund zum Textilkaufmann gebracht habe. Und stell dir vor, Karla, ich bin gleich fertig mit meinem Bericht, ich habe in der Uni-Bibliothek ein altes Verzeichnis jüdischer Namen gefunden und darin den Namen Eisenpflicht, und der wurde zurückgeführt auf die oft nicht sehr wohlwollende Namensverleihung in Österreich-Ungarn an Juden, und wenn nun gerade einer Eier, Senf und Lichter im Sack gehabt habe und nicht recht wusste, wie er heißen wollte, dann wurde er Ei-Senf-Licht genannt und hat in späteren Jahren, um sich nicht allzu sehr für den lächerlichen Namen schämen zu müssen, den Buchstaben p hineingeschmuggelt, zugleich vielleicht in der Hoffnung, als einer, der eisern seine Pflicht tue, besonders deutsch zu erscheinen, denn die Deutschen sind ja nun einmal das Volk der Pflichtbewussten, selbst wenn ihnen Verbrechen befohlen werden.

Herbert (2)

Im Schachclub in der Höllenmühle zupfte Inspektor Kalkar mich am Ärmel, zog mich zu einem abseits liegenden Mühlstein von mindestens drei Meter Durchmesser, auf den er sich setzte. Er hatte offenbar ein Anliegen. Wollte er mich fragen, ob ich zur Stadtmeisterschaft antreten würde? Ich hatte mich in den geschlossenen Partien sehr gesteigert und hätte es mir zugetraut. Aber er wollte ganz etwas anderes wissen: Ob ich ihm was zu einer bestimmten Kanadierin sagen könne, die in Himmelstein aufgetaucht sei und große Beunruhigung unter den Bürgern, darunter vielen Geschäftsleuten, auslöse: Felicity Green. Sie habe im Gasthof Zum Bären eine Suite belegt und habe angeblich ein Verzeichnis aller Häuser dabei, die ehemals Himmelsteiner Juden gehört hätten. Und da Mr. Green, ihr Begleiter und Ehemann, „lawyer“ als Beruf angegeben habe, müsse man Schlimmstes befürchten. Wenigstens zwölf Häuser in Himmelstein, die meisten in vorzüglicher Lage, seien einmal jüdisches Eigentum gewesen, gehörten heute aber unbescholtenen Bürgern, die ihr Haus in dunklen Zeiten juristisch einwandfrei gekauft hätten und sich auf die von Deutschland an Israel geleistete Wiedergutmachung berufen könnten, nun aber befürchten müssten, in endlose Rechtsstreitigkeiten verwickelt zu werden, man wisse ja schon aus Shakespeares Kaufmann von Venedig, wie zäh, um nicht zu sagen: wie grausam diese Leute ihr Recht zu verfolgen wüssten. Ich war konsterniert: Wie kam Herr Kalkar dazu, mich in dieser Sache zu befragen? Ich dachte sofort an Karla Janssen, war aber sicher, dass sie nichts zu befürchten hatte, ja, dass sie ihr Haus gern und je eher desto besser an seine ursprünglichen Eigentümer zurückerstatten würde. Ich zuckte also nur hilflos mit den Schultern und sagte, da habe er, Kalkar, sich an den Falschen gewandt, ich hätte keinerlei Ahnung, wer diese Kanadierin sei und was sie vorhabe, höre von ihr auch durch ihn zum ersten Mal. Er sah mich nachdenklich an und sagte dann, maliziös lächelnd: „Hast du Lea Wolf nicht bei der Lesung auf Burg Himmelstein die Hände geküsst?“ „Was hat das mit der Kanadierin und ihrem Anwalt zu tun? Ich habe den Händen gehuldigt, die so beeindruckend Ravel gespielt haben.“ „Wir haben Grund zu der Annahme,“ fuhr der Inspektor fort, „dass es sich bei Felicity Green um niemand anderes handelt als um Glückl Wolf, die Mutter von Lea, mit der du befreundet bist.“ „Aber ihre Mutter ist nach einem vergeblichen Versuch, nach Kuba auszureisen, nach Europa zwangsweise zurückgekehrt, und ihre Spur verliert sich in Belgien.“ „Hat Lea gar nichts von ihr? Kein Bild, kein Andenken? Denn es lässt sich nicht völlig ausschließen, dass sich eine Betrügerin an uns bereichern will … Wir werden Mutter und Tochter einander gegenüber stellen müssen.“ „Das dürfte schwierig werden. Lea ist in Israel und hat dort geheiratet.“ „Gut, Herbert, entschuldige. Lass uns eine Partie spielen! Aber ich warne dich vor der Spanischen. Die kann ich besser als du!“

Die alte Buche

Endlich lässt man mich zu Wort kommen, obgleich ich hier schon so lange stehe und ganz genau weiß, wer alles bei Karla Janssen Unterricht genommen hat, und auch der Geruch nach angebrannten Bratkartoffeln hat mich schon verwöhnt, und den Türkischen Marsch habe ich bestimmt hundertmal mit demselben Fehler gehört. Aber nun soll die Säge an mich gelegt werden, weil ich zu viel Schatten auf das Haus werfe, das Mauerwerk werde feucht, es röche nach Schimmel, Salpeter blühe aus, ja, von Mauerfraß redet der Propst, der das Haus kaufen will. Karla ist ins Altersheim gezogen, sie kam allein nicht mehr zurecht. Da hilft es mir nicht, dass ich als Denkmal unter Naturschutz gestellt wurde – im Kampf zwischen Ideal und Profit, wer gewinnt da wohl immer? Und dabei hat Karla das Haus ihrer Schülerin Lea vermacht, aber der Propst hat diese letztwillige Verfügung angefochten: Karla sei nicht mehr im Besitz ihrer geistigen Zurechnungs- und Geschäftsfähigkeit gewesen, als sie sie verfasste, und da sie keine Erben habe, falle das Haus an den Fiskus, der es nur zu gern an einen verdienten Himmelsteiner verkaufe, der kürzlich sogar Ehrenbürger der Stadt geworden sei. An ihm sei es zu entscheiden, ob er das Haus an seine Adoptivtochter Gudrun weitergebe, die sich seit der Entdeckung ihrer Herkunft Lea nenne, Deutschland aber den Rücken gekehrt habe und nach Israel ausgewandert sei. Shlomo Grünfeld war es, der mich in dänischer Zeit pflanzte, als Himmelstein frei für und nicht von Juden war, seine Tochter Salka heiratete Siegfried Wolf, und seitdem hat das Haus und meine Knorrigkeit immer einem Wolf gehört. Einen großen Schatten werfe ich schon lange, aber von Mauerfraß und Salpeter war nie die Rede. Lebewohl, lieber Westwind, der du so sanft und verschwenderisch deine Schauer über Himmelstein treibst, deine Böen haben mich immer beflügelt zu den schönsten Träumen vom Baumhimmelparkwaldforst, wo unsereins so alt werden darf, bis er von allein umfällt wie meine Herrin Karla Janssen, die sich zum Schluss nur noch fortbewegte, indem sie sich von einer Wand abstieß, schnell zur gegenüberliegenden trippelte und an ihr Halt suchte …

Danke, KI!

Lea (3)

Liebe Karla Janssen, die Angst, es könnte Dich gar nicht mehr geben, lässt mich zittern, während ich dies in eine der halbautomatischen Maschinen tippe, die bei uns in der Redaktion in Mode gekommen sind. Als ich nach Israel zog, habe ich absichtlich alle Brücken hinter mir abgebrochen und mir geschworen, nie ins Land derer zurückzukehren, die meine Eltern in Unglück und Tod  getrieben haben, und nun, ich falle mit der Tür ins Haus, will ich es doch, sitze hier nämlich mit zwei kleinen Mädchen, Glückl und Salka, der Journalist, der mein Mann ist, wurde bei einer Demonstration in Gaza erschossen, und Deutschland erscheint mir als Paradies, verglichen mit diesem zu seinem Unglück nicht zur Ruhe kommenden Staat, der unter seinen Nachbarn keine Freunde hat und findet. Aber sucht er sie? Ich brauche kein Geld, ich erhebe auch keinen Anspruch auf das schöne Haus meiner Eltern, das Dir gehört, nur erst einmal, vielleicht für ein paar Wochen bei Dir wohnen, das möchte ich. Du warst mir mehr Mutter als die verbitterte Frau Westfal, bei der ich aufwuchs und beten lernte zu einem Gott, der meiner nicht ist. Du hast mich schon einmal bei Dir aufgenommen, als ich erfahren hatte, dass mein Name nicht Westfal ist, sondern Wolf – aber ich rechne nach: Du musst inzwischen weit über Achtzig sein, Gott gebe, dass Du noch lebst und gesund bist. Deine Telefonnummer kann ich nicht herausfinden, das beängstigt mich. Die meine ist 970-xyxyxyxyxyxy, aber auch wenn Du mir nicht antwortest, ich setze mich in einer Woche mit den Mädchen in den Flieger nach Frankfurt. Ich umarme Dich und küsse Deine wunderbaren Hände – Lea.

Ich, Ludolf von Osten (2)

Hätte ich gewusst, worauf ich mich einließ, ich hätte es mir vielleicht anders überlegt und das gleichsam vom Himmel gefallene Kreditangebot nicht angenommen. Aber die Bedingungen waren so vorteilhaft, die Feuerversicherung so knauserig, dass ich kurzentschlossen unterschrieb, zumal die Himmelsteiner Darleihkasse, meine Bank, auch nur Gutes über den Kreditgeber sagen konnte, den Makler Harry Green aus Winnipeg, Manitoba. Und als er dann auch noch zusagte, selbst hierher zu kommen, um das Projekt, in das er investiere, persönlich in Augenschein zu nehmen, freute ich mich und hoffte auch zu erfahren, warum er sich für den Wiederaufbau der Ruine interessierte, in die der Blitz, der am 14. Mai in den Palas einschlug, meinen Stammsitz verwandelt hatte. Ich holte ihn vom Flughafen ab; er kam zu meiner Überraschung nicht allein, sondern in Begleitung seiner Frau, deren Schweigsamkeit mir auffiel – aber sind Frauen erfolgreicher Geschäftsleute nicht oft sehr zurückhaltend in dem Gefühl, nur dekorative Anhängsel zu sein? Und dekorativ war sie, diese Mrs. Green, ganz in ein blaues Schlabberkleid gehüllt, mit blau verspiegelter Sonnenbrille und blau gefärbtem Haar … Zu meiner Überraschung wies sie mich darauf hin, dass ich auf einem Umweg nach Himmelstein hineinfuhr – sie kannte die kürzere Verbindung, die aber wegen einer Baustelle nur eingeschränkt befahrbar war. Ich hatte im Gasthof Zum Bären für sie reserviert. Dort setzten wir uns auf ein Glas noch zusammen, und hatte ich vorher Sorgen gehabt, mein Englisch könnte den Test nicht bestehen, wurde ich ihrer enthoben durch Felicity, die perfekt deutsch sprach und bereitwilligst dolmetschte – es stand sprachlich gleichsam zwei zu eins am Tisch gegen meinen Geschäftspartner, der sich dafür entschuldigte, der deutschen Sprache trotz seiner deutschen Frau immer noch nicht mächtig zu sein. Ein junger Mann bat, uns fotografieren zu dürfen – ich erkannte in ihm Nils Petersen, den Fotografen des Himmelsteiner Volksfreunds, und ließ es zu; als Landrat muss ich mich damit abfinden, eine Figur von öffentlichem Interesse zu sein. Der junge Mann hatte, Schach spielend, auch unser Gespräch belauscht und mitbekommen, dass Mrs. Green Himmelsteinerin war und in den dunklen Jahren fliehen musste. Daran knüpfte der am kommenden Tag erscheinende Zeitungsartikel die abenteuerlichsten Vermutungen, gerade als handle es sich um etwas im Stil von Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“; die vagen Andeutungen von einer „Wiederherstellung des Rechts“ lösten große Besorgnis vor allem unter Geschäftsleuten aus und hatten schon nach drei Tagen einen scheußlichen Vorfall zur Folge, der mich bewog, das Ehepaar Green in das Gesindehaus von Burg Himmelstein einzuladen – es war beim Brand unbeschädigt geblieben, auch ich wohne jetzt darin. Greens waren eigentlich entschlossen gewesen, sofort nach Kanada zurückzukehren, nahmen mein Angebot aber nach einigem Zögern an. Harry Green verbringt seine Tage damit, den Gegenstand seiner finanziellen Großzügigkeit gründlich zu begutachten. Dabei beobachtete ich ihn, wie er auf den Stufen zum Bergfried kniete – und weinte. Furchtsam trat ich zu ihm. War sein Interesse an Himmelstein zusammengebrochen angesichts der feindseligen Stimmung in der Stadt gegen seine Frau, aber auch des Vielen, was es aufzubauen und herzurichten gibt? Nein, das war es nicht. Er zeigte nur auf die in Jahrhunderten völlig ausgetretenen Stufen: „We do not have anything like that!“, sagte er, kopfschüttelnd und schluchzend immer wieder. „It doesn’t exist in America!“ Mir fielen die Bauten von Tulum und Chichen Itza in Yucatan ein, die ich einmal besichtigt hatte – aber ich schwieg, froh, meinen Gönner nicht verloren zu haben.

Ich, Harry Green

Als ich Felicity kennenlernte, arbeitete sie als Schwester im Hopital St. Boniface in Winnipeg, einer katholischen Einrichtung, und ich hatte keine Ahnung, dass sie Jüdin war. Manchmal saß sie an meinem Bett und glaubte, ich schliefe; dann nahm sie ihren Rosenkranz hervor und betete in einer sonderbaren, mir unverständlichen Sprache, aber es war eindeutig das Ave Maria. Ich hatte Gallenkoliken gehabt und musste mir helfen lassen, die herausbeförderten Steine prangten auf meinem Nachttisch und wurden von Felicity respektvoll gewürdigt, vor allem der eine, er gleiche einem Zitrin und verdiene eine Ringfassung, sagte sie spöttisch. Als wir uns verliebt hatten, sagte ich einmal zu ihr: „Wenn du nicht katholisch wärst, ich würde dich fragen, ob du meine Frau werden willst.“ Warum ihr Bekenntnis ein Hindernis sei, wollte sie wissen. Nun, erwiderte ich, meiner Familie könne ich nicht mit einer Schickse kommen, so nenne man eine nichtjüdische Frau bei uns. Da brach sie in Tränen aus: „Ich bin doch eigentlich jüdisch!“ Und die Geschichte ihrer abenteuerlichen Flucht aus Himmelstein einschließlich des vergeblichen Versuchs, nach Kuba zu gelangen, brach aus ihr hervor, wie ihr Mann von den Nazis gefasst und deportiert wurde, sie hingegen von Nonnen des Klosters Maredret gerettet worden sei, und aus Dankbarkeit für diese Rettung habe sie den katholischen Glauben angenommen und ihn auch beibehalten, als sie nach dem Krieg auf Wunsch und Vorschlag der Schwestern nach Kanada ausgewandert sei. Ich hatte den Zitrin in Silber fassen lassen, und diesen Ring steckte ich ihr an den Finger, sie kehrte zum Judentum zurück und wir heirateten traditionell unter der Chuppa.

Es ist vielleicht drei Jahre her, dass Felicity unruhig wurde und viel von ihrer Sehnsucht nach ihrem Geburtsort in Deutschland sprach; sie hatte sich brieflich an die Familie Janssen gewandt, die ihr Haus in Himmelstein übernommen hatte, und deren Tochter Karla hatte ihr geantwortet und ihr Erschütterndes mitgeteilt. „Ich muss unbedingt hin und Lea in die Arme schließen und sie um Verzeihung bitten, dass wir sie damals zurückgelassen haben. Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt, weiß zwar, wer sie ist, braucht mich aber gerade deshalb noch mehr als ich sie.“ Ich warnte sie vor einer Rückkehr: „Die Profiteure eurer Vertreibung sitzen in den ehemals jüdischen Häusern und werden angstvoll und giftig auf ihr formelles Recht bedacht sein.“ Aber Felicity war von ihrem Vorhaben nicht abzubringen. Fräulein Janssen hatte auch von einem furchtbaren Unwetter und vom Brand der Burg Himmelstein berichtet, und da ich Reisen aus geschäftlichen Gründen privaten vorziehe, nahm ich Kontakt zur Bank des Grafen auf und konnte ihm bald einen Kredit zur Finanzierung des Wiederaufbaus anbieten. So sind wir nun hierhergekommen, aber meine Befürchtungen haben sich nur allzu drastisch bestätigt. Pastor Westfal, der Ziehvater Leas, schützt Termine vor, um uns nicht zu empfangen, hat uns nur informiert, dass er Lea, als sie 16 wurde, über ihre wahre Herkunft ordnungsgemäß aufgeklärt habe und dass sie nach Israel an einen unbekannten Ort verzogen sei. Eben suchte ich Felicity auf der Burgmauer auf, wo sie sich einen Liegestuhl aufgeschlagen hatte und in der Herbstsonne lag und las. „Hör dir das an,“ sagte sie und las aus dem Buch auf Deutsch vor: „Unwiederbringlich ist die Heimat verloren, uneinbringlich liegt die Ferne vor uns, allein der Schmerz wird immer gelöster, immer heller, vielleicht sogar unsichtbarer, nichts bleibt als ein schmerzlicher Hauch des Einstigen.“ Sie schwieg und sah mich an. „Wie konnte er das wissen? Er war einer von uns, und dabei schrieb er es, bevor er vertrieben wurde.“ Wir besprachen unsre nächsten Pläne, aber bevor ich ging, sah ich nach dem Titel: Die Schlafwandler von Hermann Broch.

Der Richter aus der Hansestadt

Eine Gerichtsverhandlung fand statt im alten Himmelsteiner Amtsgericht, für die extra ein Richter aus der Hansestadt angefordert wurde – wegen der großen grundsätzlichen Bedeutung des Falles. Landrichter Kotthaus war nikotinsüchtig und wälzte während der Verhandlung einen Priem von einer Backe in die andere. Er eröffnete die Verhandlung mit dem Satz: „Sie brauchen hier außer unter Eid nicht die Wahrheit zu sagen, aber bedenken Sie: Ich brauche Ihnen auch nicht zu glauben!“ Es ging um die Frage, ob der letzte Wille von Karla Janssen zugunsten von Lea Wolf galt oder nicht. Propst Westfal focht dieses Testament an mit der Begründung, die Erblasserin sei nicht mehr testierfähig gewesen, habe schon schwere Symptome von Demenz gezeigt und sei ihm gegenüber auf unsinnige Weise aggressiv aufgetreten, habe sogar einmal das Metronom nach ihm geworfen. Lea Wolf war zu dem Gerichtstermin geladen, war jedoch nicht rechtzeitig aus Israel eingetroffen, aber Mrs. und Mr. Green vertraten ihre Interessen und verhinderten so, dass ein Versäumnisurteil gefällt wurde. Sie riefen als Zeugen Landrat Ludolf von Osten auf, der aussagte, er habe noch kurz vor Karla Janssens Tod bei ihr eine erste Klavierstunde genommen in der Hoffnung, dass noch viele folgen würden. Da platzte plötzlich Lea Wolf in die Verhandlung herein, legte dem Gericht einen fehlerfrei handgeschriebenen Brief vor, in dem Karla ihr mitteilte, dass sie das Haus ihr als ihrer einzigen Erbin vermacht habe. Westfal wandte ein, das könne eine Fälschung sein, es müsse ein graphologisches Gutachten angefordert werden, man wisse ja, dass den Juden jedes Mittel recht sei, das wisse man unter anderem, seit sie mit List und Tücke Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und gefangen genommen hätten, jetzt stehe er in Jerusalem vor Gericht, ein unmögliches und keineswegs rechtsstaatliches Verfahren, wenn das so weiter gehe, seien die Besitzer von ehemals jüdischen Häusern nicht nur in Himmelstein, sondern in ganz Deutschland ihres Eigentums nicht mehr sicher. Außerdem habe er Lea damals vor ihrem sicheren Tod gerettet, sie an Kindesstatt bei sich aufgenommen und unter dem Namen Gudrun aufgezogen; was sie hier zeige, sei verwerflichster grober Undank. Daraufhin erhob sich Lea und deutete mit vorsichtigen, aber eindeutigen Worten an, dass sie als Kind von ihrem Ziehvater sexuell missbraucht worden sei und sich dafür zu Dank nicht verpflichtet fühle. „Sie lügt und hat schon immer gelogen, ich habe sie dafür nur gezüchtigt!“, tobte der Propst. Der Richter spuckte in das neben ihm stehende Spucknapf und wollte die Verhandlung wegen notwendiger Gutachten und Zeugenbefragungen vertagen – da stand die Frau des Pastors auf und sagte: „Lea sagt die Wahrheit! Ihr Ziehvater hat mit ihr Sachen gemacht, die mit einem Kind zu machen einem Mann nicht ansteht, und schon gar nicht einem Kirchenbeamten. Ich habe das immer gedeckt, weil ich mich zu sehr schämte und auch umso mitschuldiger fühlte, je länger ich dazu schwieg. Aber es muss mal ein Ende sein mit der Lügerei!“ Der Richter entschied: „Karla Janssens Testament ist gültig. Die anderen Besitzer ehemals jüdischer Häuser mögen ruhig sein. Ihre Strafe wird darin bestehen, dass sie sich als Profiteure verbrecherischer Handlungen ihres Besitzes nie wieder uneingeschränkt werden freuen können.“

Susan

Wie hatte er sich so verstricken können? Diese Malerin hatte Herbert so in Bann geschlagen, dass er nicht mehr ein und aus wusste. Sie war nicht nur schön, sondern brannte auch von innen, und das mit einer Gewalt, der er nicht gewachsen war. Aus ihren dunklen Augen leuchtete ihn etwas an, das er vielleicht nur hineinsah, es waren Sinn und Wissen in höchster Potenz, er konnte nicht von ihr lassen und beugte immer wieder den Kopf, wenn er zu ihr in ihre Kellerwohnung, die sie Loft nannte, hinabstieg durch eine Tür, die einmal ein Fenster gewesen war. Wie oft hatte er sich hier den Kopf gestoßen! Und schlimmer als der Schmerz war dann die Wut, die er auf sich selbst hatte: Warum war er so blöd und begriff es nicht endlich: Er musste den Kopf einziehen, er musste demütig werden! Demütig vor ihr, dieser ungeheuerlichen Frau, die mit ihrem Blut malte und mit dem Sand, den sie von Reisen mitgebracht hatte und der in Weckgläsern neben Firnis, Terpentin, Leinöl und anderen Malmitteln auf dem Regal stand. „Du liebst in mir die andere und nicht die gleiche,“ warf Susan ihm vor, und er gab ihr Recht, aber nicht in dem Sinn, den sie meinte, sondern weil sie eine Frau, er ein Mann, sie eine Künstlerin und er nur ein Angestellter war, der sich in der KONKORDANZ mit ab- und aufgezinsten Sterbenden und Erlebenden mühsam sein Brot verdiente. Sie war in New York aufgewachsen, eins von sieben Kindern eines Textilunternehmers, der als armer Schneider in der Bronx begonnen hatte, aber der Kunstbazillus grassierte in der Familie, eine Tante war Pianistin, der Großvater war Schauspieler im Schtetl gewesen. Vor einem ihrer Bilder aus braunen, kaum noch roten Streifen bekannte er, es sei ihm zu wenig realistisch, stelle nichts dar. „Was kann man vom Sohn eines Nazisoldaten anderes erwarten!“, giftete sie. „Hat Hitler nicht als Maler von Ansichtspostkarten angefangen?“ „Die Nazis nannten es Sippenhaft, wenn sie die Kinder von Staatsfeinden auch zu Staatsfeinden erklärten. Warum wendest du Nazimethoden an?“ „Ihr Deutschen werdet es nie lernen! Noch in tausend Jahren werdet Ihr Schuld tragen müssen!“ Aber Herbert war nun in einem Fahrwasser, aus dem er nicht wieder herauskam. „Malen mit Blut und dem Sand der Negev-Wüste – ist das nicht Blut und Boden, huldigt also einer Kunstideologie, wie die Faschisten sie propagierten?“ Da schlug sie ihm ins Gesicht und schrie: „Nenne mich nie wieder eine Faschistin, du braunes Dreckschwein! Und jetzt komme mir nicht mit der angeblich jüdischen Herkunft deines Namens. Ei, Senf und Licht – lachhaft das!“ Susan warf mit Pinseln nach ihm und kreischte noch, als er, den Kopf einziehend, den Loft verließ. Die Welt war verrückt geworden, es gab nichts mehr, um sich daran zu orientieren, das Heimweh nach Himmelstein, nach dem Blüthner und dem Haus von Karla Janssen unter der alten Buche, nach der Burg, auch wenn der Palas in Trümmern lag, in dem sie musiziert und Minna Lieberwirth vorgelesen hatten, wurde übermächtig in ihm, er beschloss, die KONKORDANZ um Urlaub zu bitten.

Ich, der Blüthner

Ich habe als Flügel hier schon mal das Wort ergriffen und mich dabei nicht wohl gefühlt. Unter lauter Menschen das einzige Ding zu sein, um nicht zu sagen, das einzige Spiel-Zeug – nicht angenehm. Als dann aber sogar ein Baum, dann ein Schaf und schließlich ein Gerät sich äußern durften – damit meine ich den Plattenspieler, den prolligen! – da wurde es mir wohler, und nun schwatze ich einfach drauflos, denn so sehr ich die Musik liebe, die auf mir gespielt wird, so sehr liebe ich inzwischen auch die Klatschgeschichten, die mir zugetragen werden. Aber bevor ich mich darauf einlasse, will ich, wie es sich gehört, erst einmal meine Trauer um Karla Janssen zum Ausdruck bringen und den Trauermarsch von Chopin in mir erinnern, den sie wie keine andere zu spielen wusste. Und während er noch nachklingt, ertönt aus der Ferne „Für Elise“ – und die Hoffnung besteht, dass sie ihren geliebten Professor – oder er sie oder sie einander – gefunden haben. Und ihr werdet nicht raten, wo ich jetzt stehe! Nicht in dem Haus, das 36 Jahre lang mein Heim war, denn dem wurde von der alten Buche das Dach eingeschlagen, und dabei war gar kein Wind, nur eine Motorsäge hörte ich – und dann, krach, war’s geschehen, und Astgewirr über und auf mir und um mich herum, ich verlor vor Schreck das Bewusstsein, aber als ich wieder zu mir kam, war ich noch völlig intakt, Manfred, inzwischen Bürgermeister von Himmelstein, spielte Bachs erste Invention auf mir – o, was für ein Glück, von diesen herrlichen Händen berührt und zum Klingen gebracht zu werden, die Umstehenden klatschten, unter ihnen auch Minna Lieberwirth, die Manfred dem Buchhändler ausgespannt hat, der arme, er soll immer noch die Ohren hängen lassen und den Verlust seines Mitbringsels aus der Zone nicht verschmerzt haben! Und es wurde beschlossen, mich auf die Burg zu verbringen, wo ich ja schon einmal gewesen war, und da bin ich jetzt und warte darauf, dass ich zur Einweihung des von Holger wieder aufgebauten Palas meinen Beitrag leiste, und zwar mit einem Stück, das ich lange, lange nicht mehr gehört habe: der Telemann-Sonate in F-Dur für Altblockflöte und Klavier, und zu der haben sich zwei zusammengefunden, die einander schon aufgegeben hatten, ihr ahnt schon, wer – es ist geradezu, als ob Karla Janssen von ferne Regie geführt und die vereint hätte, die sie am meisten liebte. Jetzt aber werde ich erst einmal abgewischt und poliert mit einer Salbe aus Ei und Bienenwachs von einer dicken Madam, die mich geradezu mütterlich liebt. Sie hat graue Strähnen im Haar, Besenreiser an den Beinen und war einmal   d i e   Attraktion der Oase, von Isabel, die mir stolz zuflüstert: „Den Herbert hab ich auch mal vernascht – aber sag‘s der Lea nicht weiter!“





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