Dem Andenken von Alma Marie Schneider
Das Café im Bahnhof
„Das hätte ich meinem Mann nicht antun mögen.“ Herta schwieg und lächelte bemüht. Irgendwie befremdete sie, was Ellinor erzählt hatte: Dass sie jahrelang Gedichte von einem Verehrer bekommen hatte, gedankentiefe, aber auch zärtliche Gedichte, sie sei seine „Muse“ gewesen, aber getroffen habe sie sich mit ihm nie. Herta hatte einmal ein Gedicht von einem Mitschüler bekommen, sie errötete innerlich bei der Erinnerung, es hatte ihre „üppigen Titten“ gepriesen, um die der Verfasser „so viel gelitten“ habe, sie hatte ihn nicht mehr eines Blickes gewürdigt. Ellinor hatte eins der Gedichte dabei und las es vor. Es war nicht unanständig – aber unverständlich, und das war fast noch schlimmer. Was dachten die Männer sich alles aus, um Frauen zu imponieren! Sie führten Balztänze auf, plusterten ihr Gefieder – machten sich lächerlich mit unverständlichen Worten wie Entelechie … Herta wollte etwas sagen – aber dann stopfte sie sich selbst den Mund – mit einem tüchtigen Bissen Schwarzwälder-Kirsch-Torte. Die aßen sie immer, wenn sie sich trafen – und tranken dazu fair gehandelten Kaffee aus Kolumbien. Nein, Else trank Malzkaffee, ihr bekam das Koffein nicht, sie hatte ein schwaches Herz. Zu der Runde gehörten noch Ute und Hedwig, aber Hedwig hatte zu Hause den schwer an Alzheimer erkrankten Mann, sie konnte nicht immer weg, und dann kam auch Ute nicht, weil sie in einem Wagen fuhren. Dienstag Vormittag um 10 war ihre Zeit, sie nannten es ihr Frühstück und eröffneten es immer mit einem Müsli für die Gesundheit, aber dann folgte die Torte für den Genuss.
Else und Herta klatschten nach Ellinors Vortrag, Herta schränkte ihr Lob freilich etwas ein durch ihr bemühtes Lächeln. Ihr Mann war Organist mehrerer Kirchen. Ellinor hütete die Gedichte ihres Verehrers wie einen Schatz. Sie gaben ihr das Gefühl, nicht nur Hausfrau, Gattin und Mutter zu sein – neuerdings auch Großmutter – sondern noch mehr, etwas Besonderes, eine Frau, die die Fantasie eines klugen und anspruchsvollen Mannes in Gang bringen, ja, in Feuer versetzen konnte. Jedes dieser Gedichte hatte sie genossen wie ein Stück Schwarzwälder-Kirsch, hatte die Worte, die sie nicht verstand, nachgeschlagen, und war dankbar gewesen, noch was hinzuzulernen. Else, die als Lehrerin immer von selbstverdientem Geld gelebt hatte, schlürfte ihren Malzkaffee, dann fragte sie schüchtern: „Was bedeutet denn eigentlich Entelechie?“ Ellinor erklärte es als eine innere Schönheit, wie sie schon in der Raupe stecke, erst im Schmetterling werde sie sichtbar. War es nicht herrlich, als Muse einen Amateurdichter auf so einen Begriff gebracht zu haben? Sie hatten sich in einem Chat im Netz kennengelernt, sie hatte ihm ein Passbild geschickt, er eines von sich an sie – sie fand ihn gutaussehend trotz Stirnglatze und Doppelkinn – aber auf Abenteuer hatten sie sich nicht eingelassen, nicht einmal auf ein Telefonat. Sie waren beide verheiratet, Holger mit einer älteren reichen Erbin, deren Wohlwollen er nicht verscherzen durfte, sie mit einem Leitenden Ministerialrat im Finanzministerium, der grundsätzlich nur Sekretärinnen einstellte, die ihm „vorgetanzt“ und gefallen hatten. Ellinor wusste, dass sie eine vielfach Betrogene war, und Holgers Gedichte halfen ihr, das zu ertragen, ja, sie gaben ihr ein Gefühl von Erhabenheit über die schlüpfrige Welt des praktizierten Ehebruchs.
„Hallo Mädels!“ Hedwig rief es fröhlich aus, als sie verspätet am Tisch der drei eintraf. Ellinor, Herta und Else sprangen auf, sie drückten einander die Hand und gaben sich Bisoux. Das hatte Hedwig eingeführt, deren Mann für IBM vier Jahre in Paris gearbeitet hatte, sie war nach zwei Jahren zu ihm gezogen, und man machte ihr eine große Freude, wenn man sie Edwigue nannte. Wenig später wiederholte sich das Ritual mit Ute, die den Wagen noch hatte umparken müssen, weil ein Filmteam eingetroffen war, das den Parkplatz für sich beanspruchte. Der kleine Bahnhof, in dem sich das Café befand, war der Bahnhof des fiktiven Lunden in der Seifenoper „Kornblumenblau“.
„Was haben wir verpasst?“, wollte Ute wissen. „Wusstet ihr schon, dass unsere Ellinor eine Muse ist, die von ihrem Verehrer ‚Entelechie‘ genannt wird?“ Else war aus ihrer Malzkaffeemattheit erwacht, blickte mit leuchtenden Augen um sich und rief: „Warum hat den Schmetterling in mir noch nie ein Mann entdeckt? Ich war für alle immer nur die hässliche Raupe! Gib das Gedicht an Ute weiter, Edvigue, sie soll es auch lesen und sagen, ob sie Ellinor beneidet oder, wie Herta, auch ein bisschen verurteilt, denn ganz korrekt ist es für eine verheiratete Frau doch nicht, sich so als Objekt einer wenn auch rein geistigen Verehrung zur Verfügung zu stellen!“ Hedwig bedankte sich für ihr Tortenstück bei der Bedienung mit „Merci beaucoup!“, widersprach dann aber energisch: Sie habe in ihrer Zeit in Versailles kein einziges Ehepaar kennengelernt, in dem die Ehefrau nicht einen amant gehabt hätte, und sie selbst sei auch nahe daran gewesen, sich einen zuzulegen, sogar einen Inder! – aber dann sei ihr Mann leider wieder nach Hamburg zurückversetzt worden. Nein, es sei absolut selbstverständlich, die notorische Treulosigkeit der Männer mit kleinen excursions – wie sage man dafür – ja, richtig, Ausflügen zu vergelten.
Arbeiter kamen herein, um das große Schild (mit der schwarzen Aufschrift: LUNDEN auf weiß emailliertem Grund) zu holen, das für die Dauer der Dreharbeiten an der Gebäudefront befestigt werden musste. Es hatte zwischenzeitlich im Café an der Wand gelehnt. Das Hämmern, mit dem es angenagelt wurde, störte für eine Weile das Gespräch der fünf Frauen, die es genossen, sich einmal wöchentlich miteinander bei Kaffee und Kuchen gemütlich auszutauschen. „Jetzt werden wir für diese Serie wieder nach Lunden versetzt. Wie nennst du ‚Kornblumenblau‘ doch noch immer, Edvigue?“ „Une cucuterie!“ Sie lachten, das Wort war einfach zu schön! Herta verabschiedete sich als erste. „Frank muss auf drei Begräbnissen orgeln, und die Enkel sind noch zu klein, um allein zu bleiben.“ Kaum war sie weg, stand eine Flasche Freixenet Asti auf dem Tisch, die Gläser klangen aneinander.
Der Diamant
„Nein, den würde ich keinesfalls tragen, er wäre mir …“
„Unheimlich,“ ergänzte Else die offenbar förmlich angewiderte Herta.
„Nicht nur unheimlich – ich glaube, er wäre mir eklig!“ Herta war wieder in ihrem Element, und wieder war es Ellinor, durch die sie sich provoziert fühlte. An diesem Dienstag hatten sie sich verabredet, dass jede ihren Lieblingsschmuck zum gemeinsamen Frühstück tragen sollte. Herta hatte die Granatklunker ihrer Großmutter angelegt, Else die Halskette aus grauen Lavakugeln, die sie sich selbst gekauft hatte, und Ellinor trug ein neues Medaillon auf dem Revers ihrer Jacke, in dessen Mitte ein Diamant funkelte. Else und Herta hatten es noch nie gesehen und baten um eine Erklärung.
„Ich habe euch erzählt, dass die Gedichte, die ich regelmäßig übers Internet bekam, seltener und seltener wurden und schließlich ganz ausblieben. Nun gut, ich dachte mir nichts Schlimmes, Musen werden ja von den Herren der Schöpfung gern mal ausgewechselt, er hat eben eine andere gefunden. Aber dann bekam ich einen dicken Brief, und darin war ein wattiertes Kästchen, in dem lag dieses Medaillon, und dabei lag ein handschriftlich beschriebenes Blatt. Von wem wohl? Nun, ich konnte es zuerst auch nicht glauben: Von Louise, der Frau meines platonischen Verehrers! Ich habe ihn dabei, soll ich ihn …“
In diesem Augenblick traten Hedwig und Ute an den Tisch, Hedwig mit einer Silbermünze als Brosche, auf der der unverwechselbare Kopf von Napoleon Bonaparte prangte, Ute mit der doppelten goldenen Uhrkette ihres Vaters um den Hals. Als sie hörten, dass ein Brief verlesen werden sollte, musste Ellinor die gesamte Einleitung noch einmal wiederholen, Schwarzwälder Kirsch und frischer Fairtrade-Kaffee kamen auf den Tisch, Ute begutachtete das Briefpapier: „Das ist Bütten!“, und dann begann Ellinor vorzulesen:
„Liebe Ellinor, bitte wundere dich nicht, dass ich mich acht Wochen nach Holgers Tod persönlich an Dich wende und Dich sogar duze, wie es zwischen Euch üblich war. Holger hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er in Dir eine wundervolle Muse für seine Sonette, Stanzen und freien Verse gefunden hatte, die zu schreiben für ihn ein innerstes Bedürfnis war. Zwar hat er mir seine Werke nie zu lesen gegeben, da er wusste, dass ich damit nichts anfangen kann, aber ich merkte, wie unruhig er war, wenn es innerlich in ihm wieder arbeitete – und wie glücklich und erlöst, wenn er sein Werk veröffentlicht hatte. Ich hoffe, er war Dir gegenüber immer ebenso feinfühlig, wie er sich in unserer fast die silberne Hochzeit erreichenden Ehe mir gegenüber verhalten hat. Ich konnte ihm das Glück, das Du ihm gabst, nicht geben, und ich bin sicher, wir hätten uns längst getrennt, wenn Du unsere durchaus glücklich zu nennende Ehe nicht stabilisiert hättest. Ich habe mich bei Holgers Kremierung entschieden, aus dem Kohlenstoff seiner sterblichen Überreste einen Diamanten pressen zu lassen, und als ich das beschlossen hatte, dachte ich: Und was wird aus seiner Muse? Hat sie nicht auch einen Diamanten verdient? Diese Prozedur ist recht kostspielig, aber da mein Vater, Bauunternehmer seines Zeichens (er hat die schrägen Häuser von Gehry in Düsseldorf gebaut) mir mehr hinterlassen hat, als ich gebrauchen kann, bekommst Du nun auch einen Diamanten, den ich von meinem Juwelier habe fassen lassen in einer schlichten Form, die Dir hoffentlich zusagt. Bitte nimm dieses hoch verdiente Schmuckstück von mir an und trage es zur Erinnerung an unseren unvergesslichen Holger. Louise“
Ellinor musste ihre Rührung herunterschlucken, die anderen schwiegen so still, dass das Schmatzen Elses hörbar wurde, sie hatte die Neigung, mit offenem Mund zu essen, eine Unart, die sie in einer Partnerschaft sicherlich nicht beibehalten hätte. Als erste fasste sich Herta und sagte den eingangs zitierten Satz, nämlich dass es ihr nicht nur unheimlich, sondern sogar eklig wäre, dieses Schmuckstück zu tragen. „Gewonnen aus der Asche eines wildfremden Körpers, mit dem einen nichts als Worte verbinden … Und dann die eine Hälfte bei ihr, die andere bei dir: Habt ihr den armen Kerl nicht gleichsam mittendurch geschnitten?“
Ute lachte laut auf, befragt, warum, sagte sie: „Ich dachte nur gerade darüber nach, ob er senkrecht oder waagerecht – durchgeschnitten wurde …“ Nun mussten auch die anderen Mädels lachen, riefen einander kecke Bemerkungen zu, bis Ellinor wieder das Wort ergriff:
„Mir war auch sofort klar, dass ich das Ding nicht tragen will. Ich wollte es zuerst einfach in meiner Schmuckschublade versenken und vergessen. Aber dann schaute ich im Netz nach: Es handelt sich um einen einkarätigen Diamanten, und das Pressen eines solchen kostet an die 12000 Euro wenn nicht mehr. Den konnte ich nicht einfach behalten, wenn ich ihn nie tragen wollte. Also rief ich Louise an, sie hatte ihren Absender samt Telefonnummer auf die Rückseite des Umschlags gestempelt. Sie war kein bisschen verlegen, freute sich über meinen Anruf, konnte gar nicht verstehen, warum ich das Tragen dieses Schmuckstücks makaber fände. ‚Aber zurücksenden kommt nicht in Frage‘, sagte sie, ‚verkaufe es einem Juwelier oder versetze es im Pfandhaus, und von dem Erlös kannst du ja Holgers Gedichte bei Books on Demand drucken lassen, darüber würde er sich bestimmt freuen. Und schicke mir bitte ein Exemplar zu!‘“
Unbescholten
Wie immer, wenn die Mädels sich trafen, wurde zuerst mal ein Weilchen Smalltalk gemacht, während das Müsli serviert wurde, Fairtradekaffee aus Kolumbien wurde getrunken, Else blieb bei ihrem Muckefuck, aber dann erhob Hedwig, die mit Ute ausnahmsweise pünktlich gewesen war, ihre Stimme: „Tut mir leid, aber ich muss euch heute eine Frage stellen: Bin ich eine unbescholtene Frau?“ Herta, Else, Ute und Ellinor waren baff.
„Warum fragst du uns das?“, riefen sie beinahe einstimmig.
„Es ist Aufnahmevoraussetzung für eine Gruppe, der ich gern beitreten möchte.“
„Du hast doch unsere Gruppe … Genügen wir dir nicht mehr?“, fragte Herta und blickte streng.
„Was heißt das überhaupt: ‚Unbescholtene Frau‘?“, wollte Else wissen.
„Gibt es auch unbescholtene Männer?“, fragte Ute nach. „Das ist doch ein lachhafter Ausdruck aus der Zeit, als Frauen nichts weiter waren als Möbelstücke im Haus ihrer Männer. Unbescholten hieß so viel wie unbeschädigt!“
„Und was sollte unbeschädigt sein? Der Ruf der Frau. Das ist des Pudels Kern!“ Ellinor sah sich um in dem Bewusstsein, den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben.
„Und ich würde sagen, liebste Edvigue, dein Ruf ist nicht nur unbeschädigt, er ist über jeden Zweifel erhaben.“ Ute legte ihrer Freundin den Arm um die Schultern und zog sie fest an sich. Hedwig war gerührt, schüttelte aber den Kopf.
„Dass ihr das sagt, ist klar, aber ihr werdet nicht gefragt.“
„Wo fängt die Bescholtenheit an?“, fragte Ellinor giftig. „Bin ich noch unbescholten, nachdem ich mich jahrelang von Holger, die Erde werde ihm leicht, habe mit Gedichten bombardieren lassen? Denn bei der Unbescholten- und Bescholtenheit geht es mit Sicherheit nicht um das Klauen silberner Löffel, sondern einzig und allein um das Verhältnis zum männlichen Geschlecht.“ Hedwig nickte traurig.
„Ja, und wer kann über den Ruf einer Frau kompetenter urteilen als ihr Ehemann? Amandus müsste meinen guten Ruf, meine Unbescholtenheit bestätigen, aber er ist dement. An wen wende ich mich? Wer kann ihn vertreten?“
„Zuerst, liebe Edvigue, sag uns mal, was für eine fatale Gruppe, ich könnte auch sagen: Was für ein reaktionärer Haufen ist es, dem du unbedingt beitreten möchtest und der so absurde Aufnahmekriterien in seiner Satzung hat?“ Ellinor war empört, dass Hedwig sich demütigen ließ. Diese war sichtlich verlegen, Auskunft geben zu müssen.
„Bitte versteht mich. Ich liebe euch alle von Herzen und treffe mich schrecklich gern mit euch, rede gern mit euch und habe auch so gut wie keine Geheimnisse vor euch. Aber ich sehne mich nach noch etwas anderem, nach einer Hierarchie, nach geheimnisvollen Ritualen, nach Worten, die meinem Leben einen tieferen Sinn geben …“
Herta schüttelte irritiert den Kopf. „Das ist die Kirche, aber die fragt nicht nach Unbescholtenheit. Im Gegenteil: ‚Wer wirft den ersten Stein?‘, hat Jesus gefragt, als es um die Ehebrecherin ging.“ Wieder schüttelte Hedwig traurig den Kopf.
„Nein, Herta, in die Kirche bringen mich keine zehn Pferde zurück. Ich will das nicht weiter begründen, weil ich dich nicht verletzen will. In Paris hatte ich einen guten Freund, der bei den franc-maçons war, den Freimaurern, und er wollte mich unbedingt in die dortige Frauenloge lotsen. Aber dann zogen wir zurück nach Hamburg und ich vergaß es. Amandus ging in Rente, wir zogen hier herauf, und eines Tages las ich in der Zeitung, dass sich in der Landeshauptstadt eine Frauenloge gegründet hätte. Amandus ist schwer krank, nur noch die äußere Hülle eines Menschen, ich brauche etwas, woran ich mich klammern kann, ich habe Kontakt zu der Loge aufgenommen und auch schon mehrere ihrer Gästeabende besucht. Es gefällt mir sehr gut bei ihnen, ihre Grundgedanken sind Toleranz, Menschenliebe und ständige Arbeit an sich selbst. Ich fühle mich immer so aufgeräumt und erquickt, wenn ich von ihnen heimfahre in mein trauriges Leben …“ Hedwig weinte, aber nicht nur sie benötigte ein Tempo, nur Herta blickte düster und verstimmt in ihre Kaffeetasse.
„Lebt dein Pariser Freund noch, Edvigue?“ Else fragte es und gab sich Mühe, harmlos dreinzublicken. Als Hedwig nickte, fuhr sie fort: „Steht Ihr noch in Verbindung?“ Wieder nickt Hedwig und putzte sich die Nase. „Welche Stellung hat er bei den franc-maçons?“ „Ich glaube, er ist Vénérable Maître in der Loge von Versailles, das entspricht dem Meister vom Stuhl.“ „Also ein großes Tier! Kannst du ihn nicht bitten, dass er sich für dich verbürgt?“ „Nein, er war in mich verliebt, und ich habe ihn schmoren lassen, das hat er mir bestimmt nicht verziehen.“ „Aber um so überzeugter kann er sich für deine Unbescholtenheit verbürgen!“ Else strahlte triumphierend. Ein widerwilliges Lächeln breitete sich über Hedwigs Gesicht aus. „Das ist ein neuer Aspekt, Else. Wir schreiben uns eigentlich nur zu Weihnachten – aber ich rufe ihn heute noch an!“
„Unbescholten sind Frauen, die ihre Verehrer schmoren lassen!“ Mit diesem Satz fasste Ute zur Erheiterung aller die Erkenntnis des Plauschs zusammen. Herta wollte sich verabschieden, aber die Mädels bestanden darauf, dass sie noch auf ein Glas Freixenet Asti blieb, und Ellinor sagte: „Herta, ich habe deinen Mann am Samstag in der Michaelskirche spielen hören, ich glaube, es war der Kanon von Pachelbel – wunderbar, vor allem die Zartheit der ausgewählten Register war betörend …“ „Ja, das kann er,“ sagte Herta versöhnt. „Und ich bin auch sehr froh, dass du, Hedwig, nur zu den Freimaurern übertreten willst und nicht zu noch Schlimmerem!“ Die Gläser klangen zusammen – doch Ute ließ noch eine Bombe platzen:
„Ratet mal, wer mich angesprochen hat und uns einen Job anbietet! Ihr kommt nicht drauf: Max Matzke, der momentane Regisseur von ‚Kornblumenblau‘! Er hat uns, als er hier auf der Suche nach Kamerapositionen herumlief, beisammensitzen gesehen und gedacht: Genau so eine Gruppe brauche ich, um das Bahnhofsinnere zu beleben! Er fragt, ob wir am Donnerstag um 14.30 Uhr hier zusammenkommen könnten! Als Statistinnen bekommen wir Mindestlohn! Und müssen nur eine Stunde beisammen sitzen – und uns selbst spielen!“
Der anonyme Brief
Nach ihrem Auftritt als Statistinnen in „Kornblumenblau“ kamen die Mädels in betont abgerissener und sorgloser Kleidung wieder zusammen, trugen absatzlose Schuhe und löchrige Jeans sowie zu große Pullover in Farben wie Grau, Blau und Olivgrün, kaum Schmuck – nur Hedwigs silberner Napoleon Bonaparte war wieder dabei. Sie hatten sich für die Filmaufnahme dermaßen schick gemacht, dass Max Matzke sie wieder nach Hause geschickt hatte. „Zieht Alltagsklamotten an!“, hatte er sie grinsend gebeten, „ich brauche keine aufgebrezelten Tussis!“ Betroffen und beschämt hatten sie vorgehabt, gar nicht wieder in den Bahnhof von LUNDEN zurückzukehren, aber dann dachten sie, es sei witzig, ins andere Extrem zu verfallen, und was sie dann anzogen, das trugen sie auch jetzt.
„Der Anfang unserer Filmkarriere war nicht eben ein Ruhmesblatt,“ sagte Else bedauernd, die ein mausgraues abgetragenes Kostüm ihrer Mutter ausgegraben hatte. „Aber ich finde es gut, dass Matzke unserer Eitelkeit eine Lehre erteilt hat.“
Während die Mädels rekapitulierten, wie sie sich aufgedonnert hatten, brütete Herta schweigend und lustlos über ihrem Tortenstück. „Herta, was hattest du dir noch mal angetan? War es nicht das schwarze Kleid mit weißem Krägelchen, das du auch anziehst, wenn du in der Kirche aus der Bibel liest?“ Ellinor versuchte, die Verdüsterte mit ins Gespräch zu ziehen. Aber Herta schrak nur auf, sah hilfesuchend von einer zur anderen und wusste offenbar nicht, worum es ging. „Was ist mit dir los, Herta?“ Ellinor verstand es trefflich, nachzubohren. Wenn sie etwas wissen wollte, bekam sie es auch heraus. „Du bist doch sonst nicht so. Wenn irgendwas dich bedrückt, dann spuck es aus und unterbreite es der geballten Urteilskraft von vier lebenserfahrenen Frauen, die dir durchaus wohlgesonnen sind.“
„Nein, es ist nichts. Ich habe da nur einen Brief an Frank abgefangen, den ich besser sofort in den Papierkorb geschmissen hätte. Er war mir suspekt, weil die Adresse aus ausgeschnittenen Druckbuchstaben zusammengeklebt war. Nun, zum Inhalt will ich mich nicht weiter äußern. Es ist zu peinlich.“
„Mach keine halben Sachen, Herta. War es ein Drohbrief? Hat Frank Feinde?“
„Ein Drohbrief war es in gewisser Weise schon. Es lag ein Foto dabei, dessen Veröffentlichung Frank schaden würde. Und der Absender drohte, er würde es veröffentlichen, wenn Frank nicht …“ Herta konnte nicht weiter sprechen. Es verschlug ihr die Sprache. Aber Else hatte die Ergänzung sofort parat:
„… wenn er nicht so und so viel zahlt.“ Herta nickte. „Also ein Erpresserbrief.“ Herta nickte erneut. „Aber womit wird Frank erpresst? Was zeigt das Foto? “
Herta kramte stöhnend in ihrer Handtasche und holte den Umschlag hervor, nahm das auch aus Druckbuchstaben zusammengeflickte Schreiben und das Foto heraus und ließ die Mädels es lesen und betrachten. Aber mehr als ein knurriges „Hm!“ war von ihnen nicht zu vernehmen. „Das wirft Fragen auf!“, sagte Hedwig schließlich. „Kannst du uns was dazu sagen?“
„Was soll ich dazu sagen? Ich möchte mich von Frank trennen. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Aber nach fast dreißig Jahren Ehe ist das kein Kinderspiel. Außerdem ist er eine Säule der Gemeinden, in denen er als Organist und Chorleiter wirkt. Es ist eine Katastrophe!“
Arbeiter kamen herein und trugen das Schild LUNDEN hinaus. Offenbar sollte gedreht werden. Ein smarter Produktionsleiter, der sich als Massimo vorstellte, federte auf riesigen Sneakern herbei und informierte sie: Die Szene am und im Bahnhof müsse nachgedreht werden, weil der mit der Bahn ankommende Lover umbesetzt worden sei. Sie sollten einfach sitzen bleiben und die Kamera ignorieren. Im Fußball sei der Schiedsrichter Luft, im Filmgeschäft die Kamera, ergänzte er klug.
„Was wir reden, wird nicht aufgenommen?“, vergewisserte sich Ute.
„Nein, ihr könnt Blablabla machen oder auswendig Gelerntes aufsagen, nur den Mund bewegen, das müsst ihr! Und ein bisschen Lebhaftigkeit kann auch nicht schaden!“ Massimo verschwand.
Nun wurden aber doch Haare zurechtgerückt und -gedrückt, Hedwig legte Rouge auf, Kajalstifte wurden gezückt, und es dauerte ein Weilchen, bis sie zu dem Brief zurückgefunden hatten.
„Dann mache ich gleich mal den Anfang!“ Ellinor sah sich das Foto noch einmal scharf an. „Das ist eindeutig dein Mann, Herta. Und eine Fotomontage scheint es auch nicht zu sein. Wie kam es zu dem Foto?“
„Frank leitet doch einen Chor in Apenrade. Bei der Hin- oder Rückfahrt über die Grenze konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen, mal in eins dieser Kinos zu gehen, die sind in Dänemark ja erlaubt.“
„Wie lange leitet er den Chor schon?“ wollte Else wissen.
„Seit zehn Jahren.“
„Dann besucht er diese Kinos auch schon seit zehn Jahren,“ sagte Else brutal. „Und du kannst froh sein, vielleicht wäre eure Ehe schon längst im Eimer, wenn er sie nicht besuchte.“
„Mein Mann hat mich mit seinen Sekretärinnen betrogen, jedes Jahr mit einer anderen,“ seufzte Ellinor, „das war sehr viel schmerzhafter. Aber ich hatte ja Holger, dessen Muse ich war – immerhin! Doch zurück zu der Erpressung: Frank soll auf keinen Fall zahlen! Wenn sie das Foto an die Kirchenleitung oder die Presse schicken, wie sie androhen, verlieren sie das Druckmittel. Ihnen geht es nur um Geld. In den Papierkorb mit dem Zeug! Aber Frank zur Rede stellen würde ich auf jeden Fall.“
„Das habe ich schon getan.“
„Und was hat er gesagt?“
„Er sei froh, dass ich es herausbekommen hätte. Er litte furchtbar unter seinem – Trieb, manchmal könne er kaum noch den Chor dirigieren, weil er immer an die Unterwäsche der jungen Sopranistinnen denken müsse, und von denen habe er leider viele.“
„Und was hast du gesagt?“
„Aber du hast doch mich!“ Ellinor, Else, Hedwig und Ute lächelten gerührt, schauten einander vielsagend in die Nornengesichter und staunten, als plötzlich eine Flasche Veuve Clicquot auf dem Tisch stand. Massimo kam herbeigefedert und bedankte sich: „Bravo! Habt ihr toll gemacht! Die Flasche geht auf die Produktion!“ Er entkorkte sie professionell, ließ sich auch ein Glas bringen und stieß mit ihnen an.
Als er weg war, rief Ellinor mit erhobener Tulpe: „Wohlsein, Herta – und auf weitere zehn Jahre mit deinem Lustmolch!“
Der Koffer
Herta schüttelte den Kopf und sagte: „Ellinor, ich möchte dir nicht immer widersprechen. Aber damit gehst du wirklich zu weit. Den Tod eines Menschen darf man nicht herbeiwünschen, da mag er noch so sehr leiden, oder wenn man es tut, darf man es doch nicht aussprechen. Ich weiß, dass Alfons Schreckliches mitgemacht hat, erst die Chemo, jetzt die Bestrahlung, und das zermürbende Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung. Ich kann verstehen, dass du dir wünschst, es möge endlich ein Ende haben. Aber das Ende eines Menschen liegt in Gottes Hand. Es bleibt uns nur, das in Demut hinzunehmen.“
„Warum sollte man es nicht aussprechen dürfen, wenn man es fühlt?“ Else nippte an ihrem Kathreiner Malzkaffee, düstere Falten bildeten sich zwischen ihren Brauen. „Das ist es, was ich an den Christen am meisten hasse: Dass sie nicht ehrlich sind. Sie wünschen sich auch den Tod eines Menschen – aber sie verbieten es sich, das auszusprechen. Ja, sie heucheln vielleicht noch liebevolle Fürsorge, und in Wirklichkeit würden sie ihm am liebsten das Kissen übers Gesicht drücken.“
Herta stand auf, ließ ihr Bircher halb ungegessen stehen und wollte gehen. Aber an der Tür, neben der das Bahnhofsschild LUNDEN an der Wand lehnte, lief sie Hedwig und Ute in die Arme und musste ihnen erklären, warum sie gehen wollte. „Ich lasse mir von Else keine Heuchelei und Mordabsichten unterstellen,“ sagte sie, und es zuckte um ihre Mundwinkel. „Ellinor hat gesagt…“
„Das klären wir!“, sagte Hedwig resolut und bugsierte Herta wieder vor ihr Müsli. Ute schleppte einen nicht ganz kleinen Koffer herein, den sie unter den Tisch schob. Und merkwürdigerweise begrüßte sie die anderen nicht wie üblich mit „Hallo Mädels!“, sondern mit „Hallo Schwestern!“ Die Verwunderung darüber war jedoch vergessen, als Ellinor zugab, den Tod ihres schwer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Mannes herbeizuwünschen. „Einen Hund, der so leidet, würde der Tierarzt erlösen dürfen. Ich sehe nicht ein, dass Alfons nicht auch ein Recht darauf hat.“
„Und ich habe nur gesagt, sowas darf man vielleicht mal wünschen, aber man darf es nicht aussprechen – und werde der Heuchelei bezichtigt!“ Wütende Tränen traten in Hertas Augen, sie hätte Else am liebsten mit Müsli beworfen.
„In Holland hat man einen rechtlichen Weg gefunden, um solch ein Recht durchsetzen zu können. Wir hier in Deutschland haben den Begriff der Euthanasie durch die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ so in Verruf gebracht, dass wir uns an die Sterbehilfe nicht herantrauen. Und damit möchte ich Ute das Wort geben. Sie hat nämlich auf ihrem Dachboden einen Fund gemacht, der auch uns Mädels betrifft!“
Mit geheimnisvollem Lächeln wuchtete Ute den Koffer auf den Tisch. Er war aus Presspappe, mit Holzleisten beschlagen, graubraun angestrichen, doch der Anstrich blätterte ab. In schwarzer Schablonenschrift stand SCHF LYDIA SEIFERT darauf.
„Nach dem Tod meiner Mutter vor einem Vierteljahr haben wir den Dachboden entrümpelt und sind dabei auf diesen Koffer gestoßen. Eigentlich wollte ich ihn samt Inhalt auf den Müll tun, aber dann dachte ich: Das wäre Feigheit. Zu dieser Vergangenheit meiner sehr geliebten Großmutter muss ich stehen. Sie hat nie ein Wort darüber verloren, wir glaubten, sie wäre nie etwas anderes gewesen als Hausfrau und Verfertigerin wunderbarer Strickarbeiten. Der Norwegerpullover, den ich trage, ist von ihr … Insofern war diese Kiste ein gelinder Schock für uns, meine Schwester und mich.“ Herta, Else und Ellinor beugten sich neugierig über den geöffneten Koffer, nahmen die Sachen vorsichtig heraus und zeigten sie einander.
Unter bereits zerfallendem Seidenpapier fanden sie ein Nadelbüchlein samt Stopfpilz und Fingerhut, Nähschere, ein Kästchen Nähseide, mehrere Sterne Zwirn und darunter zehn kurzärmlige weiße Blusen, zwei schwarze Dreieckstücher, drei schwarze Röcke, eine Kamelhaarwolldecke und ein paar gestrickte Zeltschuhe. Dazu noch eine grüne Schnur mit Karabinerhaken und drei Garnituren Leibwäsche, kleine Taschentücher mit eingesticktem Monogramm, zwei Indanthren-Frotteetücher, eine Schachtel mit drei Kernseifestücken, eine Kleiderbürste und ein kleines elektrisches Bügeleisen.
„Wollte sie auf Reisen gehen? Hatte sie ein Amt? Irgendwie erinnern mich die Kleidungsstücke an was, ich weiß aber nicht an was.“ Ellinor blickte ratlos in die Runde.
„Sie war Scharführerin beim Bund deutscher Mädel,“ sagte Ute mit einer bizarren Mischung aus Stolz und Scham. „Das beweist diese grüne Schnur und auch die Beschriftung des Koffers. Was mich erschüttert, ist die rührende Ordnungsliebe, in der erkenne ich ganz und gar meine liebe Großmutter.“ Sie nahm eines der Taschentücher mit Monogramm heraus und tupfte sich damit die Augen. „Sie war für mich immer der beste Mensch auf der Welt – fürsorglich, selbstlos, humorvoll. Ich bin sicher, sie war eine gute Scharführerin und wurde von ihren Mädels geliebt. Aber ich finde, wir sollten einander nicht mehr mit diesem Naziwort Mädel anreden. Edvigue hat mir erzählt, dass die Frauen bei den Freimaurerinnen einander ‚Schwester‘ nennen. Wollen wir das nicht auch tun?“
„Nein,“ sagte Else nach kurzem Zögern. „Wir lassen uns das von den Nazis nicht wegnehmen. Die hatten auch alle eine Nase. Sollen wir uns die Nase abschneiden, nur um ihnen nicht zu ähneln?“ Wenig später klangen die Gläser zusammen, und „Prost Mädels!“, scholl es vielstimmig durchs Bahnhofscafé.
Die Hexe von Windsor
„Was ich bereue? Dass ich den anonymen Brief an Frank nicht gleich in den Papierkorb geworfen habe.“ Herta blickte bekümmert in die Runde. Ellinor hatte die Idee gehabt, dass sie beim nächsten Treffen einander mal erzählen sollten, was sie bereuten. Else war an der Reihe.
„Ich bereue, mein Kind zur Adoption freigegeben zu haben. Als ich es tat, dachte ich, ich würde noch andere Kinder und das in ordentlichen Verhältnissen bekommen. Aber es hat sich nicht ergeben. Es war eine Tochter, ich weiß, wo sie lebt – aber sie will nichts von mir wissen, und das kann ich ihr nicht einmal verdenken.“
„Bei mir ist es so ähnlich – nur noch schlimmer,“ sagte Ute. „Ich habe ein Kind, das ich erwartete, abgetrieben. Ich war noch sehr jung, wäre bestimmt keine gute Mutter gewesen.“ Sie schniefte kurz in ein Tempo. „Auch wenn es bei mir als allein erziehender blutjunger Mutter sicherlich nicht das beste Zuhause gehabt hätte – aber Pedro wäre jetzt erwachsen und würde sich vielleicht mal um mich kümmern.“
„Oder auch nicht,“ ergänzte Hedwig. „Ich habe drei erwachsene Kinder, aber sie denken gar nicht daran, sich um mich zu kümmern. Nicht einmal ihr schwer kranker Vater interessiert sie. Vorgedruckte Weihnachtskarten, das ist alles, was wir von ihnen zu sehen bekommen. Ich bereue, sie nicht zu mehr Liebe zu ihren Eltern erzogen zu haben. Aber ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.“
„Und das können wir hier sicherlich in der Kürze der Zeit auch nicht herausbekommen,“ sagte Ellinor. „Ihr wisst, dass das Café heute für eine Schlägerei zwischen Befürwortern und Gegnern der Flüchtlingspolitik in ‚Kornblumenblau‘ gebraucht wird, dann sind wir nicht mehr erwünscht. Ich bin mit meinen drei Töchtern sehr glücklich und habe auch bereits zwei süße Enkelchen. Ja, was bereue ich? Ich bereue, dass ich drei Jahre Mitglied einer total lächerlichen Politsekte war.“
„Verrätst du uns auch deren Namen?“ Else nippte am Ersatzkaffee.
„Nicht so gern, Metastasen dieser Gruppierung befinden sich noch immer im Land und sind sehr prozessfreudig.“
„Und warum bereust du diese Mitgliedschaft?“
„Nun, sie verfolgten Ziele von so abstruser Absurdität, dass ich mich heute noch frage, wie ich darauf habe hereinfallen können. Der Grund war sicherlich, dass meine Eltern mir den Umgang mit dieser Partei verboten, und ich wollte mir von meinen Eltern, die in der Nazizeit brave Mitläufer, wenn nicht mehr, gewesen waren, nichts mehr verbieten lassen. Der erste Kontakt hatte sich durch einen Zufall ergeben. Ich jobbte als Kellnerin in einem Biergarten, in dem sie tagten, und sie fielen mir durch ihr absolut gesittetes Betragen auf. Als Kellnerin wurde man damals von den meisten Männern als Freiwild angesehen – aber nichts dergleichen. Sie waren nicht nur schick angezogen, sondern benahmen sich auch vorbildlich und drückten mir einen Flyer in die Hand, in dem sie sich sehr klar für eine schärfere Bestrafung des Handels und Konsums von Drogen aussprachen. Das gefiel mir, weil mein Bruder bereits an der Nadel hing.“
„Aber das ist doch ein durchaus verständliches Ziel! Auch ich kann nicht begreifen, dass es offenbar völlig unmöglich ist, dieser Pest ein Ende zu bereiten.“ Herta schaute empört in die Runde.
„Nun, das war bei weitem nicht alles! Sie führten den Drogenhandel auf die Mafia und diese auf ein Komplott zwischen CIA, KGB, Mossad, Vatikan und englischer Krone zurück. Das wurde uns in vierteljährlichen Schulungen eingetrichtert und es macht mich heute noch fassungslos, dass ich das alles geglaubt habe und dafür auf die Straße gegangen bin. Wenn im Wahlkampf die spießigen anderen Parteien an ihren Ständen standen, fielen wir blitzartig über sie her, verstreuten ihr Material in alle Winde und riefen: ‚Hängt die Hexe von Windsor!‘ So nannten wir Königin Elizabeth II. im Glauben, sie sei die Wurzel allen Übels.“
„Das ist in der Tat abenteuerlich!“ Herta schüttelte staunend den Kopf. Die Mädels machten Gesichter, als ob sie nicht wüssten, ob sie lachen oder weinen sollten. Die Tür des Cafés wurde aufgestoßen und die bunt gemischten Gruppen stürzten herein, die sich in eine Schlägerei verwickeln sollten. Die Mädels sprangen auf, offenbar mussten sie verschwinden. Aber Massimo kam lächelnd herbeigefedert und gebot ihnen Einhalt: „Ich habe mit Max gesprochen. Wir rücken euern Tisch an die Wand – und ihr unterhaltet euch weiter, als ob nichts wäre! Das gibt einen hübschen Kontrast!“ Gesagt, getan! Im Nullkommanichts saßen sie neben der Tür an der Wand, wo das Schild LUNDEN lehnte, und Ellinor berichtete über weitere unfassbare Details; so wurde diesem Komplott unter Führung der Hexe von Windsor auch die Ermordung der Brüder Kennedy in die Schuhe geschoben; und die niedrigen Wahlergebnisse der Splitterpartei beruhten natürlich, wie konnte es anders sein, auf Wahlbetrug! Und während im Saal die Fetzen flogen, Stühle zerteppert wurden und Rufe wie „Wir schaffen das!“ und „Das ist Umvolkung!“ durch die Luft flogen, verdrückten die Mädels ein zweites Stück Schwarzwälder Kirsch.
Pedro
„Wir haben eine syrische Familie bei uns im Souterrain aufgenommen. Sie haben zwei Kinder und sind alle sehr lieb.“ Herta war offensichtlich nicht wenig stolz auf ihre Liberalität und Willkommenskultur.
„So sind sie am Anfang immer,“ sagte Else. „Sie kennen hier nichts und niemand und sind völlig auf euch angewiesen. Aber lasst sie erstmal ein paar Monate hier sein, dann werdet ihr euer blaues Wunder erleben. Nein, ich beschränke mich darauf, für die Gemeinde gelegentlich zu dolmetschen. Ich kann ganz gut Arabisch, seit ich an der deutschen Schule in Amman war.“
„Bei mir wäre auch Platz für eine Flüchtlingsfamilie. Aber Pedro rät mir eindringlich ab, mich auf sowas einzulassen.“ Ute nippte am fair gehandelten Kaffee, während die anderen Mädels einander verstohlene Blicke zuwarfen. „Er sagt, es würde mich überfordern. Man wisse doch nie, sagt Pedro, was solche Leute einem an schrecklichen Erfahrungen, vielleicht an Traumata ins Haus schleppten, sie würden davon erzählen und uns damit belasten. Stellt euch z.B. vor, es sind Leute, die Zeugen der Ermordung ihrer Eltern oder ihrer Kinder geworden sind …“ Utes Gesicht war bei der bloßen Vorstellung von Fassungslosigkeit gezeichnet.
Ellinor wollte das so nicht stehen lassen. „Aber dafür nehmen wir doch Flüchtlinge auf, auch um das viele Leidvolle, dass sie erlebt haben, mit ihnen zu teilen. Ist Pedro Psychologe, dass er dir solche Ratschläge gibt?“
„Ach, habe ich euch das noch nicht gesagt? Ja, er ist seit kurzem Arzt an der jugendpsychiatrischen Klinik Avanzada in Barcelona. Wir telefonieren fast täglich miteinander, und ich bin überglücklich, ihn immer um Rat fragen zu können.“ Ute strahlte. Else aber blickte sehr verwundert in die Runde und wollte gerade eine ihrer gefürchteten Bemerkungen machen – da spürte sie plötzlich den Fuß Ellinors auf dem ihren, und Ellinor gab ihr mit einem kaum sichtbaren Hin und Her ihres Kopfes zu verstehen, dass sie den Mund halten sollte.
„Sag uns doch, warum du heute ohne Hedwig gekommen bist!“ Ellinor wollte Ute offenbar ablenken, aber das gelang ihr nicht.
„Edvigue musste bei Amandus bleiben, der seine Schmerzen nur noch unter Morphium erträgt. Pedro rät mir eindringlich ab, jemals Morphium oder Opioide zu nehmen, weil der Suchtfaktor zu hoch ist, aber Edvigue wird frech, wenn ich ihr so was sage und hat mich angeschrien: Mein Pedro könne ihr mal im Mondschein begegnen! Ich glaube, wir müssen uns dringend um sie kümmern, denn die Qualen, die ihr Mann durchlebt, machen sie verrückt vor Mitleid, Pedro sagt, Menschen können auch vor Mitleid sterben … Es tut mir leid, Mädels, ich muss raus, der Elfuhrzug kommt gleich, und Pedro hat gesagt, er komme heute, wenn alles klappt, mit diesem Zug an.“ Ute stand auf, verabschiedete sich von Herta, Else und Ellinor mit Küsschen und ging hinaus. Tiefes Schweigen herrschte am Tisch, als sie gegangen war.
„Barcelona! Avanzada!“, sagte Else kopfschüttelnd. „Warum versetzt sie ihn nach Barcelona?“
„Der Mann, von dem sie schwanger war, war doch Spanier,“ sagte Ellinor.
„Sollte nicht jemand mit gehen – um sie aufzufangen, wenn er nicht kommt?“ Herta machte sich Sorgen. Aber Else runzelte die Stirn.
„Wenn er nicht kommt, und er wird nicht kommen, weil es ihn gar nicht gibt, dann telefoniert sie mit ihm, und er kann ihr sicherlich alles zufriedenstellend erklären. Ich brauche jetzt einen Korn!“
Fragwürdigstes
Hedwig sah toll aus in ihrem schwarzen Witwenkleid von Balmain, d.h. es war ein anthrazitfarbener Hosenrock mit Weste und Bluse aus Crêpe de Chine, und sie hatte schon gesagt, dass sie anschließend noch zu den Freimaurerinnen gehen wollte. Erwartungsvoll sahen Herta, Else, Ellinor und Ute sie an. Sie waren alle auf der Beerdigung von Amandus gewesen und hatten geweint, als sie sahen, mit welcher Liebe sie die blauweiß gestreifte, von der IBM gespendete Urne mit den Armen umfing. Aber Hedwigs Eröffnung war enttäuschend. Sie berichtete nämlich nur von ihrem kaputten Receiver. Sie benötigte einen, weil sie fürs Fernsehen einen brauchte. Ihr Haus, ein alter Dreiseithof, war auf die Dachantenne angewiesen, weil es unter Denkmalschutz stand, ein Satellitenspiegel hätte die Harmonie des Denkmals verunziert – aber der Receiver funktionierte nicht, dauernd fiel er aus und musste neu booten, was besonders während eines Krimis sehr ärgerlich war, und Hedwig schaute gern Krimis. Sie erklärte die Umstände so gründlich, dass Else bereits mit den Augen rollte, was Herta gern als frommen Blick zum Himmel gedeutet hätte.
„Nun, und da habe ich Fernseh-Schmidtchen angerufen und sie haben mir diesen – Techniker geschickt, von dem ich euch erzählen muss. Ich verdanke ihm – nein, das glaubt Ihr mir einfach nicht, ich muss es anders anfangen.“ Hedwig ließ ihren Kuchen zurückgehen, sie müsse sich mit Fett und Zucker zurückhalten. Ellinor blinzelte Ute zu – sie waren sich einig, dass die frischgebackene Witwe figurbewusste Pläne für die Zukunft schmiedete.
„Ich muss ein wenig ausholen,“ fuhr Hedwig fort. „Ihr erinnert euch sicherlich an Amandus und an seine Stimme. Er war ein stattlicher Mann – in seinen guten Jahren – aber seine Stimme war ein wenig zu hoch, selbstkritisch nannte er sie seine Fistelstimme und war der Meinung, er hätte bei IBM mit einer ordentlichen Stimme ganz anders Karriere machen können. Wenn er sich aufregte und laut werden wollte, überschlug sie sich – und dann verstummte er sofort und war wütend auf sich selbst und dieses unkontrollierbare Organ … Soviel vorweg, ihr Lieben, denn was sich dann zutrug, als Herr Schlodenski, so hieß er, meinen Receiver reparierte, ist unfassbar. ‚Sie sind in Trauer,‘ sagte er und schraubte. ‚Wie kommen Sie darauf?‘, erwiderte ich schroff. ‚Das spüre ich,‘ sagte er, ‚es gehen immaterielle Algorithmen von Ihnen aus, die ich entschlüsseln kann.‘ Nun fing ich an zu weinen, denn er hatte ja Recht, und Mitgefühl von unerwarteter Seite ist so – wohltuend! ‚Und die Trauer um Ihren Mann ist besonders heftig aus einem bestimmten Grund – aber den vermag ich nicht zu entschlüsseln. Haben Sie ihm etwas Wichtiges nicht mehr sagen können?‘ Nun heulte ich noch mehr, denn es war genau das Gegenteil. Amandus ist Anthroposoph und weigerte sich, Schmerzmittel zu nehmen, und wenn die Schmerzen ihn überwältigten, schrie er so furchtbar, dass ich selbst verrückt zu werden fürchtete, ihn anschrie, als Heulsuse beschimpfte und ihm mit der Morphiumspritze drohte, aber die fürchtete er noch mehr und schrie noch lauter und mit sich überschlagender Fistelstimme: ‚Nein – nein – der Krebs tötet nur meinen Leib, Morphium tötet meine Seele!“ Ich rannte raus, schlug die Tür zu, legte ‚Je ne regrette rien‘ auf und stellte es so laut, dass ich Amandus nicht mehr hörte, rauchte mehrere Gitanes und trank Rotwein, aber als ich es zehnmal gehört hatte, merkte ich, dass er still geworden war, schaute zu ihm ins Zimmer – und da lag er mit offenem Mund in einem See von erbrochener schwarzer Galle …“
„Hör auf!“, rief Ute, „das ist nicht auszuhalten!“
„Das sagte Herr Schlodenski nicht, dem ich das erzählte. Er beendete seine Reparatur, testete den Receiver, er lief gut. Er stand auf und fragte: ‚Würde es Ihre Trauer lindern, wenn Sie noch einmal mit Ihrem Mann sprechen könnten?‘ ‚Das ist ja leider unmöglich!‘, war meine Antwort. ‚Nicht so ganz,‘ erwiderte Schlodenski. „Wenn Sie mir seinen Lieblingsplatz zeigen, könnte ich versuchen, ihn in mir immateriell zu konkretisieren. Ich leihe quasi seiner Seele meinen Leib!‘ ‚Meinen Sie das ernst?‘ Er nickte. ‚Es ist aber sehr anstrengend, weil die Berechnungen sehr komplex sind,‘ sagte er, als er sich auf Amandus‘ Lieblingssessel niederließ. ‚Was machte er hier?‘ ‚Er trank Pastis und las Le Monde. Hier liegt noch das letzte Exemplar, das er in Händen gehalten hat.‘ ‚Bring mir einen Pastis, Edvigue!‘, sagte er, lehnte sich zurück und hob die Zeitung vor sein Gesicht. Mir lief es kalt über den Rücken. Woher kannte er meinen Namen in der französischen Form? Ich brachte ihm den Anislikör, er goss ihn auf und trank ihn wie Amandus in kleinen genießerischen Schlucken. ‚Warum gönnst du mir nicht meine Ruhe?‘ fragte plötzlich die unverkennbare Fistelstimme, ich wich zurück – aber dann fiel ich auf die Knie und sagte: ‚Verzeih mir, Amandus! Ich habe dich angeschrien – und dabei warst du so tapfer!‘ ‚Ich weiß nicht, worum es dir geht.‘ ‚Verzeih mir,‘ schrie ich, ‚bitte verzeih mir, ich habe dich bis zur letzten Sekunde …‘ ‚Sei ruhig‘, schnitt er mir energisch das Wort ab und seine Stimme überschlug sich. ‚Ich danke dir, du dumme Gans! Du hast mir geholfen, los‘ … Die Zeitung sank herab, Schlodenski saß erloschen da. ‚Tut mir leid, ich habe nicht durchgehalten,‘ sagte er mit seiner normalen Stimme und stand auf. ‚Ich sagte schon, es ist sehr anstrengend und würde vielleicht sogar einen Quantencomputer überfordern.‘“ Hedwig verstummte.
Die Mädels schwiegen, Ellinor tippte die Krümel ihrer Torte auf, Herta schaute düster in ihren Kaffeesatz. Else raffte sich schließlich auf und fragte: „Hat er Geld verlangt für sein Zauberkunststück?“
„Ich habe ihm welches angeboten, aber er hat es abgelehnt.“
„Und geht es dir besser seit diesem – Kontakt?“
„Ja – etwas. Er hat mich ‚dumme Gans‘ genannt. Jetzt sind wir quitt. Und wofür er sich bedankt hat, das verstehe ich, glaube ich, auch.“
„Den würde ich gerne mal holen, um meine Großmutter zu fragen, warum sie Scharführerin beim BdM geworden ist und uns das nie erzählt hat …“ Ute begeisterte sich bei der Vorstellung, Lydia Seifert zur Rede zu stellen – und beinahe hätte sie auch noch Pedro erwähnt. Aber der war ja nicht tot, sondern lebte vergnügt in Barcelona! Aber Hedwig sagte:
„Ich habe bei Fernseh-Schmidtchen angerufen und mich für den tollen Techniker bedankt, den Sie mir geschickt haben. Doch ein Herr Schlodenski war dort nicht bekannt.“
Der Prinz
Erschöpft von den Feiertagen, trafen sich die Mädels wieder zu ihrem alldienstäglichen Frühstück im Bahnhofscafé von Sandbergen; denn LUNDEN war natürlich nur der Ortsname in der Serie „Kornblumenblau“, in Wirklichkeit lebten sie in einer Gegend, die man auch gut als Streusandbüchse bezeichnen könnte, auf einem norddeutschen Geestrücken, den die enormen Wandergletscher der Eiszeit dort hinterlassen hatten. Hedwig, war jetzt immer pünktlich, da sie keinen zu pflegenden Mann mehr hatte, was sie einerseits erleichterte, andererseits aber auch in ein abgrundtiefes Loch fallen ließ.
„Für mich waren die Feiertage die Hölle,“ sagte sie, appetitlos an einem Quarkbällchen knabbernd, mit dem sie die Schwarzwälder Kirschtorte diätetisch ersetzte. „Überall war von einem Säugling die Rede, der in einer Krippe lag – hatte nicht auch ich süße Kinder gehabt – aber als sie erwachsen wurden, zogen sie weg, ließen sich ihr Studium von uns finanzieren und seither bekomme ich nur noch vorgedruckte Grußkarten von ihnen – und kann mein eigen Fleisch und Blut nicht mehr in den Arm nehmen. Ich sollte wütend auf sie sein, weil sie nicht einmal zu Amandus‘ Begräbnis gekommen sind – aber ich kann es nicht.“ Else legte ihre Hand auf Hedwigs Hand, die sich klein wie ein Mäuschen darunter duckte.
„Vielleicht geht es dir so wie mir. Plötzlich steht ein Mensch vor dir, du erkennst ihn nicht, und er entpuppt sich als – deine Enkelin!“ Ein verhaltenes Strahlen brach aus Elses sonst so strengem Gesicht. Die Frauen schwiegen und sahen sie staunend an. Eine Enkelin? Wo sie ihr Kind doch zur Adoption weggegeben hatte? Herta sagte:
„Du hast mich ja schon angerufen und mir mitgeteilt, dass sich bei dir etwas Wunderbares ereignet habe, du wolltest mir aber nicht sagen, was. Du hast sogar von ‚gnadenbringender Weihnachtszeit‘ gesprochen – ich traute meinen Ohren kaum.“
„Dabei war der Anfang alles andere als harmonisch … Sophie hat Heiligabend ihre Mutter gebeten, ihr endlich zu sagen, wer ihr Großvater mütterlicherseits ist. Und als Carola, so wurde meine Tochter von ihren Adoptiveltern genannt, sagte, das wisse sie nicht, wurde Sophie wütend, hat meine Adresse auf dem Umschlag der Weihnachtskarte gefunden, die ich geschickt hatte, und ist durch Wind und Regen zu mir gelaufen, und da stand der klapperdürre Backfisch nun vor mir, klatschnass, und sah mich so hilfesuchend und flehentlich an, dass ich sie bei mir aufnehmen musste, auch wenn ich noch gar nicht wusste, wer sie war. Und als sie mir das verriet, musste ich sie erst einmal in den Arm nehmen und fast totdrücken …“ Else stand auf, entschuldigte sich zur Toilette und ließ die Mädels rätselnd zurück. Ellinor fasste zusammen, was sie wusste:
„Mir hat Else mal erzählt, dass sie von ihrer Zeit als Lehrerin in Amman schwanger zurückkehrte. Aber den Vater des Kindes wollte sie partout weder benennen noch beschreiben, ja, sie behauptete sogar, es gäbe keinen, sie habe in Jordanien mit niemandem geschlafen. Es habe zwar einen Schüler gegeben, der sie recht schamlos angehimmelt habe, aber um den habe sie schon allein deshalb einen großen Bogen gemacht, weil er erstens ihr Schüler und zweitens ein Prinz aus der Familie der Haschemiten war, die auch das Königshaus stellt.“ Man hörte die Toilettentür ins Schloss fallen. Ellinor sagte: „Aber dazu wird sie uns bestimmt noch was zu erzählen haben.“ Else kam zurück, sie hatte sich frisch gemacht und Make-up benutzt.
„Ist Sophie magersüchtig?“, wollte Herta wissen. „So wie du sie beschreibst, ist das anzunehmen.“
„Sie war magersüchtig. Inzwischen isst sie wieder ganz gut. Natürlich rief Carola tags darauf an und verlangte von mir, dass ich Sophie zu ihr zurückbrächte. Sie sei anorektisch und dürfe der angefangenen jugendpsychiatrischen Behandlung keinesfalls entzogen werden. Als ich ihr aber sagte, Sophie habe bei mir mit gutem Hunger zwei Teller roten Heringssalat gegessen, wollte sie mir das nicht glauben, gab aber schließlich auf und überließ mir Sophie für drei Tage, die sie dann noch mal auf vierzehn Tage verlängerte. Und ich glaube sagen zu dürfen, dass Sophie förmlich aufblüht, seit sie bei mir ist.“
„Und hast du die Frage, deretwegen sie zu dir gekommen ist, beantworten können?“ Hedwig platzte vor Neugier.
„Nein, das konnte ich nicht, denn ich weiß es wirklich nicht. Auf Wunsch meiner Klasse unternahmen wir im Herbst 1975 eine Pilgerreise zum Grab Abdallahs, eines Vorfahren dieses Prinzen, den ich in meiner Klasse hatte und der unbedingt Deutsch und Englisch lernen sollte. Wir hatten uns zu essen und zu trinken mitgenommen, denn der Ort liegt mitten in der Wüste, und ein Lastkamel trug die Zelte, die wir in der Nähe des Grabmals aufschlugen. Am Morgen des zweiten Tages fehlte Omar, der Prinz, ich fragte die anderen, ob sie wüssten wo er sei, aber sie schauten einander nur mit verhaltenem Lächeln an – sie wussten es offenbar, mochten es mir aber nicht sagen. Es war aber auch ein Mädchen in der Klasse, Laila, mit der ich in einem kleinen Extrazelt schlief, und sie sagte mir: „Omar ist in dich verliebt und steht jeden Morgen früh auf, um seinen Liebeskummer der Morgensternin vorzutragen. Das machen verliebte Männer hierzulande seit Jahrhunderten.“
Ich konnte es nicht glauben, und am nächsten Morgen gegen vier Uhr früh kroch ich aus dem Zelt, in dem ich mit Laila schlief, und sah alsbald, wie auch Omar das Männerzelt verließ. Zum Glück bemerkte er mich nicht oder dachte, ich würde nur ein natürliches Geschäft verrichten, und beachtete mich nicht weiter. Auf einer entfernten Düne hielt er an, verbeugte sich vor der Venus, die leuchtend am Himmel stand, und flehte um ihren Rat. Er habe sich in eine wunderschöne Christin, seine Lehrerin, verliebt und wisse nicht mehr, was er tun solle. „Erlöse mich von dieser Liebe, Zohra, denn sie zerstört meine Zukunft!“ Unbemerkt verschwand ich im Frauenzelt, belauschte ihn aber auch am Morgen darauf. Ich gestehe, es schmeichelte mir ungeheuer und versetzte mich innerlich in Aufruhr, dass ich unscheinbares Lehrfräulein ohne mein Zutun diesen hübschen 18-Jährigen so in Brand gesetzt hatte. Und ich rätselte auch: Sollte ich zum Islam über- und in den künftigen Harem eines Prinzen eintreten? Ich wies das als absurd von mir, aber mein Prinz rang nicht mehr lange mit seiner Zukunft. Am dritten Morgen gelobte er Zohra, so nennen sie die Venus, er wolle auf alle Ämter und Privilegien seines Standes verzichten, nur um mich zu gewinnen. Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und schrie laut: „Nein, Omar, tu das nicht!“ – und wurde vor Scham auf der Stelle ohnmächtig, denn nun hatte ich mich verraten und er wusste, dass ich ihn belauscht und in gewissem Sinne auch an seiner Liebe berauscht hatte.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Bahre, die von zwei Kamelen getragen wurde. Ich hatte großes Glück gehabt. Eine Karawane war zufällig des Wegs gekommen und hatte mich halb erfroren im Wüstensand entdeckt – und gerettet. Omar kam nicht mehr in meinen Unterricht, es hieß, er sei Staatssekretär im Außenministerium geworden. Bald darauf kehrte ich nach Deutschland zurück und fiel aus allen Wolken, als die Ärztin mir mitteilte, dass ich schwanger war. Das ist es, was ich auch meiner Enkelin erzählte, ihre tiefbraunen Augen leuchteten, sie umarmte und küsste mich und rief: ‚Jetzt weiß ich, liebste Großmutter, woher ich stamme!‘ ‚Woher?‘, fragte ich. ‚Aus Tausend-und-einer-Nacht!'“
Kardamom
„Wenn ich Durchfall hatte, gab Mutter mir Aplona, ein Apfelpulver. Das schmeckte so gut und ich war so ausgehungert, dass ich alle drei Tage Durchfall hatte!“ Ellinor war von ihrer Kindheitserinnerung gerührt. „Und erinnert ihr euch noch an Sepso? Ich hatte immer aufgeschürfte Knie, weil ich so viel rannte. Und auf die frische Schürfwunde kam Sepso, und das brannte höllisch, aber es lehrte mich, dass es Schmerzen gibt, die zu ertragen sinnvoll ist.“ Es entspann sich ein Gespräch über Medikamente und Kosmetika aus der Kindheit der Mädels.
Else lachte los bei der Erinnerung an das Birkin-Haarwasser, mit dem ihr Vater seine wachsende Glatze bekämpft hatte. An Uralt Lavendel mit der Postkutsche, das Lieblingsparfüm ihrer Mutter. „Du riechst nach Mottenpulver!“, hatte ihr Vater gesagt, wenn sie es trug. Und ihr fiel ein Satz ein, der auf jeder Nivea-Dose stand: Nivea enthält das hautverwandte Euzerit, und darauf beruht ihre Wirkung. „Auch was auf Brandt-Zwieback- und Köllnflockentüten stand, weiß ich heute noch!“, krähte sie. „Wollt Ihr es hören?“
„Bitte nicht!“ Hedwig winkte ab. „Findet ihr es nicht auch verdammt kalt hier? Ich bestelle mir noch einen heißen Kaffee.“
„Das Schild LUNDEN ist doch wieder angebracht.“ Ute hatte einen guten Draht zur Produktion von „Kornblumenblau“. „Es wird wieder gedreht, Massimo hat mir gesagt, heute sei eine action-Szene dran, es würde ein bisschen wild zugehen, er hätte zwei prima Statisten gewonnen, aber wir sollten uns nicht stören lassen, sondern nach ein paar Seitenblicken unser Gespräch ungerührt fortsetzen.“
„Stimmt genau,“ rief Massimo, der von ferne zugehört hatte. „Ute, ich mache dich zu meiner Assistentin!“ Massimo kam herbeigefedert und verteilte beige und braune Wolldecken. „Die Heizungspumpe tut‘s nicht, aber Max liebt solche Zufälle, und wir sind im Drehplan drei Tage zurück, wir können uns weitere Verzögerungen nicht leisten. Ihr seht prima aus in den Decken, das macht alles viel authentischer!“
Der Kaffee kam, er duftete köstlich nach Kardamom, und ein Teller Kunafa wurde von der hübschen Huda selbst auf den Tisch gestellt. Wer wollte denn noch Schwarzwälderkirsch haben, seit Huda ganz andere Gaumenwunder buk? Sogar Herta hatte sich zu Kunafa und Baklava bekehrt: „Die kann man ja auch genießen, ohne zum Islam überzutreten!“ Sie war stolz auf Huda, denn sie wohnte mit ihren Eltern und den Brüdern Mahdi und Abdul bei ihr und hatte von ihr die Wochentage, Monate, Zahlen und die Uhrzeit gelernt, denn die einzigen deutschen Worte, die die Familie kannte, als sie zu ihr kam, waren: Scheiße, kaputt, Arsch, verboten und ficken.
„Ich wollte dir noch mal danken, Ellinor,“ sagte Herta, während sie Huda nachsah, die sich auf unnachahmliche Weise anmutig bewegte in ihrem langen weißen Bäckerkittel. „Ohne deine Fürsprache hätte Frau Selbach sie bestimmt nicht eingestellt.“
„Else hat uns so viel aus Amman erzählt, dass ich dachte, ein bisschen frischer Wind aus dem Orient könne uns guttun. Ich hoffe, dass Hudas Brüder sich inzwischen damit abgefunden haben, dass ihre Schwester einen Job hat und sie immer noch nicht.“
„Davon profitieren sie ja auch, denn Huda gibt die Hälfte ihres Lohns zu Hause ab. Womit sie sich weniger gut abfinden, ist, dass Huda mit einem einheimischen Jungen geht -“
„- der zufällig mein Enkel Bernd ist,“ ergänzte Ellinor. „Ich habe ihn mir vorgeknöpft und ihm gesagt, dass er Huda in Gefahr bringt. Aber er sagt, das sei ihre Entscheidung, und Mahdi und Abdul seien keine Idioten. Er könne sich von Huda nicht trennen, er habe sich in sie verliebt.“
Inzwischen war es trotz kaputter Heizung im Café voll geworden, die Sänger eines Shantychors und eine Frauenturngruppe hatten sich eingefunden, alle wurden mit Decken ausgestattet, Massimo saß vereinzelt an einem Tisch und schaute minütlich auf seine Armbanduhr – er mimte einen ungeduldig wartenden Reisenden, stand aber per Handy mit Max Matzke in Kontakt. Und noch zwei weitere Gäste kamen herein. Die Mädels schenkten ihnen zunächst keine Aufmerksamkeit, denn sie waren mit dem Gedichtband beschäftigt, den Ellinor bei Books on Demand in Auftrag gegeben und mit dem Diamanten bezahlt hatte, der aus der Asche ihres Verehrers gepresst worden war. Endlich war das Büchlein herausgekommen, und Ellinor hatte ein Exemplar mitgebracht.
Die beiden jungen Männer trugen Hoodies und bestellten ausschließlich Kaffee. Herta hörte ihre Stimmen und drehte sich nach ihnen um. „Hallo Mahdi und Abdul, wollt ihr mal sehen, wo eure Schwester arbeitet?“ Sie sahen einander an und erwiderten nur „Hallo!“ In diesem Moment wurde auf der Estrade, wo die Kamera stand, eine Klappe geschlagen, Huda kam herein, einen Teller mit Apfelkuchen auf der Hand. Mahdi und Abdul sprangen auf, rissen Huda um, der Apfelkuchen lag vermischt mit den Scherben des Tellers am Boden, aber die Mädels beobachteten nur aus den Augenwinkeln, was vorging, und gaben den BoD-Band von einer zur anderen weiter, da hörte man wütend geschriene arabische Worte, zwei Schüsse fielen, die beiden jungen Männer überwanden den Widerstand von zwei Shantysängern, die sich ihnen entgegengeworfen hatten, und verschwanden.
„O mein Gott!“, schrie Herta, „das kann nicht wahr sein!“ Sie kniete neben der am Boden liegenden Huda und sah mit Entsetzen eine große Blutlache am Boden.
„That’s it!“ rief Max Matzke von der Estrade. Huda stand lächelnd auf.
„Da hast du uns aber einen ordentlichen Schreck eingejagt!“, schimpfte Hedwig. „Ce n’est pas rigolo!“ Das Filmblut und der Apfelkuchenmatsch wurden aufgewischt.
„Im ersten Moment habe ich das Blut für echt gehalten,“ sagte Herta. „Aber dann merkte ich, dass es nicht echt war.“
„Woran?“, wollte Ute wissen.
„In der Kälte hier hätte es gedampft.“
Die Hochzeit
„Dass sie nicht einmal das Ende der Trauerzeit einhalten konnte!“ Herta, auf der Rückbank sitzend, seufzte. Aber nicht nur Ellinors Eile, sich wieder zu verheiraten, hatte sie gestört. Es war die Art dieser Ehe, ihre Gleichgeschlechtlichkeit, die sie, obgleich sie seit kurzem legal war, befremdete. Nur mit Mühe hatten Else, Hedwig und Ute sie überreden können, die Einladung anzunehmen. Aber für alle war es das erste Mal, dass sie an einem Ereignis dieser Art teilnahmen. Seit dem 1. Oktober war es möglich, dass ein Mann einen Mann, eine Frau eine Frau heiratete. Ellinor und Louise hatten dieses Datum extra abgewartet, weil sie sich mit der bis dahin möglichen eingetragenen Lebensgemeinschaft nicht begnügen, sondern gleich in den Ehehafen einlaufen wollten. Die vier Mädels hielten, wie Ellinor ihnen empfohlen hatte, am Rheinufer, schälten sich aus Hedwigs Citroen, glätteten die zerknautschten Kleider, richteten die Frisuren und brauchten nur um die Ecke zu gehen, um vor der Kunsthandlung Nautschke und Grell in der Bolkerstraße zu stehen, in deren Fenstern unbegreifliche Bilder von einiger, um nicht zu sagen, riesiger Größe standen, die sie beeindruckt, aber auch verständnislos musterten. „Warum hat der Maler dort einen Strohwisch ins Bild geklebt?“, murmelte Ute ratlos. „Das ist eben moderne Kunst,“ sagte Hedwig weise, „in Paris habe ich noch viel Absurderes gesehen. Aber wo wird hier nun gefeiert?“ Drei jüngere Paare, festlich gekleidet, betraten das Haus, die Mädels schlossen sich ihnen an, durchquerten die wilhelminische Eingangspracht – und landeten nicht etwa auf einem düsteren Hinterhof mit Mülltonnen, sondern in einem Garten, in dem das Laub der Ahornbäume schon zu erröten begann, in den Ebereschen leuchteten die roten Beeren, der gepflegte Rasen war sattgrün, Blumengebinde von Dahlien und Astern standen auf den Tischen – und die glücklich strahlende Ellinor kam ihnen im schwarzen Frack entgegen, umarmte eine nach der anderen, zuletzt die peinlich berührte Herta, die ihr die Frage nicht ersparen konnte: „Hättest du nach Alfons‘ Tod nicht noch ein wenig warten können?“ „Herta, er ist doch schon vor drei Jahren gestorben! Drei Jahre habe ich ein Wesen gepflegt, das mich ebenso wenig erkannte wie ich es, das war Trauerzeit genug! Sein physisches Ende war für mich eine herbeigesehnte Befreiung!“ Schicke sexy Kellnerinnen boten Champagner auf Tabletts in Vulvenform an, und dann begrüßte die frisch Angekommenen auch Louise, ganz in weißem Tüll, auf ihrer Brust funkelte der Diamant aus Holgers Asche, Ellinor trug den ihren auf dem Revers. Louise zeigte sich total gerührt, dass die Mädels den weiten Weg auf sich genommen hatten. Ein Kamerateam war zugegen, um die Höhepunkte dieser ersten Hochzeit ihrer Art in NRW für den WDR einzufangen. „O, da ist Massimo!“, rief Ute glücklich aus, „wie schön, dass du ihn und Matzke beauftragt hast, Ellinor, da fühlen wir uns gleich wie im Café im Bahnhof Lunden!“ „Aber dies ist nicht die Serie ‚Kornblumenblau‘, dies ist Wirklichkeit!“, rief sie stolz aus einer Runde anderer Gäste, die sie baten, ein bestimmtes Gedicht vorzulesen.
„Es ist das Gedicht, mit dem unsere Liebe begonnen hat. Ich las es Louise vor – sie kannte die Gedichte ja gar nicht, die Holger an mich gerichtet hatte. Ich wollte ihr noch mehr vorlesen – aber an diesem Tage lasen wir nicht weiter!“ Sie setzte sich in ein Lederfauteuil, Louise nahm anmutig auf der Armlehne Platz, und Ellinor las mit stockender Stimme:“
„Wär ich doch eine Frau!“ Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich nicht einfach so vorlesen! Wäre einer von den Herren bereit, meinen Verehrer Holger Grell zu spielen, der Louises Mann war? Wie wäre es mit dir, Nils-Peter?“ Die Mädels steckten die Köpfe zusammen: „Das ist der Intendant des hiesigen Schauspielhauses!,“ raunte Edvigue, „mondieu, wie verloren sind wir unter so viel Prominenz!“ Nils-Peter überflog das Gedicht, dann kniete er vor Ellinor nieder und rezitierte:
„Wär‘ ich doch eine Frau! Vertrauensvoll
Kämst du zu mir mit deinem ganzen Leid,
Entrichtetest der Tränen bittern Zoll,
Ließest mich schau’n in jede Traurigkeit.
Ich böte dir der besten Freundin Brust,
Die immer Zeit hat, zuhört, tröstet, rät,
Und die, wenn du mal um dich schlagen musst,
Den Rücken hinzuhalten nicht verschmäht.
Dein Leben wäre meins und ungetrübt
Von jenem Misstraun zwischen Mann und Frau,
Das immer aufkommt, wenn es heißt, ‚er liebt,‘
Errichteten wir treuer Freundschaft Bau.
Verfluchter Phallus, der dies Glück mir raubt,
Verflucht der Zufall, der ihn angeschraubt!“
Ellinor und Louise versanken in einem nicht enden wollenden Kuss.
Zögern, Schweigen – dann lachten und klatschten die Gäste, einige riefen: „Bravo!“, und es war nicht auszumachen, ob das mehr dem Gedicht oder dem prominenten Theatermann oder dem Paar galt, das es zusammengeführt hatte. Sogar Herta lächelte zustimmend. Und wenig später wurde die Hochzeitstorte angeschnitten. Zu der sagte Ellinor: „Ich wurde gefragt, was das für Beeren sind auf dem Baiser. Nein, es sind keine Johannisbeeren, es sind Vogelbeeren. Habt keine Angst, dass wir euch vergiften wollen! Sie wurden kurz erhitzt! Eine Dichterin hat die Hochzeitstorte mitgebacken: Marina Zwetajewa.“ Sie hielt kurz inne, zeigte auf die Ebereschen ringsum und rezitierte auswendig:
„Als der Vogelbeerbaum
Die Blätter verloren
Flammte er rot:
Ich wurde geboren.
Sonnabend war’s,‘
Der Streit begann‘
Von hundert Glocken:
Evangelist Johann.
Heute noch treibt’s mich
Des bittern und heißen
Vogelbeerbaumes
Früchte zu beißen.
Und eben diese russische Dichterin – die Dichter genannt werden wollte – hat in ihrer französischen Schrift ‚Mon frère féminin‘, mein weiblicher Bruder, die Worte gesagt, die Louise jetzt sprechen möchte …“ Louise warf sich Ellinor an die Brust und seufzte in die tiefe Stille:
„Du bist meine Freundin, du bist mein Gott, du bist mein alles.“
Als die vier Mädels am nächsten Tag, noch etwas verkatert und mit zertanzten Schuhen, heimfuhren, meinte Hedwig: „Die Schrift ‚Mon frère féminin‘ muss ich mir unbedingt besorgen und daraus in ‚Alma an der Ostsee‘ vorlesen, meiner Loge.“
„Die Torte fand ich gewöhnungsbedürftig!“, sagte Else; sie hatte die Beeren vorsichtshalber diskret unterm Tisch entsorgt.
Ute kämpfte mit ihren Blähungen: „Das vegane Buffet war klasse. Aber ihr müsst mich entschuldigen – bitte mach mal ein Fenster auf, Edvigue!“
„Dass Louise Ellinor zu ihrem Gott macht, hat mir, wie ihr euch denken könnt, nicht gefallen. Aber wenigstens wurde der Evangelist Johannes erwähnt.“ Herta war entschlossen, sich mit Wenigem zufrieden zu geben. Doch die Aussicht, am Abend im Fernsehen zu sehen zu sein, bedrückte sie. „Hoffentlich erkennt man mich nicht; unsere Gemeinde lehnt das neue Gesetz entschieden ab. Ich habe darauf geachtet, Matzke immer den Rücken zuzukehren.“ Ute, Else und Hedwig hatten das Gegenteil getan und wollten Freunde anrufen, dass sie es sich anschauten. Aber alle fragten sich: Würden sie sich ohne Ellinor, die nach Düsseldorf verzogen war, noch weiterhin treffen?
Anmerkung von Quoth:
Das Gedicht von Marina Zwetajewa übersetzt von Christa Reinig
In: Marina Zwetajewa: Vogelbeerbaum
Ausgewählte Gedichte
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin