Weder – noch

Was vorher geschah

Der 16jährige Karl Rossmann wird von seinen Eltern gezwungen, nach Amerika auszuwandern, weil er das Dienstmädchen Johanna Brummer geschwängert hat. Er findet Aufnahme bei seinem reichen Onkel, dem Senator Edward Jacob in New York, dessen Gunst er sich aber verscherzt, als er die Einladung eines Freundes von Edward Jacob, Mr. Pollunder, annimmt, diesen und seine Tochter Klara zu besuchen. Klara behandelt ihn in dem ihm zugewiesenen Schlafzimmer rücksichtslos mit Jiu-Jitsu-Griffen, wirft ihn fast aus dem Fenster, er rettet sich wieder in die Hauptwohnung des riesigen Hauses, aber dort konfrontiert ihn ein anderer Freund seines Onkels, Mr. Green, mit dem Rauswurf durch seinen Onkel. Verstoßen und obdachlos begibt er sich auf die Landstraße, in einem kleinen Wirtshaus lernt er Delamarche und Robinson kennen, zwei Arbeitslose, die nach Butterford wollen, wo es angeblich Arbeit gibt. Unterwegs besorgt Karl Proviant in der Küche des Hotels Occidental, das in der Stadt Ramses liegt. Dort nimmt sich die Oberköchin Grete Mitzelbach seiner an, verschafft ihm einen Job als Liftjunge, und er freundet sich mit Grete Mitzelbachs Sekretärin an, der Schreibmaschinistin Therese Berchtold. Doch Robinson dringt betrunken ins Hotel ein und beschmutzt es, Karl Roßmann wird erneut gefeuert. Delamarche lebt inzwischen mit der übergewichtigen früheren Sängerin Brunelda zusammen, die er an Bordelle ausleiht, so an das Unternehmen 25, in das Karl sie auf einem Wägelchen bringt. Im Traum hat er die Vision eines Naturtheaters, in dem alle eine Chance haben, eine Stelle zu bekommen. In diesem Naturtheater wird Musik mit Trompeten gemacht, und eine der Trompeterinnen ist Fanny, seine alte Freundin.

Vielen Dank, KI

Karl Rossmanns Notizen

Sitze in der Buchhaltung des Unternehmens 25, benutze voller Schreiblust die Underwood, die mir hier zur Verfügung steht, und finde endlich Zeit, über das Geschehene zu berichten. Aber ich muss mich auf gelegentliche kurze Notizen beschränken, da ich hier nicht mein eigener Herr bin, sondern mit Kontrollen rechnen muss. Ich fange da an, wo mein getreuer Chronist seinen Bericht beendet hat: Bei meiner Ablieferung Bruneldas im Unternehmen 25. Sie war froh und lachte, als wir ankamen. Der Verwalter wies ihr ein Zimmer zu, ich musste auf dem Hof den ganzen Tag warten. Ein Junge, den sie „boy“ rufen, brachte mir einen Teller Bohnensuppe und eine Flasche Bier, so war es auszuhalten. Weil es kalt war, wickelte ich mich in Bruneldas Decke. Wie soll das weitergehen? Heute bringe ich sie hierhin und morgen dahin. Wir brauchen das Geld, weil Bruneldas Kasse leer ist. Sie ist leer, weil der selbstherrliche Delamarche nicht sparsam leben kann. Robinson schickt er in Wohnungen, und was der da treibt, kann man sich ausmalen. Am Abend spät kommt der Verwalter, drückt mir zehn Dollar in die Hand und sagt, das sei die Ablöse. Er wolle Brunelda behalten, weil sie das Geschäft belebe. Die Liste ihrer Vormerkungen werde immer länger. Ich soll den Wagen wieder mitnehmen und Delamarche das Geld bringen. Der wird ein Gesicht machen!

Er hat nicht nur ein böses Gesicht gemacht. Er hat getobt und mich angeschrien, die Ablöse sei ein Witz, Brunelda sei das Doppelte wert, ich hätte die Hälfte unterschlagen. Ich sagte, ich sei todmüde und müsse dringend schlafen. Aber er hörte nicht auf, mich zu beleidigen, ich krempelte meine Taschen um und zeigte ihm, was ich besaß: Nichts. Aber ich musste meine Sachen ausziehen, er suchte sie durch, schlug mir hart an den Kopf und warf mich nackt aus der Wohnung. Zum Glück stand Bruneldas Wagen noch im Hof, ich wickelte mich erneut in ihre Decke und sah zu, dass ich wegkam. Es war ja immer mein Traum gewesen, Delamarche zu entkommen. Aber ohne Kleider, nur in eine Decke gehüllt, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Außerdem blutete ich am Kopf. Wohin mit mir?, überlegte ich. Auf Brunelda war kein Verlass, aber sie war der einzige Mensch, den ich und der mich kannte. An der Bahnbrücke gab es Nischen, ich legte mich in eine hinein. Sie stank nach Urin. Aber ich wollte nur noch schlafen. Und ich schlief gut, in Schlaf gewiegt durch das Gerumpel endloser Güterzüge.

Früh am Morgen ging ich in den Hof des Unternehmens 25. In der Mitte gab es einen Brunnen mit Pumpe, ich setzte mich auf die Einfassung, obgleich ich erbärmlich fror. Da sah mich der Junge, der mir die Suppe gebracht hatte. Hallo!, sagte er und tanzte um mich herum. Offenbar brachte mein Aufzug ihn zum Lachen. Dann holte er etwas Werg und riss ein Stück von seinem Hemd ab, damit verband er mir den Kopf. Ich sagte ihm meinen Namen, und er machte Charles daraus. Seinen Namen gab er mit Tuesday an, also Dienstag. In seiner Familie hießen alle nach den Wochentagen ihrer Geburt, seine Mum hieße auch Dienstag. Dann nahm er mich mit in sein windschiefes Holzhäuschen. Da brannte ein Feuerchen und ich konnte mich aufwärmen. Er zeigte mir seine Wäsche und seine Kleider, ziemliches Gelumpe, ich suchte mir ein Hemd und einen Drillich aus, auch Socken hatte er für mich. Die Sachen waren mir alle etwas zu klein, aber ich war froh, nicht mehr nackt zu sein. Als der Verwalter mich sah, erkannte er mich nicht wieder. Aber ich erzählte ihm, dass ich ihm Brunelda gebracht hätte und auch, was Delamarche gesagt hatte. Sie ist nicht doppelt so viel wert wie zehn Dollar, sondern zehnmal so viel!, sagte er grinsend. Ich fragte ihn, ob ich bei ihm Geschäftsdiener werden könne. Er schickte mich zum Oberbuchhalter. Das war ein schwammiger Mann, der hinter jedem Satz grundlos kicherte. Er stellte mich ein, aber für sehr geringen Lohn. Meine Aufgabe ist es, das Geld vom Oberkassierer in die Buchhaltung zu bringen. Dafür benutze ich eine chromglänzende Stahlkasse, die nur vom Oberkassierer und vom Oberbuchhalter geöffnet werden kann. Wenn also etwas fehlt, kann ich es nicht gewesen sein. Tuesday fragte mich, ob ich bei ihm übernachten wolle. Ein halber Cent pro Nacht war ihm genug. In ungelenker Druckschrift hatte er einen Vertrag entworfen, den ich unterschrieb. Wir rauchten einen Stumpen zusammen. Ich dachte an Robinson und seine Zigaretten. Da fiel mir ein, dass ich als Kind von meiner Mutter ein Buch mit dem Titel „Robinson“ vorgelesen bekommen hatte. Der fand, als er auf einer Insel einsam lebte, einen Freund, das war ein Menschenfresser, und den nannte er Friday. Ich erzählte es Tuesday. Er lachte mörderisch und sagte, er sei auch ein Menschenfresser, und biss mir in die Schulter.

Wenn der Oberkassier das Geld lispelnd und zischelnd in die Stahlkasse zählt, sehe ich, dass es wahre Berge von Dollarnoten sind. Ich fragte ihn, wieviel davon Brunelda verdient hätte, er sagte, gut ein Drittel. Da 25 Frauen im Unternehmen 25 arbeiten, teilen sich 24 von ihnen die restlichen zwei Drittel, kommen also auf einen viel kleineren Betrag, im Schnitt jede auf ein Sechsunddreißigstel. Der Verwalter hatte Recht: Brunelda war Gold wert. Ich sagte dem Oberbuchhalter, was ich ausgerechnet hatte. Du kannst rechnen?, fragte er nachdenklich und kicherte. Ob Brunelda wusste, dass ich in ihrer Nähe war? Ich bat Tuesday, es ihr zu sagen, aber er sagte, ob ich verrückt sei, der Frauenflur sei für Leute wie ihn tabu, ich sollte lieber selbst gehen und mich ihr zeigen, am besten gegen Mittag, dann habe sie ausgeschlafen und die Kundschaft komme meist erst gegen Abend.

Heute wurde ich einer Buchhalterin zur Ausbildung zugeteilt. Sie heißt Fanny und ist sehr streng. Sie gab mir ein Buch über doppelte Buchführung, das studiere ich Tag und Nacht. Meine Aufgabe ist es, den jeweiligen Lohn zu errechnen. Der gesamte Tagesgewinn wird gleichmäßig auf alle Arbeiterinnen aufgeteilt, und dann werden Aufwendungen für Essen und Trinken, Zimmermiete, Seife, Parfüm, Öle, manchmal auch Medikamente und Arztkosten davon abgezogen, außerdem Verwaltungskosten. Wenn Brunelda nicht wäre, bliebe da kaum noch was übrig, aber da sie das „beste Pferd im Stall ist“, wie der Verwalter sich ausdrückt, bekommen alle etwas mehr, und das ist der Grund, weshalb die Kolleginnen sie zwar beneiden, aber auch verehren. Das hat der Oberkassier mir erzählt. Warum die Kunden sie bevorzugen, weiß ich nicht. Sie ist fett wie ein Walross, und ich würde nicht auf die Idee kommen, mit ihr machen zu wollen, wozu Johanna mich verführt hat. Im Vergleich mit Brunelda war Johanna schlank und schön. Dabei fällt mir ein, dass ich einen Sohn habe. Wie er wohl aussieht? Was wird Johanna ihm über mich erzählen? Vielleicht gar nichts, weil sie längst einen Mann gefunden hat, der ihr den Fehltritt verzeiht, aber meinen Namen nicht hören will. Dass der Junge Jakob heißt, gefällt mir. Das ist ein guter Name, und mein Onkel heißt auch so. Mein Onkel! Warum nur hat er mich verstoßen? Ich kann ihm nicht böse sein. Er hat mich streng behandelt wie mein Vater. Durch ihn habe ich Englisch und Reiten gelernt und mich in der Geborgenheit seines Hauses an Amerika gewöhnen können.

Fanny taut langsam auf und gewinnt Vertrauen zu mir. Sie nennt mich spöttisch Negro, weil ich mit Tuesday befreundet bin. Sie hilft mir, mich besser und passender anzuziehen, und findet mich weltfremd. Das bin ich wohl auch, aber nicht eigentlich welt-, sondern amerikafremd. Alles wird hier in Geld berechnet, nicht mal ein Glas Wasser bekommt man umsonst. Sie hat mir auch ein Kämmerchen angeboten, es liegt neben dem ihren, ja, sie hat mich gebeten, es zu beziehen, weil der Verwalter sie bedränge. Wenn ich in ihrer Nähe sei, werde sie sich beschützt fühlen. Tuesday weinte, als ich bei ihm auszog. Aber ich versprach, ihm den halben Cent pro Nacht weiter zu zahlen. Seit ich Buchhalter bin, beziehe ich höheren Lohn. Fanny rät mir, nie zu zeigen, dass ich mit der Arbeit fertig bin, sondern so zu tun, als sei ich immer „busy“. In Amerika muss man immer „busy“ sein, sonst gilt man als Faulenzer.

Letzte Nacht gab es ein fürchterliches Getöse im Hof: Motorengewummer, Polizeisirene, mehrere Schüsse. Ich schlüpfte in die Kleider und wollte besinnungslos raus, aber Fanny hielt mich zurück: Bleib!, zischte sie im Hinauslaufen, dich kennen sie nicht, und das bringt dich in Gefahr! Durchs Fenster konnte ich kaum etwas sehen, nur herumirrende Schatten. Fanny kam zurück: Es hat einen Mord gegeben, und einer ist verhaftet worden. Sie weinte, ich saß auf ihrer Bettkante und wusste nicht, womit ich sie trösten sollte.

Tags darauf war eine der Frauen aus der Lohnliste gestrichen; Brunelda war es nicht. Und Tuesday war verschwunden. War er der Verhaftete? Oder war er weggelaufen, schreckhaft wie er ist? Ich hoffe, dass er wiederkommt, er ist mein einziger Freund. Dies schreibe ich eine Woche später. Ich bewege mich auf dünnem Eis. Als „Negro“ genießt man hier nicht das höchste Ansehen. Aus Fanny ist nicht herauszubekommen, was passiert ist. Sie sitzt mit übergeschlagenen Beinen und unbewegter Miene über ihren Büchern. Ich liebe ihre Brauen. Sie sind schwarz und schwingen sich in eine mir unbekannte Welt. Was kann so ein Frauengesicht alles verbergen! Zwar habe ich einen eigenen Schreibtisch, der längst nicht so komfortabel ist wie der, den ich bei meinem Onkel hatte (von einem Regulator kann keine Rede sein), aber nicht sorglos sehe ich hinaus in den Hof. Tuesdays Bude ist nur noch ein Haufen durcheinander liegender Bretter und Balken. Ich könnte schon Feierabend machen, aber solange Fanny nicht geht, gehe auch ich nicht. Der Mond scheint zu mir herein und sieht mich als armen Bureaubeamten eines Unternehmens, das ich aus meinem Lebenslauf besser fernhalte. Zu unsauber ist, womit und wie hier Geld verdient wird, auch wenn auf peinliche Sauberkeit geachtet wird. Fünf Frauen putzen täglich alles aufs Gründlichste, unter ihnen Tuesdays Mutter, das weiß ich, weil sie auch Tuesday heißt und auf der Lohnliste steht. Gestern, als sie im Hof alle auf dem Brunnenrand saßen und Stumpen rauchten, rief ich ihren Namen. Eine breithüftige Frau mit grauem Kraushaar, fleischigem Gesicht und vollen Lippen sah auf. Als ich sie fixierte, kam sie langsam auf mich zu. „Ich bin Tuesdays Freund,“ sagte ich. „Dann sind Sie Charles, der Negro.“ Ich nickte. „Ich freue mich, so kann ich Grüße ausrichten von meinem lieben Sohn. Ich habe ihn besucht, er ist im Gefängnis, bald bekommt er seinen Prozess.“ „Was wirft man ihm vor?“ „Das spreche ich nicht aus, es ist eine Lüge.“ Ich bat sie, ihm einen Dollar mitzubringen, wenn sie ihn das nächste Mal besucht. „Den Dollar nehme ich und kaufe ihm Lakritz dafür, Geld würde ihm nur abgenommen von den Wärtern.“ Ich wollte ihr die Hand geben. Aber sie hielt die ihre zurück, rollte umherblickend mit den Augen und sagte gepresst: „Machen Sie sich nicht unglücklich!“

„Ich war stellenlos,“ sagte Fanny mir eines Abends, als sie sich hinter dem Vorhang, der unsere Kammern trennt, bettfertig machte. „Da stieß ich auf die Anzeige des Unternehmens 25, sie suchten eine Lohnbuchhalterin, das traute ich mir zu. Außer mir gab es mehr als ein Dutzend Mädchen, die sich bewarben, aber sie konnten entweder nicht rechnen oder hatten eine saumäßige Klaue, und so wurde ich genommen. Was stellt man sich unter einem Unternehmen 25 schon vor? Sicherlich nicht das, was es ist, und als ich es begriff, war ich schon für drei Jahre unter Vertrag und muss nun noch ein halbes Jahr durchhalten, dann bin ich weg, wenn ich nicht vorher aus dem Fenster springe.“ „Warum erschreckst du mich mit solchen Äußerungen? Lieber solltest du darüber nachdenken, was aus mir hier wird, wenn du gehst. Noch nie habe ich mich so schmutzig gefühlt wie hier, und es ist ein Schmutz, den auch die schärfste Seife nicht abwäscht.“ „Und was meinst du, was für ein Schmutz das ist?“ „Ich weiß es nicht, er ist fettig uns stinkt.“ „Was Männer und Frauen hier tun, ist etwas Natürliches, und etwas Natürliches ist nie schmutzig. Aber es muss aus Liebe geschehen und nicht für Geld, dadurch wird es schmutzig. Ja, lieber Charles, du solltest hier auch nicht bleiben, und wenn ich gehe, biete ich dir an, mitzukommen.“ „Was, wirklich, das würdest du tun?“ „Du bist auch arm dran, und trotzdem hast du dich für Tuesday eingesetzt. Du hast ein gutes Herz, vor dir muss ich mich nicht fürchten. Vor dem Verwalter fürchte ich mich, er droht mir mit Schlägen, wenn ich ihm nicht zu Willen bin. Er hat schon mehrfach versucht, wenn du nicht da warst, mich auf das Kanapee zu werfen, das ja eigentlich eher eine Chaiselongue ist, aber bisher konnte ich mich ihm widersetzen. Jetzt wo du da bist, bin ich hier im Bureau entbehrlich und soll in das verwaiste Zimmer ziehen. Aber ich bin zum Mietmädchen nicht geboren.“ Fannys Worte taten mir gut und erfüllten mich mit einem uferlosen Gefühl der Sehnsucht nach Glück, und dieses Glück hatte schwarze Brauen. „O Fanny, süßeste aller Frauen, was hast du mir angetan?“, rumorte es in meinem Inneren, „ja, nimm mich mit, wenn du fortgehst, denn ohne dich will ich hier nicht bleiben, und wo du hingehst, will auch ich hingehen!“

Hier sitze ich nun an meinem Schreibtisch, das Gaslicht rauscht über mir, und ich denke darüber nach, was aus mir werden soll. Gäbe es nicht einen besseren Posten für mich, als Buchhalter eines Katzenhauses zu sein? So nennt man in Amerika ein Bordell, auch wenn es keine einzige Katze darin gibt. Der Blick in den Innenhof ist mir verleidet, weil er mich an Tuesday erinnert, der spurlos verschwunden ist. Und verschwunden ist auch Fanny; dem Verwalter ist es gelungen, sie mit einer Mixtur aus Drohungen und Liebenswürdigkeiten gefügig zu machen, und nun steht sie auf meiner Lohnliste. Am letzten Abend hat sie sich mit den Worten verabschiedet: „Komm, Charles, lass uns das tun, was ich nun bald für Geld tun muss. Ich liebe dich und möchte, dass du mich besitzt, bevor fremde Männer gegen Bares in mich eindringen. Wenn du meine Liebe erwiderst, dann ziere dich nicht lange und erfülle meinen Wunsch!“ Ich habe ihn ihr erfüllt, und wir haben beide geweint. Ich habe ihr Grüße an Brunelda aufgetragen, sie will sie ihr ausrichten. „Sag mir, was du über Tuesday weißt!“, forderte ich sie auf. Aber sie schwieg und sagte dann: „Er hat es jetzt besser.“

Eine Tüte mit goldglänzenden Kugeln der Marke Hershey‘s lag heute Morgen auf meinem Schreibtisch, beigefügt war ein Zettel:

Liebster Karl,

ich wusste ja gar nicht, dass Du hier bist! Jetzt erreichten mich Deine Grüße durch eine neue Kollegin. Ich freue mich, dass Du in meiner Nähe bist, und habe auch Nachrichten für Dich, die Dich interessieren werden. Komm bitte morgen um 10 Uhr auf einen Kaffee zu mir aufs Zimmer, der Verwalter weiß Bescheid. Genieße die beigefügten Trüffel! Sie sind ein Kavaliersgeschenk an mich, doch ich bin üppig genug, das viele Fleisch, mit dem ich mein Geld verdiene, ist mir oft eine Last. Und verzeih mir, dass ich oft garstig war, das war ich nur, weil Delamarche mich drangsalierte. Hier führe ich ein freies Leben, und es geht mir gut!

Deine Brunelda

Ich las diese Mitteilungen mit einer Mischung aus Freude und Angst. Konnten es andere als schlechte Nachrichten sein, die sie für mich hatte? Erfreulich war, dass sie von meinem Verbleib im Unternehmen 25 gar nichts wusste! Dann beruhte meine Karriere zum Oberbuchhalter also nicht darauf, dass sie von ferne die Hand über mich hielt! Ich war allein durch meine Tüchtigkeit und die Protektion Fannys so weit gekommen! Das erfüllte mich mit gelindem Stolz, der aber bald von der Angst vor den Nachrichten, die Brunelda für mich in petto hatte, niedergewalzt wurde. Hatte das OCCIDENTAL Ermittlungen gegen mich in Gang gesetzt? Beanspruchte Delamarche weiterhin Ersatz für die angeblich unterschlagene Hälfte von Bruneldas Ablöse? Musste ich nun doch Alimente für den kleinen Jacob zahlen, den Johanna Brummer mit meiner widerwilligen und lüsternen Hilfe in die Welt gesetzt hatte? Die wildesten Spekulationen gingen mir durch den Kopf, und ich merkte, dass ich mich schuldig fühlte, obgleich ich es vielleicht gar nicht war. Hatte Johanna mich nicht verführt? Aber hätte ich nicht ein Präservativ benutzen können? Hatte ich nicht alles getan, um Robinson an der Besudelung des Hotels zu hindern? Aber hätte ich ihn vielleicht gar nicht erst eintreten lassen dürfen? Und hatte ich die Ablösesumme nicht vollständig an Delamarche abgeliefert? Aber hatte ich nicht auch wenigstens kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, ein wenig von dem Geld für mich abzuzweigen? Konnte man nicht auch für nur erwogene Verbrechen bestraft werden? Stand das nicht sogar in der Bibel?

Diese Überlegungen ermüdeten mich schrecklich. Ich schloss die Tür ab und legte mich auf das Kanapee, von dem Fanny gesagt hatte, es sei eigentlich eher eine Chaiselongue, schlief und träumte von einer Arbeitsmöglichkeit bei einem großen Zirkus. Er nannte sich „Naturtheater“ und warb auf Plakaten um Mitarbeiter mit den Worten: „Jeder ist willkommen! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt!“ Und tatsächlich: Ich wurde angenommen – wenn auch nicht als Künstler oder Ingenieur, sondern als europäischer Mittelschüler, der ich ja mal gewesen war! Und ich traf Fanny wieder – als trompetenden Engel – und Giacomo, der als Liftjunge im OCCIDENTAL mein Kollege gewesen war.

Ein fürchterliches Krachen weckt mich auf. Die Tür ist aufgebrochen worden, das Schloss liegt am Boden, und in der Tür steht, schwitzend, schwankend und heruntergekommen, Delamarche. „Hier find ich dich also, embezzler!“, lallt er. „Das wirst du mir büßen!“ Er dringt ein und beginnt, Kisten und Kasten aufzureißen, ich aber, von Schlaf und Traum gestärkt, stelle mich ihm entgegen, ringe ihn nieder auf das Kanapee und presse das Gesicht des Strampelnden so lange in die Polster, bis er erschlafft. „Entfernen Sie sich!“, herrsche ich den Betrunkenen an, „und wundern Sie sich nicht über die gesalzene Schlosserrechnung, die ich gezwungen bin, Ihnen zu schicken!“ So habe ich ihm heimgeleuchtet, und ein besseres Vorspiel zum Treffen mit Brunelda kann es nicht geben als diesen Sieg über einen verleumderischen Erpresser.

Aber ich hatte mich getäuscht. Es war ein Pyrrhus-Sieg. Das Wort hab ich bei Studienrat Dr. Krumpal im europäischen Lateinunterricht gelernt, ich hoffe, ich benutze es richtig. Es gab wieder Aufruhr und Polizei, Schüsse fielen, und am Ende war Brunelda tot, Delamarche hatte sich nicht damit abfinden können, dass sie nicht mehr für ihn arbeitete. Er hat sie unter falschem Namen besucht und erwürgt. Ich habe Brunelda nicht allzu gern gehabt, aber so ein Ende hat sie nicht verdient. Was für eines habe ich verdient? Werde auch ich auf dem elektrischen Stuhl Platz nehmen dürfen, durch den der Fortschritt Schlinge, Henkersbeil und Guillotine ersetzt hat? Nicht umsonst hält die Statue der Freiheitsgöttin ein Schwert in der hochgereckten Rechten. Und was waren das für Nachrichten, die Brunelda für mich hatte? Ich werde es nie erfahren. Noch ist ihre Leiche im Kühlhaus, der Attorney hat sie nicht freigegeben, aber zu ihrer Bestattung werde ich gehen. Sie war katholisch wie Johanna Brummer, und es ist keineswegs falsch, vorm Symbol des gekreuzigten Juden demütig den Kopf zu neigen. Das Leiden ist als solches verehrungswürdig, denn so verdient es immer sein mag, es ist doch immer Leiden. Und gibt es verdientes Leiden überhaupt? Ist nicht alles Leiden unverdient?

Alle waren da, der Verwalter, der Oberkassier, Bruneldas Kolleginnen, unter ihnen auch Fanny, die ich kaum wiedererkannte, weil sie dicker geworden war; dazu Polizisten, Geschäftsdiener (boys), und Herren aller Couleur, nein, das ist missverständlich, sie waren alle weiß, aber nicht alle trugen Pelerine und Zylinder, wie es sich gehört, sondern viele auch schlichten dunklen Rock und Schiebermütze. Sie mochten sich das Vergnügen, Brunelda besuchen zu dürfen, wohl mühsam vom Munde abgespart haben. Und, was mich erstaunte, manche waren mit ihrer Frau gekommen, gingen Hand in Hand mit ihr, schwangen das Bambusstöckchen in der linken Hand, ein Assessoire, das schwer in Mode gekommen ist, ich habe es ja zuerst in Onkel Jakobs Hand gesehen, der auch ständig damit gespielt oder es auf den Boden gestoßen hat – damals, auf dem Dampfer meiner Ankunft. Bruneldas riesiger Sarg – sie war eine riesige Frau gewesen – war mit einem Bukett aus weißen Chrysanthemen geschmückt und wurde von den Tenören und Bässen der Met, an der sie einst als Sopranistin unter Vertrag gewesen war, zu Grabe getragen. Ich weinte, und als eine Hand sich in die meine schlich, weinte ich noch mehr, denn obgleich sie fester als früher war, wusste ich doch gleich: Es war Fannys Hand. Der Trauerzug passierte einen hoch aufragenden Marmorengel und eine protzige Kapelle, hinter die zog Fanny mich, legte den Finger auf die Lippen, und ich erinnerte mich, dass es den Frauen des Unternehmens 25 strikt verboten war, Liebesbeziehungen einzugehen. Gebückt schlichen wir immer weiter fort, die Deckung von Grabmälern, Bäumen und Buchsbaumhecken geschickt nutzend. Schließlich gelangten wir an ein frisches Grab, in dem Massen von Blumen, eben noch frisch, über einander lagen und zu welken begannen, in das ließ Fanny sich fallen und zog mich mit. Sie drückte mich so fest an sich, dass mir die Luft wegblieb. Ihr aufgedunsener Körper hatte dennoch seinen Reiz nicht verloren und versuchte mich sehr, ich knöpfte mir die Hose auf, aber sie wehrte mich ab und raunte: „Nein, Charles, beschmutze dich nicht mit mir, ich bin nicht mehr die saubere Fanny, die du einst gekannt hast, ich bin eine Besudelte und Infizierte, aber ich leihe dir eine zärtliche Hand, o du mein über alles geliebter Charles!“ Im dumpfen Moderduft der Rosen, Nelken und Hyazinthen verbrachten wir eine selige Stunde, und in dieser Stunde erfuhr ich, was sich für mein Weiterkommen als nützlich erweisen sollte, aber ich wurde auch gewarnt. „Man wird dir eine Frau aufdrängen, und arglos, wie du bist, wirst du sie heiraten und mich vergessen.“ Ich widersprach ihr leidenschaftlich, versprach ihr ewige Treue – aber sie murmelte unter Tränen: „Ich bin es nicht wert. Vergiss mich!“

Ich sitze wieder an dem Schreibtisch, der mittels eines Regulators auf alle Papier- und Aktenformate eingestellt werden kann, im fünften Stock des Bureauhauses meines Onkels. Diese Karriere verdanke ich nicht dem Oberkassier, sondern allein der Information Fannys, der Brunelda erzählt hatte, dass ihr wichtigster und spendabelster Freier aus New York sei, ein Tallyman (Zollinspektor) in den Lagerhäusern am Hafen, aber sie würde sich nicht wundern, wenn er ihr Besitzer wäre. Und bei der Beisetzung Bruneldas habe eine Kollegin ihr zugeraunt: „Der Große da in Pelerine und Zylinder mit dem Bambusstöckchen, weißt du, wer das ist? Das ist ein leibhaftiger Senator aus New York, Bruneldas Tallyman!“ Ich konnte es nicht fassen. Was hatte mein sittenstrenger und prinzipientreuer Onkel mit dem Unternehmen 25 zu tun? Die Antwort drängte sich auf: Er war sein Besitzer und der Verwalter nur sein Strohmann, denn es durfte keinesfalls bekannt werden, dass er ein Cathouse besaß, und noch weniger, dass er Kunde von dessen größter Attraktion gewesen war, der ehemaligen Operndiva Brunelda. Ich hatte ihn hoch geachtet, und auch sein brutaler Entlassungsbrief hatte mich in meiner Hochachtung nicht irrewerden lassen. Aber nun fiel ein ganz anderes Licht auf ihn, nicht einmal unbedingt ein schlechtes, denn auf eine Weise, die ich noch nicht ganz verstehe, scheinen ja Bordelle auch ihren Beitraq zu Ordnung und gesellschaftlicher Stabilität zu leisten. Der Mann scheint für die Einehe nicht geschaffen. Ich fasste mir ein Herz und schrieb ihm einen Brief mit der Underwood, den ich noch auswendig weiß, weil ich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt habe:

Lieber Onkel Edward,

es ist ungewiß, ob ich Dich so noch nennen darf, da Du mich verstoßen hast, aber verwandt ist verwandt. Verzeih mir, daß ich mich unaufgefordert an Dich wende, aber der Zufall hat es gefügt, daß ich Oberbuchhalter im Unternehmen 25 geworden bin, von dem gemunkelt wird, es gehöre einem namentlich nicht in Erscheinung tretenden New Yorker Senator. In meinen Büchern taucht ein sehr gut zahlender Tallyman aus dem Hafen auf, Gordon Czech, als wöchentlicher Besucher unserer jüngst verstorbenen Brunelda; bist Du der besagte Gordon Czech? Es könnte ja sein, daß Du Dir, um Deinen guten Ruf zu schützen, ein Pseudonym zugelegt hast; denn leider ist auch in einem so freiheitlichen Land wie dem unseren der Kauf von Liebesdiensten immer noch anrüchig, obgleich es wohl nur wenige gesunde Männer gibt, die noch nie einen Dollar dafür ausgegeben haben, allein das Unternehmen 25 verzeichnet 2964 Kunden. Eine Freundin meiner Freundin will Dich auf dem Begräbnis Bruneldas gesehen haben, aber das kann natürlich ein Irrtum gewesen sein. Mit Brunelda war ich gut bekannt, leider auch mit ihrem Mörder, den der elektrische Stuhl erwartet. Wie es dazu kam, kann ich Dir, wenn es Dich interessiert, gelegentlich mündlich berichten.

Ich wage nicht zu hoffen, dass Du mir mein eigenmächtiges Fortbleiben zum Besuch von Mr. Pollunder inzwischen verziehen hast, aber ich wollte Dich wenigstens wissen lassen, dass ich ein tüchtiger Buchhalter geworden und stolz darauf bin, meinem Onkel, wenn das Gerücht denn wahr ist, weiterhin dienen zu dürfen. Dein Karl.

Des Risikos, das ich mit diesem Brief einging, war mir wohl bewusst; wochenlang wartete ich auf eine Reaktion, besonders natürlich auf den ersehnten Hinauswurf, aber er kam nicht, ja, der Verwalter war zuvorkommender denn je, auch der Oberkassier war plötzlich wie Samt und Seide, hakte meine Bücher ab, ohne sie sich anzugucken. Das einzige, was mir angekreidet wurde, war Fannys Verschwinden, denn sie war zuletzt mit mir gesehen worden. Ich wurde verhört und noch mal verhört, aber ich konnte nur sagen: Sie hatte mir nichts davon gesagt, dass sie wegwollte, geschweige denn ein Ziel genannt.

Danke, KI

Dann kam der große Tag: Ein crèmefarbener Stoddard-Dayton fuhr vor mit schwarzem Chauffeur. Er überreichte mir einen Brief, der nur die Worte enthielt: „Bitte komm zu mir zurück, lieber Neffe Karl, ich habe Dir verziehen und bereue meine übertriebene Strenge!“ Einen Augenblick zögerte ich: Sollte ich in die Höhle des Löwen zurückkehren? Dann nahm ich kurzentschlossen auf prall glänzenden Lederpolstern Platz, wurde ins Herz von New York kutschiert, in alle früheren Rechte und Räumlichkeiten wieder eingesetzt, und dann geschah etwas, das zu berichten mir offen gestanden überaus peinlich ist: Mein Onkel, ergraut und gealtert, aber sonnengebräunt, kam zu mir ins Zimmer, verschloss hinter sich die Tür, und dann umarmten wir uns nicht etwa, sondern er kniete vor mir nieder und bedeckte meine Hände mit Küssen. Aber die Macht, die ich ganz offensichtlich jetzt über ihn habe, erfüllt mich nicht nur mit Glück, sondern auch mit Angst: Wie leicht könnte er sich eines Menschen, der zu viel über ihn weiß, entledigen – über dienstbare Geister, die zu jeder Schandtat für ihn bereit wären, verfügt er genug. Die Geschäftswelt New Yorks ist brutal und rücksichtslos, und ich weiß, dass ich mit einem Bein im Grab stehe, selbst die vom Onkel ins Auge gefasste Ehe mit Clare Pollunder, deren Verlobter Mack bei einem accident ums Leben kam, wird mich nicht endgültig absichern, denn Clare ist, wie ich bei meiner Ankunft erfahren habe, zwar eine Schönheit, aber die skrupelloseste von allen.

Ich beaufsichtige seit Wochen die Lagerhäuser am Hafen, in denen es nach Nelken, Muskat, Kardamom, Zimt und Kreuzkümmel riecht. Ich hatte mal 20, mal bis zu 100 Schauerleute zu beaufsichtigen, je nachdem, wieviel zu stauen war, zu Beginn tanzten sie mir auf der Nase herum, schließlich war ich erst 18, befolgten nur widerwillig meine Anweisungen, und lachten lauthals über mein lückenhaftes Englisch.

Meiner Verlobung mit Clare hatte ich in tiefem Fatalismus entgegengesehen. Jeder andere hätte sich gefreut, die Tochter eines steinreichen Kaufmanns zu ehelichen, aber ich gruselte mich vor ihr. Hatte ich einstmals ihren roten Mund als das einzig Anziehende an ihr bewundert, erschreckte mich jetzt ihre Blässe, die sie, seit Mack, ihr eigentlicher Zukünftiger, tot war, nicht mehr mit Puder zu übertönen versuchte. Ich war für sie offensichtlich nur zweite Wahl, sie wollte auf mich nicht anziehend wirken und bemühte sich nicht im Geringsten, das zu vertuschen. Sobald das Gespräch auf Mack kam – und es kam oft auf ihn, Clares Wohnung war förmlich vollgestopft mit Schleifen und Pokalen des routinierten Reiters und Sportwagenfahrers – geriet sie schnell ins Schwärmen darüber, wie gut er zu ihr gepasst habe, sie seien wie Schlüssel und Schloss für einander gewesen, und sie könne nur hoffen, dass es ihr gelinge, ihn in der Ehe mit mir, am besten über ein schnelles Kind, zu vergessen. Ich nannte ihn mit liebevollem Spott ihren Hillbilly, aber sie entgegnete mir durchaus verärgert, ein Hillbilly sei doch wohl eher ich, sie habe in den Atlas geschaut und gesehen, dass meine Heimatstadt im fernen Tschechien von Bergen umgeben sei. Und ich solle mir keinerlei Illusionen machen: Sie wolle weder unverheiratet bleiben, noch mich lieben, ihr einziger Liebster habe die Pferde und die Automobile mehr geliebt als sie und sei schließlich ihr Opfer geworden. Ob nicht auch ich ein Anliegen hätte, das mir wichtiger sei als sie? Ich wolle, antwortete ich, weder erneut verstoßen werden (und das würde ich, wenn ich die Ehe mit ihr ausschlüge), noch wolle ich letztlich, so leid mir das tue, sie, denn meine einzige Liebe sei Fanny, meine frühere Vorgesetzte. Da funkelte Clare mich drohend an und sagte: „Oho, wie ich dir, so du mir! Aber der Unterschied ist: Mein Geliebter ist tot, deine Geliebte aber dürfte noch am Leben sein.“ Herr Pollunder, der unseren Dialog belauscht hatte, kam herein, tanzte um uns herum und rief: „Ihr bleibt nicht länger zusammen, als Edward Jacob lebt, aber was soll’s? Es sind Ehen schon unter ungünstigeren Auspizien geschlossen worden! Und lebt er lange, bleibt ihr lange zusammen, macht mir nur recht bald ein Enkelchen, ein gesundes kleines Enkelchen mit zwei gesunden kleinen Eiern!“ Clare errötete, was ihr gut zu Gesichte stand, ob der Drastik ihres Vaters, fasste mich unter dem Arm und sagte: „Komm, wir gehen nach nebenan und schreiten gleich zur Tat!“ Aber ich war wie erstarrt, und so begnügten wir uns damit, uns gegenseitig die von Diamanten strotzenden Ringe auf den linken Ringfinger zu streifen und die Liste unserer Trauzeugen und der Brautjungfern durchzugehen. Ich würde gern Renell, Giacomo und Therese aus dem Hotel OCCIDENTAL benennen, am liebsten auch Fanny, aber sie ist spurlos verschwunden.

In Europa ist Krieg. Sollte ich mich freuen, dass ich hier in Sicherheit bin? Ich bin im besten Soldatenalter, und alle meine früheren Klassenkameraden müssen an die russische Front. Zum ersten Mal denke ich jetzt auch wieder an Paulchen, meinen Bruder, den Braven, Daheimgebliebenen.[5] Freilich war er nicht brav genug, um ein freier Mann zu bleiben – er wanderte wegen einer lächerlichen Unterschlagung ins Gefängnis. Wird es ihn vor der Front bewahren? Dann wäre es ja das einfachste Mittel, der Einberufung zu entgehen, dass man kriminell wird. Eine Gefängniszelle ist doch komfortabler als der Schützengraben. Aber ich fürchte, dieser wohlfeilen Form von Drückebergerei wird man den Riegel vorschieben. Bei meinen Schauerleuten sind zwei Landsleute, Heinrich aus Pilsen, ein Schmied, er hat nur ein Auge und möchte heimkehren, um seine vaterländische Pflicht zu erfüllen, und Ernst aus Linz, er möchte in die Hotellerie, ich habe ihm das OCCIDENTAL in Ramses empfohlen. Wird meine Empfehlung ihm nützen? Vielleicht bei Grete Mitzelbach aus Wien, der Oberköchin, an die soll er sich wenden. Briefe an sie, an Therese, Renell und Giacomo hab ich ihm mitgegeben. Als wir Abschied von einander nahmen, haben wir uns umarmt und haben uns in der Umschlingung regelrecht ineinander verknotet. Er ist zierlich und fast noch hübscher als Giacomo; was ihm an Kraft beim Stauen fehlte, glich er durch Geschicklichkeit aus. Er würde als Liftjunge eine hervorragende Figur abgeben und dem ebenholzfarbenen Renell bei den Frauen Konkurrenz machen, wenn ihn nicht gar ausstechen. Ich traue ihm zu, dass er wird, was ich nie werde: Ein wahrer Don Juan, dessen Eroberungen sich auf einem schier endlosen Faltblatt, genannt Leporello, zusammendrängen. Warum tue ich mich so schwer mit den Frauen? Ich muss zu ihnen aufsehen, sie bewundern können, um wahrhaft zu lieben – aber alles endet in beschämender, dampfmaschinenartig stoßender, banaler Fleischlichkeit.

Wie sportlich und stark Clara war, hatte ich bei unserer ersten Begegnung im Haus ihres Vaters erfahren müssen, ich hatte Todesangst ausgestanden, als sie mich bezwang und fast aus dem Fenster des hochgelegenen Zimmers warf. Der sagenhaften Brünhilde gleichend, die ihren Freier Gunter fesselte und unter die Decke hängte, war sie wohl nur von Mr. Mack, ihrem Siegfried, zu bezwingen gewesen, über mich lächelte sie verächtlich und voller Mitleid. Als nun aber der Zirkus Johnny L. Jones Combined Shows in einem Vorort von New York gastierte und mit einer über alle Maßen starken Frau warb, war Clara sofort Feuer und Flamme und wollte sie erleben. In dem crèmefarbenen Stoddard-Dayton fuhr Runaway uns nach Newark. Der Zirkus war ausverkauft, aber Runaway hatte einen Freund unter den blaurot und silbern livrierten Platzanweisern, der uns auf Plätze hineinschmuggelte, die technischem Personal vorbehalten waren.

Danke, KI

Der beißende Geruch nach Großkatzen mischte sich mit dem von Pferden, Dickhäutern und Sägemehl, in drei nebeneinander liegenden Arenen fanden die Vorführungen unter schmetternder Musik in atemberaubendem Wechsel statt, und während Käfiggitter für die Löwennummer aufgebaut wurden, vertrieb uns ein Clown in viel zu weiten Kleidern die Zeit mit Kunststücken auf seiner Trompete, der er auch, wenn er sie umgekehrt hielt, blökende Töne zu entlocken wusste, dabei hielt er den Kopf auf eine Weise schräg, die mit vertraut vorkam, und dann schimpfte er mit einer unverkennbaren Frauenstimme, die, obgleich sie verstellt war, in mich einschlug wie ein Blitz. Und während Clare neben mir mit dem Opernglas die Hebekunst Sandwinas, der deutschstämmigen Athletin, verfolgte, die ihren Gatten auf dem gestreckten rechten Arm jonglierte, und sie, Clare, dabei einmal ums andere ausrief: „Enorm, wahrhaft enorm!“, hatte ich nur Augen für die bezaubernde Clownin und war entzückt, von Clare wenig später zu hören, dass ihr Daddy Anteile an den Johnny L. Jones Combined Shows halte, so dass es ohne weiteres möglich sei, Sandwina und, wenn ich es unbedingt wolle, auch die Clownin, deren Nummer ja nun eher als abgeschmackt zu bezeichnen sei, für das Rahmenprogramm unserer Hochzeitsfeier zu gewinnen.

Als Runaway mich wieder einmal zur Arbeit an den Hafen fuhr, sah er die Trauer in dem Blick, mit dem ich ihn fixierte, und er fragte mich nach dem Grund. Ich sagte ihm, dass ich mich durch ihn an einen guten Freund erinnert fühlte, den ich im Unternehmen 25 hatte und der auf Nimmerwiedersehen in der Untersuchungshaft verschwunden sei. Er fragte mich nach den Umständen, ich erzählte ihm von der unruhigen Nacht mit Polizeisirenen und Geschieße, und dass hinterher Tuesday weg und eine unserer Frauen tot war. Runaway schwieg mit einem vielsagenden, halb traurigen Lächeln. „Es ist klar, dass man ihm den Tod der Frau zur Last gelegt hat. Einen Prozess wird er kaum bekommen, und wenn, dann müsste der Attorney ihm nicht seine Schuld, sondern er müsste seine Unschuld beweisen, und das gelingt ihm nie. Nein, die Polizei wird ihn freilassen. „Was?“, sagte ich hoffnungsvoll, „dann besteht Hoffnung, dass ich ihn wiedersehe?“ Runaway schüttelte sein weises Haupt, auf dem graue Locken sich kräuselten. „Die Polizei lässt ihn frei, aber in eine erregte, von seiner Schuld überzeugte weiße Menschenmenge hinaus.“ Ich wusste genug, denn die Bilder hatte ich in den Postkarten-Auslagen von Kiosken gesehen: Weiße Männer, die sich unter einem über ihnen hängenden Schwarzen versammelt hatten und selbstzufrieden, wenn nicht sogar stolz in die Kamera feixten. „Kann ich noch etwas für ihn tun?“ Runaway lächelte und begann das Lied zu singen, das von dem „sweet chariot“ handelt, der herabkommt, um Elias zu erlösen – ich hatte es auch von Tuesday mehrfach gehört.

Heute gab mir der Onkel einen Feldpostbrief, den Paulchen an ihn geschrieben hat:

Lieber Onkel Edward,

wir haben lange nichts von Dir gehört, es geht Dir hoffentlich gut. Hat Karl, den die Eltern vor einem Jahr nach Amerika geschickt haben, sich bei Dir gemeldet? Bejahendenfalls grüße ihn bitte und sage ihm, dass ich Pate seines Jungen geworden bin, der sich prächtig macht. Ich bin an der italienischen Front am Marmolata-Gletscher, die Verpflegung hier ist besser als an der russischen, aber wir langweilen uns und frieren. Alles Gute wünscht Dir Dein Neffe Paul

Postscript: Nach dem Krieg komme auch ich und hoffe auf Deine Hilfe! D.O.

Paulchen war der Haft also entkommen, wohl weil man der Meinung war, dass Straftäter an der Front besser aufgehoben seien als im Knast. Davon sagte ich aber dem Onkel nichts. Er musste von Paulchens Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe ebenso wenig wissen wie von unserem jahrelangen Streit, den beizulegen offenbar Paulchens Absicht war, als er die Patenschaft für den kleinen Jakob übernahm. Dass dieser sich „prächtig macht“, war wohl nur eine Floskel, über die ich mich trotzdem freute, wusste ich bis dato doch gar nichts über meinen Sohn, und dann kann sogar eine Floskel beruhigen. Wie alt mochte er jetzt sein? Bei meiner Abreise war er etwa ein Jahr alt gewesen, also mochte er jetzt zwei Jahre alt sein und mit Laufen und Sprechen beginnen. Sollte Paulchen Johannas Verführungskünsten ebenfalls erliegen, würde er vielleicht nach dem Ende des Krieges, und das konnte bald sein, mit ihr und dem Stief- und Patensohn und wahrscheinlich auch mit einem ehelichen Kind hier aufkreuzen. Würde er sich mit meiner starken Stellung bei Onkel Edward abfinden können? Oder würde der Neid ihn zu Intrige und übler Nachrede veranlassen, wie ich sie von ihm kannte? Ich erwog, wenn Paulchens Einwanderung konkret werden sollte, die Nachricht von seiner Straffälligkeit einzusetzen, um ihn vom Haus des Onkels und dessen Wohlwollen abzuschneiden. Üble Nachrede würde das nicht sein, sondern nur Unterrichtung über ein Faktum. Und ich bin nicht bereit, das Kriegsbeil so bald zu begraben nur auf Grund einer Patenschaft, von der ich mir eh nicht viel Gutes verspreche.

Im Juli begannen die Ermittlungen der Bauerarbeiter-Gewerkschaft gegen Edmund Mack sen., den Vater von Clares verunfalltem Verlobten. Ihm wurde vorgeworfen, Bauaufträge mit Hilfe riesiger Bestechungssummen als scheinbar billigster Anbieter an Land gezogen zu haben, Konkurrenzfirmen waren von ihm bestochen worden, teurere Angebote abzugeben. Als der Bürgermeister nicht mehr mitspielen wollte, ersetzte er ihn durch einen Freund, dessen Wahl er sicherte, indem er die Gewerkschaft der über 10.000 Barkeeper auf seine Seite zog und ebenfalls die gesamte Hotellerie für seinen Mann werben ließ. Der wurde gewählt, aber die Times deckte die Zusammenhänge auf und klagte Mack der aktiven und die für ihn tätigen Beamten der passiven Bestechung an. Er entzog sich der Verhaftung, indem er auf Reisen nach Europa ging, um dort einem Kartell für den Wiederaufbau deutscher Kriegszerstörungen in Belgien beizutreten. Clare war empört, dass man ihren Beinahe-Schwiegervater für korrupt hielt. „Korrupt sind viele, aber nicht er!“, sagte sie. „Er hat schon als Student Bestechungsmethoden angeprangert und hat sich immer für Gesetz und Recht eingesetzt.“ Sie verabschiedete sich unter Tränen von ihm, als er das größte Schiff der Cunard-Linie bestieg, die vierschlotige Lusitania.

Ich bemühte mich, den frohen und zuversichtlichen Bräutigam zu spielen, während in meinem Innern schwarze Verzweiflung herrschte. Clare hatte sich die Haare kunstvoll um den Kopf winden lassen, so dass sie apart asymmetrisch daherkam, auch ihr Lächeln erschien mir schief, und ihr gelang die Darstellung einer glücklichen Braut noch weniger als mir die des stolzen Eroberers einer schwerreichen Frau. Sie lächelte zwar, aber ihr Lächeln war wie eingefroren und bloße Maske. Ich hatte meine goldenen Manschettenknöpfe vergessen, zum Glück war Giacomo gekommen und half mir mit seinen messingnen aus. „Ja, aber dann hast du keine!“, wandte ich ein, doch er meinte, im Blickpunkt stünde nicht er, sondern ich, und er sei mir auch zu Dank verpflichtet, weil er seit meinem Weggang wieder Liftjunge im OCCIDENTAL sei. Die Oberköchin war da, anlassgemäß in eine senffarbene Rüschenbluse und einen dunkelgrünen Stufenrock gekleidet. Sie vertrat die Stelle einer Mutter an meiner Seite. Dafür war ich sehr dankbar, die gegen mich vorgebrachten Anschuldigungen im Hotel hatten sie also nur vorübergehend verstimmt. Sie erriet, was in mir vorging. Ich hatte mich bei ihr eingehängt und schmiegte mich an sie, da raunte sie mir zu: „Noch kannst du den Kopf aus der Schlinge ziehen!“ Aber dazu fehlte mir der Mut, ich hatte die Not der Landstraße, der Stellenlosigkeit, Armut und Ohnmacht geschmeckt, dahin wollte ich nicht zurück, Clare war mein Schicksal, da musste ich durch, auch wenn ich in neue Abhängigkeiten geriet. Der zu erwartende Reichtum meiner Frau lag als schwere Hypothek auf unserer Beziehung, sie wollte, als es um die Hochzeitreise ging, auch gleich mit dem Bestimmen anfangen, aber da setzte ich mich durch und machte ihr klar, wo der Hammer hängt. Ich wollte nicht nach Venedig in ein vom Krieg zerrissenes Europa, mich reizte es viel mehr, mit Runaway in der 16fach crèmefarben lackierten und geschliffenen Stoddard-Dayton-Pullman-Limousine nach Ramses zu reisen und eine herrschaftliche Suite im Hotel OCCIDENTAL zu beziehen, weil ich neugierig war, wie sie dort mit dem Gatten einer Millionenerbin umgehen würden, den sie, als er Liftjunge im Hause gewesen war, nach Strich und Faden drangsaliert hatten. Zugegeben: Ich hatte zu wenig darauf geachtet, mir nicht die falschen Freunde zuzulegen. Aber sucht man sich seine Freunde aus? Werden sie einem nicht oft durch den Zufall gleichsam zugeteilt? Ich war in dem kleinen Wirtshaus, das ich nach meiner Verstoßung aufgesucht hatte, in ein Zimmer gelegt worden mit zwei Stellenlosen, „gelegt“ ist gut, denn es war für mich gar kein Bett da, und die beiden merkten sofort, dass ich bemittelter war als sie – sie hatten keinerlei Gepäck, ich hingegen einen vollgepackten Reisekoffer. Deshalb nahmen sie mich in hinterhältiger Kameradschaftlichkeit in ihre Wandergruppe auf, ich, aller menschlichen Bindungen beraubt, war froh, nicht mehr völlig allein dazustehen, und so wurden Delamarche und Robinson meine „Freunde“, ich setze das in Anführungsstriche, denn über argwöhnische Mitmenschlichkeit hinaus ist unsere Freundschaft nie gediehen.

Die prachtvolle, ganz in weißer Schokolade gehaltene achtstöckige Hochzeitstorte von Huyler, ein wahrer Wolkenkratzer von Hochzeitstorte, wurde hereingetragen von der stärksten Frau der Welt, Sandwina. Sie wirkte dabei so unangestrengt, lächelte so entspannt, als sei die Torte aus lauter Watte. Als ich das Messer hob, um sie anzuschneiden, zerbarst sie von innen, und ihr entstieg in weißen Schlabberkleidern die unvergleichliche Clownin mit der Trompete, in die ich mich im Zirkus der Johnny L. Jones Combined Shows verguckt hatte, weil sie mich an eine Frau erinnerte, die unwiederbringlich aus meinem Leben verschwunden war. Die Hochzeitstorte lag nun in Stücken, Clare sah sich suchend nach einem Gegenstand um, den sie stemmen und ihre Kraft mit derjenigen Sandwinas messen konnte, da trat ein Diener herein und übergab Clares Vater eine Depesche. Herr Pollunder las sie, sein Gesicht verdüsterte sich, er bat um unser Gehör, alle standen auf, denn es kam, nach seiner Miene zu schließen, nichts Erfreuliches auf uns zu. Der Wortlaut war: „Die Cunard-Linie teilt mit, dass ihr Dampfschiff HMS Lusitania von einem deutschen U-Boot vor Irland torpediert worden und gesunken ist. Es sind viele Opfer zu beklagen.“ Wir standen still und ließen die Nachricht auf uns wirken. Die Lusitania war auch mein Schiff gewesen. Mit dunklen Vorahnungen dachten wir daran, dass Edmund Mack sen. mit über tausend Passagieren an Bord war. Clare war anzusehen, wie furchtbar beunruhigt sie war, Tränen quollen ihr aus den Augen, ohne dass sie das Gesicht im Geringsten verzog. Später erfuhren wir, dass über hundert Amerikaner unter den tausend Ertrunkenen waren. Die Empörung über die „boches“ und die „huns“ war allgemein, ich hätte mich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Glücklicherweise brach Herr Pollunder die Hochzeitsfeierlichkeiten mit dem Ausdruck des Bedauerns ab, und Onkel Edward begleitete uns zu seinem Stoddard-Dayton. „Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen,“ prophezeite er, „die Stimmung kippt gegen Deutschland, und unser Land wird in den Krieg eingreifen. Aber hab keine Angst, Karl, dass du Soldat werden und gegen deine Landsleute kämpfen musst: Wir verladen Waffen, Munition und bald auch Soldaten, du bist unabkömmlich.“ Ich war darüber weniger glücklich, als er meinte; der Krieg hätte ein Schlupfloch aus dieser unguten Ehe werden können – aber das war nun auch verstopft! Runaway drehte bereits die Anlasserkurbel, da kam Onkel Edward noch einmal zurück. „Wirf doch mal einen Blick in die Bücher des Hotels OCCIDENTAL. Hier eine Vollmacht von mir, sie wird dir alle Türen öffnen. Ich habe den Eindruck, dass da mehr Geld als üblich verschwindet.“

Bei der Ankunft in Ramses kamen wir auch am Unternehmen 25 vorbei. Unter dem Vorwand, meinen dortigen Schreibtisch noch leeren zu müssen, ging ich hinein, begrüßte meinen Nachfolger, der mir bereitwillig die Gehaltslisten zeigt, denen ich entnahm, dass Fanny nicht wieder aufgetaucht war, auch wenn ich nicht überprüfen konnte, ob sie sich nicht unter einem der vielen neuen Namen verbarg. Auch der Verwalter war mittlerweile durch einen Nachfolger ersetzt, ich wurde von allen sehr respektvoll behandelt, da meine guten Beziehungen „nach oben“ sich herumgesprochen hatten. Ich suchte Tuesdays Mutter, aber sie war nicht mehr da. Sie habe sich geweigert, weiter für Weiße zu arbeiten, wurde ausfällig und habe ins nächste Bedlam verbracht werden müssen. Als ich mich dort meldete und sie sprechen wollte, erfuhr ich, dass die Patientin Tuesday einer Mitpatientin so routiniert bei der Geburt ihres Kindes beigestanden habe, dass man sie zur Haushebamme ernannte. Aber sprechen könne ich sie nicht, sie sei als Midwife an ein anderes Irrenhaus ausgeliehen worden. Ich sammelte meine Notizen zusammen (bis zum 14. Bogen lagen sie noch im Geheimfach), und als ich traurigen Abschied nahm von meiner Underwood, sah der neue Verwalter, wie sehr ich an ihr hing – und schenkte sie mir. Ich kehrte zu Clare zurück, die sich die Zeit in einem Drugstore bei Ginger-Ale damit vertrieben hatte, mit einem hübschen braunen Kellner anzubandeln, in dem ich Renell erkannte, aber er erkannte mich nicht. Das war mir sehr lieb, und es setzte sich im OCCIDENTAL fort, wo mir die Oberköchin zuzwinkerte, meine Identität aber nicht preisgab. Unserer Suite im sechsten Stock schämte ich mich – denn ich hätte sie mir nie leisten können – ich war jetzt Prinzgemahl, nicht die beste Voraussetzung, um mit Verve eheliche Pflichten zu erfüllen und einen Vorgänger auszustechen, der sich Clare offenbar tief ins Fleisch eingebrannt hatte. Auch Giacomo tat, als kenne er mich nicht. Aber einmal mit ihm allein im Lift, konnte ich nicht widerstehen, umarmte ihn und spürte seine Liebe.

Die Hochzeitsnacht verbrachte ich in einem Kabuff neben unserem Schlafzimmer, einer Art begehbarem Kleiderschrank. „Ich bin immer noch in Trauer um Mack,“ sagte Clare theatralisch, „respektiere das bitte, und zwinge mich nicht zu einem Verhalten, das seine Rechtfertigung nur in freiwilliger und gern gegebener Liebe findet! Oder bist Du mit einer bloßen Dienstleistung zufrieden?“ Mir war es recht, dass ich mich nicht bewähren musste, und so verbrachten wir die erste unserer Flitterwochen nach außen glücklich, in Wahrheit fast mit einander verfeindet, Clare war schon immer kapriziös gewesen, jetzt aber wurde sie auf gehässige Weise launisch, verabschiedete sich zu Spaziergängen durch die nächtliche Stadt, weil sie nicht schlafen könne. „Da hat es gerade wieder einen Überfall gegeben!“, wandte ich ein. „Dann lasse ich meinen Schmuck eben hier!“ „Es gibt Männer, die wollen etwas anderes als Schmuck!“ „Ich nehme Renell als meinen body-guard mit.“ Er war zwar eigentlich nur Liftboy, übernahm dienstfertig aber auch diese Aufgabe. Aber dann erfuhr Clare aus der Presse, dass unter den Opfern des Untergangs der Lusitania auch Mack sen. war. Sie weinte hemmungslos, dann wandte sie sich zu mir und sagte: „Du bist jetzt mein einziger Trost, Charles!“ Sie umfing mich zärtlich, hängte sich tränenüberströmt und wie erledigt an meinen Hals. Verlockungen, mit denen das Wesen nicht mitgeht. Das Auf und Zu, das Dehnen, Spitzen, Aufblühn der Lippen, als modellierten dort unsichtbare Finger.[6] Aber was blieb mir anderes übrig.

Zurück in New York von der wohl kürzesten und liebesärmsten Hochzeitsreise, hatte ich Polizei in meinem Bureau und musste mich einer Befragung stellen. Ob ich Landsleute bei der Arbeitsverteilung bevorzugte? Es sei aufgefallen, dass auch bei geringem Arbeitsaufkommen ein Arbeiter aus Pilsen in Österreich immer beschäftigt werde und nie zurückstehen müsse. Ich berief mich auf seinen besonderen Fleiß und auf seine Invalidität: Als Einäugiger fände er nirgends sonst Arbeit, ich würde auch andere Invalide, wenn sie arbeitsfähig seien, bevorzugt einsetzen. Es gebe noch einige Landsleute unter den Schauerleuten, die wohl gelegentlich darauf pochen würden, dass wir eine Muttersprache sprächen, aber das spiele für mich keine Rolle, ich sei inzwischen ein guter Amerikaner geworden und empfände keinerlei besondere Loyalität für mein Herkunftsland Österreich-Ungarn, für das Deutsche Reich schon gar nicht seit dem Untergang der Lusitania.

Am Abend rief mein Onkel mich zu sich. Bei einem Glas Cloverleaf Bonde Kentucky Rye, an dem ich misstrauisch nur nippte, erfuhr ich, dass Heinrich aus Pilsen, als er ein Ticket für die Rückkehr nach Europa lösen wollte, von Umstehenden auf Grund seines deutschen Akzents und seines Reiseziels als „Hun“ beschimpft worden war. Er habe die Beherrschung verloren und den Beleidiger niedergestochen. Onkel Edward schlug mir vor, mich anderwärts und unter dem anglisierten Namen Charles Rider einzusetzen. Ein deutscher Name sei momentan nicht nur nicht von Vorteil in den Vereinigten Staaten, sondern förmlich eine Belastung. Ob die Namensänderung so ohne weiteres möglich sei, wollte ich wissen, er nippte an seinem Whiskey, nickte und sagte, er habe sich ja seinerzeit auch umbenannt; wenn feststehe, dass man mit der Umbenennung keine unredlichen Absichten verfolge (dafür werde vor allem geprüft, ob man schuldenfrei sei), stehe ihr nichts im Weg, es bedürfe nur des Gangs zum Bezirksbureau. Ob er mir schon erzählt habe, wie er von Brunelda mit meinem Namen erschreckt worden sei. Er habe sich ganz der Lust in ihrem Armen überlassen, da flüsterte sie ihm plötzlich leise „Karl Rossmann“ ins Ohr, er habe gestutzt und sie fragend angeschaut, da habe sie meinen Namen wiederholt und an seinem Stutzen bemerkt, dass er ihn kannte. „Du bist der Onkel von Karl Rossmann!“, habe sie lachend gesagt und so sein Inkognito gelüftet. Er sei natürlich neugierig gewesen und habe die ganze Geschichte, wie Delamarche mich zu ihr gebracht und wie ich durch gelegentliche Bemerkungen angedeutet hätte, dass mein Onkel in New York mehrere Lagerhäuser am Hafen besitze, mit denen ja auch er, Edward, unklugerweise und im Vertrauen auf die Unerkennbarkeit seiner Identität gelegentlich geprahlt habe. Die Erinnerung an Brunelda trieb ihm Tränen in die Augen, ich wagte ihn zu fragen, ob er sie geliebt habe. „O ja, ich habe sie geliebt wie das Meer,“ erwiderte er. „In ihr zu versinken, zu ertrinken, sie war das weiblichste aller Weiber, war unsäglich erlösend. Und ich hatte doch schon für die Sängerin, die sie einmal war, geschwärmt: Keine sang Bellinis ‚Casta diva‘ wie sie – am Busen dieser Göttin zu liegen – ihre Kehle zu küssen, ihr süßes Lispeln zu hören: ‚Freundchen, ergieße dich!‘ – Ihr Tod hat mich mehr getroffen als der meiner eigenen Mutter … Aber Delamarche hat das verdiente Geschick ereilt. Er wurde vom Geschworenengericht Ramses zum Tod durch den Strang verurteilt. Ich lasse es mir nicht nehmen, seiner Hinrichtung beizuwohnen.“ Ich schauderte und wechselte das Thema: „Wo soll ich inskünftig arbeiten?“ Das sei noch nicht entschieden, sagte der Onkel, ob ich selbst keine Wünsche hätte? Darüber hatte ich nicht nachgedacht, aber plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz: „Kann ich nicht als Buchhalter für die Johnny L. Jones Combined Shows tätig werden? An dem Zirkus besitzt dein Freund Pollunder, mein Schwiegervater, doch Anteile!“ Er nickte lächelnd, und ich ergänzte: „Aber nur unter der Bedingung, dass niemand erfährt, dass ich mit dir verwandt bin. Ich schäme mich unserer Verwandtschaft keineswegs, ja, ich bin stolz, dass du nicht gezögert hast, Brunelda mit eindrücklichen Worten zu würdigen, aber wenn man weiß, wer ich bin, verschwimmt ehrliche Anerkennung meiner Arbeit mit schmeicheldem Opportunismus, und ich möchte alles meiner eigenen Tüchtigkeit verdanken. Außerdem aber kann ich tun, was ich schon im OCCIDENTAL zu deiner Zufriedenheit getan habe: In die Bücher schauen und Pollunder über Unregelmäßigkeiten Bericht geben.“ Er nickte gedankenvoll und versprach, seinen Freund darauf anzusprechen. Das zarte Pflänzchen unserer Freundschaft wurde durch dieses Gespräch nicht wenig gekräftigt.

So ist aus Karl Rossmann also Charles Rider geworden, weder Amerikaner, noch Deutscher, gar nicht zu reden von Österreicher oder Tscheche, auch weder Katholik noch Protestant, weder Jude noch Atheist. Ich bin mit Clare, die in Umständen ist, von New York nach Clearwater gezogen, wo der Zirkus überwintert, arbeite hier in der Buchhaltung und koordiniere die an alle Orte der Tournee ausgesandten Werbetruppen. Clare versucht nach Kräften, mir eine gute Frau, ich ihr ein guter Mann zu sein. Wir lieben einander nicht, versuchen aber, aus den Gegebenheiten das Beste zu machen; die Ehe verlangt ein Hinauswachsen über die Natur. Unsere Wohnung im Hotel Belleview ist fast zu schön für einen einfachen Buchhalter und führt zu Gerede unter den Kollegen: „Wie kann er sich das leisten?“ Unsere Bleibe gehört Mr. Biltmore, einem Freund Pollunders. Das Zirkusbüro hingegen ist recht bescheiden in einem fünfstöckigen Holzhaus untergebracht, dessen Wirtin sehr um mein Wohlergehen und das der anderen Mieter und Mieterinnen bemüht ist. Heute Morgen hatte ich schon gute sechs Stunden gearbeitet und erwog, einen Weg zu den Pferden und Elefanten zu machen, um mich zu erfrischen.

Ich betrat das Zimmer der Nachbarin, das so zierlich und behaglich möbliert und eingerichtet war, dass ich den Wein, den mir die Gehülfin hinstellte, sofort trank und kurz darauf einschlief. Ich träumte, ich rüttele erneut an meiner Tür und könne sie nicht öffnen, es war aber die Tür eines Stalles, die von einer alten Frau mit tiefen Runzeln bewacht wurde. Sie kam mit erhobenem Stock auf mich zu, ich war wie festgebannt und konnte mich nicht rühren, zuckte zusammen und erwachte, als sie zuschlug: Und sah Fanny vor mir, die mir besorgt und lächelnd in die Augen schaute. Sie war schlank und elegant in ein tailliertes, schwarzes Kostüm gekleidet, und ihr Lächeln war spöttisch und ein wenig ironisch und mitleidig wie ehedem. „Mein armer Charles,“ sagte sie und streichelte mir die glattrasierte Wange. „Was hat dich nur hierher geführt?“ Ich erzählte ihr, wie der Onkel mich wieder bei sich aufgenommen und zuerst als Tallyman am Hafen eingesetzt hatte, es nach dem Untergang der Lusitania aber für ratsam gehalten hatte, dass ich meinen Namen und Arbeitsplatz wechselte. „Den Job als Buchhalter beim Zirkus habe ich mir ausgesucht, weil ich dich im Clownskostüm erkannt zu haben glaubte, aber ich habe nicht gewagt dich anzusprechen, als du auf meiner Hochzeit warst. Und du, warum hast du nichts gesagt?“ „Ich wollte dir verstohlen die Hand drücken, aber dann kam die Nachricht von der Torpedierung des Schiffes.“ „Ich freue mich sehr, dich wieder gefunden zu haben, Clare ist in Umständen.“ „Das sind ja schöne Neuigkeiten,“ sagte Fanny, offenbar wirklich gerührt. „Ich war auch verheiratet, und zwar mit Johnny, dem Direktor der Johnny L. Jones Combined Shows, er hat sich zu Tode getrunken, aber auch ich bin eine Gezeichnete.“ „Was machst du im Zirkus jetzt – immer noch Clownin?“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Nein, es lachte niemand mehr über meine misstönende Trompete, ich arbeite auch wieder im Bureau und bereite die Tourneen vor, an über zwanzig Orten gastieren wir im kommenden Jahr, aber es kann sich noch alles zerschlagen, denn es ist herausgekommen, dass Deutschland versucht hat, Mexiko zum Krieg gegen uns aufzuhetzen, und darauf kann es nur eine Antwort geben. Dann aber würde die Hälfte unseres Personals an die europäische Front verschwinden, wir müssen reduzieren und nochmals reduzieren, und auch dem Publikum wird nicht nach Zirkuszerstreuungen zumute sein.“ „Und warum bist du eine Gezeichnete?“ „Ich habe ein Wundermittel aus Deutschland genommen, das mich kurzfristig geheilt hat, langfristig aber töten wird.“ „Gibt es denn noch Handel mit Deutschland?“ „Ein geheimes U-Boot soll es geliefert haben.“

Ich werde von einem Boy in die Präsidentensuite gerufen. Was will man dort von mir? Was habe ich falsch gemacht? Hätte ich mit Fanny nicht sprechen dürfen? Ein altes Kalenderbild fiel mir ein: Unter dem Bett seiner nackten Geliebten liegt der Liebhaber mit Schwert. Aber der Heimkommende ist nicht der Ehemann, sondern ein klappriges Skelett, das drohend die Sanduhr hebt. Ja, ich war noch immer in Fanny verliebt, und sie war eine Gezeichnete. Das Wundermittel, das sie geheilt hatte, enthielt Arsen und würde sie töten. Hatte ich nicht allen Grund, sie meiner fortbestehenden Leidenschaft zu versichern? Unter diesen Gedanken hatte ich das federnde Lift betreten und wurde in den obersten Stock emporgeschnellt. Was erwartete mich? Nichts weniger als – ein Gespräch mit Onkel Edward. Er war aus einem Grund zu Besuch gekommen, den er mir nicht verriet. Er begrüßte mich mit Umarmung, und ein Messerstich in meinen Rücken blieb aus. Er erkundigte sich nach meiner Arbeit und sagte, Pollunder sei sehr zufrieden mit mir und meinen Berichten über Scheinbuchungen. Dann führte er mich in den Raum nebenan. Dort saß ein in elegantes Grau gekleideter Herr mit Zwicker, durch den er mich leuchtend vor vereinnahmendem Wohlwollen ansah. Ich wurde ihm vorgestellt, er aber nicht mir, was mir nicht gefiel. Hätte ich ihn kennen müssen? Mir wurde eingeschenkt, ich glaube, es war Onkel Edwards Lieblingswhiskey Cloverleaf Bonde Kentucky Rye. Onkel Edward und der Zwicker, ich nenne ihn mal so, weil ich seinen wirklichen Namen nicht weiß, sprachen über Vor- und Nachteile eines Kriegseintritt gegen die „huns“. Urplötzlich brach es aus mir heraus: Amerikaner hätten kein Recht, uns Deutsche als „huns“ herabzusetzen; sie selbst gingen gegen einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Bevölkerung mit barbarischen Mitteln vor. So sei mein Freund Tuesday spurlos verschwunden seit dem Mord an einer Prostituierten, der ihm zur Last gelegt worden sei, aber ein Gerichtsverfahren habe er nie bekommen, sondern sei in eine Menge lynchlüsterner Männer entlassen worden. Der Zwicker sah meinen Onkel triumphierend an. „Ihr Neffe hat noch Einiges zu lernen,“ sagte er trocken. „Wie stehst du zum Kriegseintritt der Staaten?“ Die Frage meines Onkels klang so gelassen, als ginge es um ein Gericht auf der Speisekarte. „Ich würde ihn missbilligen,“ sagte ich, vom Whiskey aufgebracht. „Viele prachtvolle junge Männer würden den Tod finden für nichts und wieder nichts.“ Wieder sah der Zwicker meinen Onkel triumphierend an; offenbar hatte er mein Urteil vorausgesagt. Er wandte sich jetzt direkt an mich: „Was sagst du zu dem Versuch Deutschlands, Mexiko zum Krieg gegen uns aufzuhetzen?“ „Darf Deutschland nicht seine Interessen verfolgen wie jedes Land? Solange hier weißverkleidete Schlächter gegen die schwarze Minderheit vorgehen und Abraham Lincoln sich im Grabe umdreht, habe ich mit den Staaten keinerlei Mitleid.“ Ich musste auf die Toilette, mich übergeben. Wem ich da vorgeführt wurde, weiß ich bis heute nicht. Der Zwicker war verschwunden, als ich zurückkehrte. „Es ist gut, dass dir schlecht wurde,“ sagte Onkel Edward später. „Du hattest genug Unfug geredet. Aber du hast meinen Freund in seinem Entschluss bestärkt!“

Delamarche war hingerichtet worden, und Onkel Edward hatte der Hinrichtung nicht nur beigewohnt, sondern an ihr teilgenommen. „Wie das?“, fragte ich und er erklärte es mir geduldig. „Als ich zum vereinbarten Termin in der Haftanstalt von Ramses eintraf, mussten wir – es waren noch andere gekommen – warten und wurden mehrfach vertröstet: Wir sollten uns in Geduld fassen, es gebe organisatorische Probleme. Dann wollte man uns nach Hause schicken, weil einer der drei erforderlichen Scharfrichter fehle. Es hätten sich nur zwei gemeldet, aber der dritte sei dringend erforderlich, und man könne niemanden dazu verpflichten, die Teilnahme sei absolut freiwillig. Mehrere Besucher boten sich als Ersatz an, auch ich, obgleich ich nicht wusste, was auf mich zukam. Ich weiß nicht, warum sie mich aussuchten, aber sie haben es getan. Ich musste mich mit den beiden anderen nur an einen Tisch setzen, über den drei Fäden liefen, und auf Kommando mussten wir jeder seinen Faden mit einem scharfen Messer zerschneiden. So habe ich nun vielleicht den Tod Delamarches auf meinem Gewissen, vielleicht aber auch nicht.“ Ich staunte und ließ mir den Mechanismus von Onkel Edward erklären. „An den drei Fäden hingen drei Kugeln, zwei aus Holz, eine tödliche aus Eisen. An welchem Faden welche Kugel hing, war unerkennbar und unbekannt. Die vernichtende Eisenkugel aber hängt über eine Rolle am Strick, der dem Delinquenten um den Hals liegt. Fällt sie herab, so wird er emporgerissen und stirbt binnen weniger Sekunden durch Genickbruch und Ersticken. Aber es belastet mich nicht, ja, ich wünsche mir, zufällig den entscheidenden Faden durchschnitten zu haben. Als Mörder Bruneldas hatte er den Tod verdient, und ich freue mich, der Toten vielleicht einen letzten Dienst erwiesen zu haben.“ Sein Gesichtsdausdruck war bekümmert und treuherzig, als er das sagte – und ich fragte mich, ob er mit demselben Gesichtsausdruck auch mich, den lästigen Mitwisser seiner intimsten Geheimnisse, eines Tages um die Ecke bringen wird.

Wenige Tage später kam es zum Kriegseintritt, die jungen Männer strömten zu den Waffen, meine für den Hafen geltende Unabkömmlichstellung galt auch in Clearwater, ich war wieder ein Weder-Noch, kein richtiger Amerikaner und kein richtiger Deutscher, hin und hergerissen zwischen der Freude, nicht gegen Landsleute kämpfen zu müssen, und dem Wunsch, mich als amerikanischer GI zu bewähren. Und in noch einer Hinsicht war ich ein Weder-Noch: Weder liebte ich Clare, noch konnte ich mich zu Fanny bekennen, weder wollte ich dem Druck von Clares Schwangerschaft noch demjenigen von Fannys bevorstehendem Tod nachgeben. Es soll ja Männer geben, die nicht nur nichts dabei finden, ihrer schwangeren Frau beizuwohnen, sondern es auch als besonders reizvoll genießen; das kann ich nicht verstehen, in der werdenden Mutter keimt eine neue menschliche Existenz, diesem Wunder muss man mit Respekt, ja mit Verehrung begegnen. Ich bin sicher, Clare hätte Annäherungsversuche meinerseits schaudernd zurückgewiesen – aber sie fanden nicht statt. Wäre es nicht legitim gewesen, bei einer anderen Frau zu suchen, was ich bei Clare nicht mehr zu suchen wagte? Wie viele brave Ehemänner finden Trost bei einer Hure, wenn ihre Frau in Umständen ist! Und meine Hure wäre eine alte Freundin gewesen, der ich mit Haut und Haar in Dankbarkeit ergeben war, die zudem noch unter der Drohung eines qualvollen Arsentods stand und mich oft so flehentlich ansah – sie wollte von mir erkannt werden – um es in der Sprache der Bibel auszudrücken. Aber ist die Liebesvereinigung wirklich ein Erkennen? Ist sie nicht vielmehr die naturgewollte Verschmelzung zweier skrupelloser Egoismen? Erkennt der Elefantenbulle Maharadscha die Kuh Maharani, wenn er sie besteigt? Gestern beobachtete ich diesen Vorgang und war erschüttert – von seiner furchtbaren Zweckmäßigkeit.

Im Juli 1917 war Clare eine wahrhaft erhabene Erscheinung. Wie ein Schiff segelte sie im rotgeblümten indischen Flatterkleid durch unsere Suite im Hotel Belleview, stand auf der Terrasse und verfolgte interessiert das Ballett der schwarzen Schwalben: „Wie schnell sie sind – und wie wendig!“, sagte sie wehmütig, ihrer eigenen Schwerfälligkeit überdrüssig. Die Hebamme, die uns betreute, machte Clare Angst; sie sprach immer wieder von der ungünstigen Lage unseres Kindes und erwähnte, dass sie schon viele Frauen bei der Geburt qualvoll habe sterben sehen. Ich fuhr nach Ramses, suchte und fand Tuesdays Mutter. Sie war völlig verändert, denn eine Feldpostkarte hatte sie erreicht – von ihrem geliebten Sohn, der in Nancy in Frankreich stand und zum Sanitäter ausgebildet wurde. Ich konnte es kaum glauben, aber sie zeigte mir die Karte mit den ungelenken Druckschriftbuchstaben meines Freundes. Es war nicht leicht, sie aus Ramses wegzulocken, ich versuchte es mit Geld, aber das war wirkungslos, sie wollte einfach die Frauen nicht im Stich lassen, für sie verantwortlich war. Aber dann ließ ich mir von ihr einen Brief an Tuesdays Feldpostadresse diktieren, und die Aussicht, über mich mit ihm in Kontakt zu bleiben, ließ sie ihre wenigen Sachen packen, darunter ein Hörrohr, dass sie in Clearwater sofort auf Clares enorm gerundeten Bauch setzte, nach ein paar Minuten lächelte und sagte: „Alles in Ordnung, dem Herrn sei Dank!“ Und dann fing sie an, einen Gospel auf ihren „Lord“ zu singen, ich schaute Clare fragend an, aber sie lächelte dankbar und genoss den Gesang der Alten, als ob sie schon ihre Amme und Kinderfrau wäre.

Ich war wieder in New York am Hafen und nahm meine Arbeit da wieder auf, wo ich sie niedergelegt hatte. Onkel Edward hatte es so verfügt, weil fähige Tallymen rar waren. Von meinen früheren Arbeitern waren nur die Alten und Schwachen übrig geblieben, die anderen weilten oder kämpften sämtlich in Frankreich, und wir luden keine Sachen mehr aus, sondern nur noch Waffen und Gerät ein. Es waren Riesenmotoren darunter, wir wunderten uns, wozu sie dienen sollten, fragten aber nicht, denn unsere Tätigkeit stand unter Geheimhaltung, und es war besser, nichts zu wissen, dann konnten wir auch nichts ausplaudern. Müde heimgehend, konnte ich einmal einer Frau nicht widerstehen, deren Arm plötzlich so zutraulich, aber auch heischend unter meinem gewesen war. Willenlos ließ ich mich von ihr abführen. An der Wand ihres Zimmers hing eine Karte der Körperzonen einer Frau und wieviel deren jeweilige Benutzung kostete, ähnlich den Bildern, auf denen die Partien eines Schlachttiers benannt werden: Lende, Hüftdeckel und Steak. Als es ans Bezahlen ging, musste ich feststellen, dass ich teure Vorlieben besaß, aber zum Glück war ich nicht arm, und noch heute träume ich manchmal von mattbraunen Hügeln, bewachsen mit zartem Flaum, die mir ins Gesicht schwellen. Ich sah sie nachdenklich an, als ich mich anzog, und sie fing von selbst an zu reden; ihr Mann sei Korporal, jetzt bei einer Einheit in Frankreich, und er habe sie schon hier betrogen und werde es auch in Frankreich tun, wo man doch wisse, wie leichtfertig die Französinnen seien, aber er schreibe ihr regelmäßig, erkundige sich nach den beiden Kindern und schwärme von den Tanks, die in Frankreich zusammengebaut würden, nur die Motoren kämen aus den Staaten, und gedeckt durch diese Tanks könnten die „huns“ ihn nichts anhaben. Ich bin der Korporalsfrau sehr dankbar, denn sie hat mir einen Johnny übergezogen, und so kann ich hoffen, einer Kur durch das teuflische Salvarsan nicht zu bedürfen.

Clearwater schwieg. Vergeblich hatte ich versucht, den Onkel umzustimmen, dass ich bis zur Geburt unseres Kindes bleiben könnte. Nein, er brauche mich sofort. Also war ich gefahren, und es beruhigte mich, Clare in Mutter Tuesdays Obhut zu wissen. Der vorausgesagte Geburtstermin verstrich – nichts. Ich rief an und hörte, dass Clare nicht zu sprechen sei, sie fühle sich sehr elend. Ob das Kind da sei. Ja, es sei da, aber kurz nach der Geburt verstorben. Ich verlangte, Tuesdays Mutter zu sprechen. Aber sie blieb am Telefon fast stumm, murmelte nur etwas wie: „Er ist beim Herrn!“, und stimmte wieder den Gospel auf ihren „Lord“ an. Obgleich ich Clare nicht liebte, tat sie mir doch leid, all die Mühsal der Schwangerschaft war umsonst gewesen, und auch ich hatte auf das Kind gehofft, war es doch mit liebloser Liebe teuer erkauft und hätte der Zwangsgemeinschaft von Clare und mir Festigkeit und einen Sinn verleihen können. Ich wollte nach Clearwater, um Clare zu trösten und nach New York zu holen, aber wenn ich mein Motiv genau untersuchte, wollte ich vor allem Fanny wiedersehen und war deshalb froh, als der Onkel es mir verbot mit den harschen Worten: „Was willst du dort? Das Kind ist tot, und dein Kommen erweckt es nicht wieder zum Leben.“ Also blieb ich, verlud mit meinen Leuten weiter die riesigen Motoren, sah weder Clare noch Fanny und schon gar nicht meinen toten Sohn, der wohl anonym auf irgendeinem Friedhof verscharrt worden war.

Ich erhielt einen Brief von Therese Berchtold, der Sekretärin der Oberköchin, mit der ich im OCCIDENTAL befreundet gewesen war. Er hatte folgenden Wortlaut:

Lieber Karl,

so nenne ich Dich weiterhin, obgleich ich weiß, dass Du Dich umbenannt hast in Charles, aber in dieser englischen Form will mir der Name nicht über die Lippen und in die Maschine. Ahnungs- und kenntnislos, wie ich bin, habe ich einen großen Fehler gemacht. Ich bin auf die Liebedienerei Renells hereingefallen, er nannte mich seine „süße Pomeranze“, und das Einzige, was mich tröstet, ist, dass ich nicht die erste und sicherlich auch nicht die letzte Dumme bin. Er hat mich geschwängert und dann behauptet, das Kind sei nicht von ihm. Er redet kein Wort mehr mit mir, und ich möchte hier weg, um ihm nicht täglich erneut über den Weg zu laufen. Wüsstest Du nicht eine Position für mich? Ich kann Deutsch, Englisch und habe mir durch Renell, der zeitweise in Neapel lebte, auch Italienisch in den Grundzügen angeeignet. Deine Adresse habe ich von der Oberköchin, die auf Deiner Hochzeit war und noch heute davon schwärmt, was für ein schönes Brautpaar Ihr wart. Ich will Dir aber auch nicht verschweigen, dass Renell sich in der Zeit, als wir noch mit einander sprachen, gerühmt hat, er habe auch Clare „gehabt“, die sich ihm förmlich an den Hals geworfen und gesagt habe, dass sie Dich hasst. Mag das nun wahr sein oder auch nicht, als selbst gebranntes Kind wollte ich es Dir gesagt haben. Bitte erinnere Dich unserer Freundschaft und hole mich nach New York! Deine Therese

Es rührte mich, dass Therese sich meiner erinnerte, und es belustigte mich zu denken, dass ich damals, als ich mich auf Renell als Clares body-guard verließ, den Bock zum Gärtner gemacht hatte. Aber war es nicht auch möglich, dass er einer dieser Aufschneider war, die so gut wie jede Frau, die ihren Weg kreuzt, erobert haben wollen? Und es tröstete mich fast, dass der „stillgeborene“ Sohn (wie man hier sagt) vielleicht gar nicht von mir war.

Es war ein sehr herzliches Wiedersehen, als ich Therese in New York empfing und sie in ihre Arbeit als meine Sekretärin im Kontor der Lagerhäuser einwies. Der Onkel hatte eingesehen, dass ich überfordert war, die Verladungen zu beaufsichtigen und zugleich alles zu organisieren und darüber Buch zu führen, und hatte mir die Hilfskraft bewilligt. Da sie im fünften Monat war, kam es ihr sehr gelegen, dass sie sich keine Wohnung suchen musste, sondern wie im OCCIDENTAL ein Zimmerchen in meinem ohnehin viel zu großen Flat beziehen konnte. Durch diese Nähe konnte sie mir abends noch mancherlei erzählen, was Renell und sie betraf. Am tiefsten habe es sie verletzt, dass er, als sie ihm ihre Schwangerschaft mitteilte, empört sagte: „Warum habe ich mich nur auf eine simple Schreibmaschinistin eingelassen? Provozieren mich nicht eleganteste Damen in den oberen Suiten täglich mit Klagen über ihre Einsamkeit? Ich hätte mir gleich denken können, dass du versuchen würdest, mich durch eine Schwangerschaft hereinzulegen, die, wenn sie nicht nur vorgetäuscht ist, sicherlich einen anderen Vater hat! Aber da bist du an den Falschen geraten!“ „Es stimmt,“ sagte Therese unter Tränen, „eine elegante Dame bin ich nicht, sondern nur eine simple und auch noch unausgebildete Schreibmaschinistin!“ Ich legte beruhigend meine Hand auf ihren Arm, aber sie weinte nur noch mehr. Und im Laufe der Zeit trat für mich das Kind, das sie erwartete, an die Stelle dessen, das Clare und ich verloren hatten. Warum bedarf es immer der Verzweiflung, damit wir Erlösung finden? Ist beides dasselbe? Aber schon in der Nacht von Thereses Ankunft hatte ich, als sie zu Bett ging, beim Anblick ihrer zierlichen, sich deutlich rundenden Gestalt plötzlich die Eingebung, dass sie ein farbiges Kind gebären würde und dass auch das Kind Clares farbig war und dass es als beschämender und unwiderleglicher Beweis ihrer Untreue hatte sterben müssen. Allein Mutter Tuesday konnte mir Gewissheit verschaffen. Und dass es an der Zeit war, zu handeln, wurde mir klar, als Mr. Pollunder mich besuchte und mir bei einem Glas Cloverleaf Bonde Kentucky Rye mit allen Anzeichen des Bedauerns mitteilte, seine Tochter habe bei Gericht den Antrag auf Ehescheidung eingereicht. Grund: abandonment (Vernachlässigung).

Der europäische Kriegsschauplatz erschütterte uns einerseits mit Sieges-, andererseits mit Schreckensmeldungen, wobei sich beides auch manchmal überschnitt, weil der Preis eines Sieges oft genug eschrecklich war. Ich träumte, ich sei Soldat und müsse eine steile Anhöhe hinaufkraxeln. Ich erwartete oben eine Straße oder einen Weg. Aber es war nur ein Grat oder First und ging auf der anderen Seite ebenso steil hinab. Es ist klarer als irgendetwas sonst, dass ich, von rechts und links von übermächtigen Feinden angegriffen, weder nach rechts noch links ausweichen kann, nur vorwärts, hungriges Tier, führt der Weg zur essbaren Nahrung, atembaren Luft, freiem Leben, sei es auch hinter dem Leben.[8] Von Sanitätern höre ich, dass sie von verwundeten Feinden zurückgewiesen werden, weil sie farbig sind, ja, von einem hörte ich, dass ein verletzter Deutscher, der „Wasser! Wasser!“ gerufen hatte, mit dem Messer auf ihn einstach, als er ihm die Flasche reichte. Ob Tuesday Derartiges auch zu berichten hätte? Vielleicht hatte seine Mutter Post von ihm – ein weiter Grund, nach ihr zu suchen, denn aus Clearwater war sie verschwunden, da Clare, die zu ihrem Vater zurückgezogen war, keine Verwendung mehr für sie hatte. Aber wir, Therese und ich, hatten Verwendung für sie!

Therese machte mich auf eine Anzeige in der Times aufmerksam:

Bleachery Jonathan

Bei uns wird nicht die Wäsche weiß, sondern der ganze Mensch! Erfüllen Sie sich einen Traum, lassen Sie sich bleichen! Sind Sie schwarz? Braun? Rot? Gelb? Dann sind wir Ihre Adresse! Nur als Weißer sind Sie vollwertig! Modernste Technik aus Deutschland! Viele Betten! Beste Verköstigung und Pflege! Angemessenes Honorar! Rabatt für Arbeitslose, Kinder und Alte! Kommt zu uns alle, die ihr mühselig und beladen seid!
Bleachery Jonathan
21 St. John`s Lane New Orleans LA tel. 3244

„Wenn das wirklich funktioniert,“ sagte sie, „dann lass ich mein Baby da bleichen. Schau dir mal diese Abbildung an: Vorher – nachher … Von Kohlrabenschwarz zu Lilienweiß! Was hältst du davon? Warum ein Kind mit der Last einer falschen Hautfarbe in die Welt schicken?“ Ich war skeptisch. „Es ist nicht nur die Hautfarbe,“ sagte ich. „Ein gebleichter Farbiger sieht immer noch aus wie ein Farbiger, er sieht aus wie ein Albino seiner Rasse. Mundpartie, Haarkräuselung, Kopf-, Nasen- und Augenform … Und womöglich wird man gebleichte Farbige noch schlechter behandeln als ungebleichte, wird sie als Betrüger bezeichnen, zumal ihre Kinder doch sicherlich auch wieder farbig werden. Nein. Davon halte ich nichts“. „Aber ansehen sollte man es sich,“ beharrte sie. „Meine Cousine Helen in New Orleans lädt mich schon seit Jahren ein, ich soll sie besuchen und Mardi Gras mit ihr feiern …“ Wir schauten auf den Kalender. Karneval war in diesem Jahr passend zu meinen Urlaubsplänen, also sagte ich zu, obgleich ich mir nicht vorstellen konnte, dass der Mardi Gras sehenswert sein würde; denn der Krieg dauerte an – die „huns“ waren zäher als gedacht. Ich machte mir nur Sorgen um Therese, die zum Zeitpunkt der Reise im achten Monat sein würde. Aber es bedrückte sie zu sehr, ein Mulattenkind auf die Welt zu bringen, sie wollte die „bleachery“ unbedingt in Augenschein nehmen, weil sie als gute Mutter eine Chancenverbesserung für ihr Kind auf jeden Fall wahrnehmen wollte. Es gebe jetzt nicht nur immer schnellere Automobile, sondern auch Flugzeuge, die sogar im Krieg eingesetzt würden, und Nachrichten könnten auf elektrischen Wellen nicht nur per Draht, sondern auch durch die Luft vermittelt werden – warum solle der allgegenwärtige Fortschritt nicht auch die Rassenfrage überwinden, indem ein Mittel gefunden wurde, die Vielfarbigkeit der Menschheit zu vereinheitlichen? Und alle ins Tintenfass der Schwärze zu stecken (wie es im „Struwwelpeter“ getan wurde, an den ich mich erinnerte) wäre grausam gewesen.

Onkel Edward war nicht sonderlich erbaut, als er von meinen Reiseplänen erfuhr, aber es genügte, dass ich ihn an den Todestag Bruneldas in zwei Wochen erinnerte, um ihn zum Einlenken zu bewegen. „Lieber Charles,“ sagte er zugleich freundlich und drohend, „ich hoffe, dass du weiterhin ein loyaler Mitarbeiter der Edward Jacob, Haul and Storing Company bist. Denn dieses Land unterhält Heerscharen käuflicher Weiblichkeit, ist offiziell aber von geradezu viktorianischer Prüderie.“ Was hätte ich darauf erwidern sollen? Selbst ein markiges „Selbstverständlich!“ hätte gelogen sein können, und die Rückfrage „Wie kannst du daran zweifeln?“ hätte frech geklungen; deshalb nickte ich nur stumm und schlug die Augen nieder. Als Ziel der Reise gab ich den Mardi Gras in New Orleans an, aber das war nicht sehr klug; Onkel Edward sagte: „Denk dir was Besseres aus! Mardi Gras ist für die Dauer des Krieges abgesagt.“ Zum Glück fiel mir Sarah ein und ich behauptete einfach, sie habe uns zur Taufe ihres Sohnes eingeladen. „Ist das Kind Thereses von dir?“ wollte der Onkel noch wissen. Das bejahte ich kühn und sagte: „Der Tod von Clares Kind war, nachdem sie die Scheidung beantragt hatte, anders nicht zu verkraften.“ Ich hatte gehofft, er würde mir den Stoddard Dayton für unsere Fahrt nach New Orleans anbieten, aber das unterblieb, und so erwarb ich einen gebrauchten Ford T, den uns Runaway wieder auf Vordermann brachte. Ich wollte ihn als Chauffeur anheuern, aber: „Ich muss einrücken,“ sagte er traurig. „Mein Vetter Homer ist für euch der richtige, er ist zwar erst fünfzehn, fährt aber wie ein Teufel.“ Homer stellte sich bei mir vor. Er war noch dunkler als Runaway. Er fuhr wirklich wie ein Teufel, vermochte aber so hinreißend zu lachen (er fiel beim Lachen in ein hohes Kichern), dass wir ihn richtig lieb gewannen, und auch wenn Therese manchmal befürchtete, die Schlaglöcher, durch die wir bretterten, könnten eine Frühgeburt auslösen, es geschah nicht, und wir kamen in der Blechliesel gut und trotz strömenden Regens einigermaßen trocken bei Sarah an.

Sarah lebt in einem Haus, das auf senkrechten und schrägen Beinen steht, um bei Überschwemmungen, die nicht selten sind, geschützt zu sein; es ist einer Spinne nicht unähnlich. Wir mussten auf einer Leiter ins Wohnzimmer hinaufsteigen, und Therese wurde von einer Schar Kinder mit Freudengeschrei begrüßt, während ich kaum Beachtung fand. Sarah bedauerte, dass der Mardi Gras wegen des Krieges nicht stattfinde, und wollte wissen, was wir an seiner Stelle sehen wollten. Ich schlug die französische Oper vor, in der gerade „Die Hugenotten“ von Meyerbeer gespielt wurde, beim gemeinsamen Essen zog Therese aber die Anzeige aus der Times aus der Tasche und fragte Sarah, ob sie von der Bleachery Jonathan schon gehört habe. O ja, die sei Stadtgespräch, und es hätten schon viele ihren Obolus entrichtet, um sich bleichen zu lassen, aber Dr. Jonathan, der Hautarzt, bestehe darauf, dass erfolgreich Gebleichte in anderen Gegenden und Städten ein neues Leben anfingen, weshalb sie nach der durchaus nicht ganz schmerzfreien Prozedur sofort mit geänderten Papieren fortgeschafft würden. Sie selbst habe noch nie einen Gebleichten zu Gesicht bekommen, und Weiße hätten zur Bleachery auch keinen Zutritt. Wir berieten, was zu machen sei. Homer war unsere Rettung. Er musste sich als Bleichwilliger einführen und darauf bestehen, dass wir ihn begleiten durften. Wir bekamen noch Karten für die „Hugenotten“, weil viele Abonnenten in Europa Soldat waren und ihre Strohwitwen die Tickets zurückgegeben hatten, und erlebten einen herrlichen Opernabend mit Valida Castelli als Marguerite, Königin von Navarra. Die Castelli soll ein mit Kopfstimme singender Mann sein, der sich so dem Militärdienst in seiner Heimat entzieht. Wie klug! Bei ihrer Auftrittsarie „Oh beau pays de la Touraine“ schlich sich die Hand Thereses leise in die meine, und ich drückte sie fest.

Tags darauf schon mussten wir uns im „queuing up“ üben, denn der Andrang vor dem unscheinbaren Gebäude, an dem nur ein schlichtes Messingschild hing, war enorm: „Dr. med. Jeremy Jonathan, Dermatologist, Modern Therapies“. Therese und ich waren die einzigen Weißen in der Schlange und wurden von der einlassenden Dame auch prompt zurückgewiesen. „Gibt es keine Beratung für Mütter, die ein farbiges Kind erwarten?“, fragte ich mit Blick auf Homer. Wir hatten uns geeinigt, ihn zum Vater des Kindes zu erklären. Aber nur er und Therese bekamen einen Passierschein. Ich verbrachte die Zeit mit Zeitungslektüre in einer Bar bei einem Bol Milchkaffee und einer pludrigen Brioche. Die Presse stimmte unisono ein Heldenlied an auf die bravouröse Tapferkeit unserer Soldaten und die technische Überlegenheit unserer Tanks in der Schlacht von Cambrai, aber ich war weder auf dieser, noch auf der Seite der „huns“, ich schauderte bei der Vorstellung, egal auf welcher Seite selbst in eine solche Blutmühle zu geraten. Als Therese mit Homer zurückkam, beschrieb sie ausführlich den Saal von drei Dutzend Betten, auf denen die Patienten lagen und im Schein eines Strahlers langsam gedreht und gebleicht wurden. Alles war in Weiß gehalten, schwarze Schwestern gingen mit Erfrischungen von Bett zu Bett, und in der Mitte des Saals spielten schwarze Musiker auf Klavier, Geige und Banjo einen Schwindel erregenden ragtime. Vereinzeltes Stöhnen und Klagen sei zu hören gewesen, aber den Verursachern sei zu trinken gereicht worden, und sogleich verstummten sie. Kinder habe sie keine gesehen, sagte Therese, aber man habe ihr gesagt, dass auch Säuglinge gebleicht würden, wenn beide Eltern damit einverstanden seien. Sie habe sich aber überlegt, dass sie ihr Kind nur hierher geben wolle, wenn sie einmal ein gebleichtes Kleinkind, dem es gut geht, gesehen hätte. Ihr sei es unheimlich, dass keine Gebleichten vorgezeigt würden, sie wären doch die beste Werbung für das Unternehmen, wenigstens als Musiker und als Schwestern hätte man Gebleichte nehmen sollen. Weiß sei nur der vollbärtige Dr. Jeremy Jonathan, der von einer gläsernen Zelle aus das Bleichen überwache. Angestachelt durch den Erfolg Jonathans, entstünden in vielen Städten der Staaten Konkurrenzunternehmen, die Firma Edison, die die Bestrahlungslampen produziere, könne mit deren Produktion kaum nachkommen. Es sei abzusehen, dass die schwarze Rasse aus den Vereinigten Staaten verschwände. Auch von den Kriegsversehrten, die aus Europa zurückkämen, hätten sich schon viele bleichen lassen, denn auch als Blinder, als Einarmiger oder Einbeiniger habe man bessere Chancen, wenn man weiß sei. Ich fragte Homer, ob er sich auch bleichen lassen wolle. Er war Thereses Meinung: Er wolle erst einmal einen dauerhaft Gebleichten sehen. Er habe die weißen Wolken auf der Haut der Klienten gesehen, er glaube, das Bleichen funktioniere. Aber er könne sich gut vorstellen, dass die Gebleichten später langsam wieder erschwarzten. Deshalb würden die Gebleichten auch nicht gezeigt. Man müsse sich also regelmäßig wieder in Behandlung begeben. Das würde dann ein teures Vergnügen!

Anmerkungen

Das im 35. Bogen geschilderte Hinrichtungsritual nach Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen, Kapitel „Stationen zwischen Pazifik und Mississippi“, Berlin 1913.

Dieses Foto fand ich in Jules Huret: En Amérique De New York a la Nouvelle-Orléans. Paris 1910 Der Bing-Kopilot bewertet es so: „Dieses Foto ist sehr wahrscheinlich nicht Bestandteil von Jules Hurets Original-Reisebericht 1904. Es wirkt, als stamme es aus einem separaten, späteren Medium – etwa einer populärwissenschaftlichen oder satirischen Zeitschrift jener Zeit – und wurde anschließend fälschlich mit Hurets Werk in Verbindung gebracht.“ Da das Bleichen schwarzer Haut und das Glätten krauser Haare bis heute ein beachtlicher Geschäftszweig der kosmetischen Industrie in den USA ist, sah ich keinen Grund, dieses Foto aus der Frühzeit des Röntgens zu unterschlagen.

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