Barbara Will: Zweierlei Kollaboration

Gertrude Stein, Bernard Fay und das Dilemma von Vichy
Columbia University Press, New York 2011
Eigenübersetzung aus dem Englischen

Vorwort der Autorin

Der Ursprung dieses Buches sind einige vergilbende handschriftliche Notizbücher, abgelegt in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Universität Yale. Die Seiten sind bedeckt mit Gertrude Steins geneigter, notorisch schlechter Handschrift und mit mannigfachen Korrekturen in der winzigen, präzisen Schrift von Alice Toklas. Die Schrift zu entziffern, ist schwer genug: Niemand, der je ein Manuskript Steins zu lesen hatte, fand diese Aufgabe angenehm. Aber die Notizbücher lesen ist sehr viel leichter als sie verstehen. Denn sie enthalten nichts weniger als 180 übersetzte Seiten der Reden von Philippe Pétain, dem Oberhaupt des von den Nazis kontrollierten Vichy Regimes in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Sie legen Zeugnis ab für ein Propaganda-Projekt zur Unterstützung von Vichy Frankreich, das Stein 1941 begann und das sie einem skeptischen amerikanischen Publikum irgendwie vermitteln wollte.
Wie kam Gertrude Stein dazu, die Reden von Pétain ins Englische zu übersetzen? Die Unwahrscheinlichkeit dieses Projekts war mir von Anfang an klar. Ausgerechnet Stein, experimentelle Schriftstellerin jüdisch amerikanischer Herkunft, berühmte Förderin der modernen Kunst, sollte ein autoritäres Regime mit propagandistischen Schriften unterstützen? Der beachtliche Ruf, den Stein als intellektuelle und künstlerische Bilderstürmerin genießt, war fast völlig unvereinbar mit dem Bild einer Propagandistin des Vichy-Regimes. Dieses Projekt war rätselhaft. Und das Rätsel wurde nur noch tiefer, als ich der Spur anderer folgte und mir die Freundschaft Steins mit dem Mann anschaute, der sie in den Umkreis von Vichy gezogen haben könnte, einem Franzosen namens Bernard Faÿ. Dieser Mann, den Alice Toklas als den „lebenslang besten Freund“ der Stein bezeichnet, war eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Faÿ war nicht nur Schriftsteller, Übersetzer, Historiker und Kunstförderer, er war auch der erste Professor für amerikanische Studien in Frankreich und der jüngste je zum Mitglied des elitären Collège de Françe gewählte Wissenschaftler. Er sollte zu einer der Zentralgestalten in Pétains Vichy-Regime werden, eine Rolle, die ihn schließlich ins Gefängnis brachte. Wenn Gertrude Stein eine unwahrscheinliche Propagandistin dieses Regimes war, dann war es dem ersten Anschein nach der Gelehrte und Ästhet Bernard Faÿ nicht weniger.
Als ich ihre Freundschaft jedoch untersuchte, gewahrte ich in steigendem Maße ähnliche Affinitäten und Entwicklungen. Ich begann nicht nur zu verstehen, was diese beiden Individuen zur Unterstützung des Vichy-Regimes veranlasst haben konnte, sondern auch wie ihre gegenseitige Beziehung über die vielen Jahre ihre politischen Überzeugungen nährte und weiterentwickelte. Ich erkannte, dass die Geschichte, die hinter Gertrude Steins Übersetzung von Pétains Reden lag, nur über ihre Beziehung zu Bernard Faÿ erzählt werden konnte.
Den Schwerpunkt dieses Buches bilden die Jahre, in denen die Biografien von Stein und Faÿ sich überschnitten, von ihrem ersten Zusammentreffen 1926 bis 1946, dem Jahr, in dem Stein starb und Faÿ wegen Kollaboration mit den Nazis zu lebenslangem Gefängnis verurteilt wurde. Es behandelt auch das Nachkriegsschicksal von Bernard Faÿ nach seiner dramatischen Flucht aus dem Gefängnis im Jahr 1951. Der historische Fokus liegt aber auf der mühseligen Zwischenkriegsära, einer Periode, die im Falle der berühmteren Gertrude Stein weniger Aufmerksamkeit gefunden hat als ihr früheres Leben. Diese Zeit verändert auch unser Verständnis von Steins frühen Jahren. Denn wenn Stein vor dem Ersten Weltkrieg gut in das Bild der avantgardistischen Autorin und Erneuerin passt – ein Bild, das sie, wie wir sehen werden, selbst mitgeschaffen hat – ist ihr Leben und Schreiben während der 20er, 30er und 40er Jahre künstlerisch weniger einheitlich und politisch problematischer. Stellt man die Schwierigkeiten und Verwicklungen von Steins späteren Jahren in Rechnung, so ergibt sich eine weitgehend neue Sicht auf diese Autorin und ihre Zeit. Betrachtet man diese Jahre durch das Prisma ihrer Freundschaft mit Bernard Faÿ, tritt deren zentrale Bedeutung für die schwierigen und komplexen Entscheidungen, die Stein traf, reliefartig hervor.

Zwar ist Stein die berühmtere Figur in dieser Geschichte, doch ist Bernard Faÿ keineswegs nur zweitrangig. Heute weitgehend aus der Geschichtswissenschaft verbannt, galt Faÿ seinerzeit als inoffizieller Botschafter Frankreichs in der Neuen Welt. Er war gut Freund mit allem, was Rang und Namen hatte, von Avantgarde-Künstlern über Diplomaten zu amerikanischen und französischen Staatsoberhäuptern. Ehrgeizig und begabt, lag eine erstaunliche Karriere vor ihm, als die Chance von Vichy sich vor ihm auftat. Sechs Jahre später sollte er von einem französischen Strafgericht zu nationalem Ehrverlust verurteilt werden. Mit seinem von Idealismus, Hingabe und Hoffnung nicht weniger als von Engherzigkeit, Furcht und oft tödlichen Kompromissen gezeichneten Leben ist Bernard Faÿ eine ebenso komplexe und fesselnde Gestalt wie Gertrude Stein. Dieses Buch reiht sich in die wachsende Zahl von Versuchen ein, Bernard Faÿ in der amerikanisch-französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts neu zu verorten.
Zwar fokussiert dieses Buch die Beziehung zwischen Stein und Faÿ, aber es betrachtet die beiden Gestalten doch auch als Fallstudien in größeren Zusammenhängen: über den Verlauf der transatlantischen Politik während der 20er und 30er Jahre; über die Bedeutung Amerikas in der Gedankenwelt von Vichy; über die historischen Hintergründe der Kritik von „Modernität“; und insbesondere über die Überschneidung von Avantgardismus und Faschismus. Die kürzlichen Kontroversen über die zur Kriegszeit verfassten Schriften von Paul de Man, über Martin Heidegger, Ezra Pound, Louis-Ferdinand Céline und anderen haben uns gezwungen, die Überschneidung zwischen avantgardistischen Schriftstellern und Intellektuellen und faschistischer Ideologie neu zu überdenken und dabei den möglichen Entwicklungen und Berührungspunkten nachzuspüren, die es faschistischen oder profaschistischen „Idealen“ erlauben, in einem Kontinuum mit dem Ästhetizismus und dem intellektuellen Avantgardismus des frühen 20. Jahrhunderts zu existieren. Aber bisher hat noch kein Wissenschaftler die Archive durchforscht, um an die Kollaboration Stein-Faÿ und die Texte, die aus ihr hervorgingen, ähnliche Fragen zu stellen.
Während ich für dieses Buch forschte und es schrieb, wurde mir auch klar, dass man solche Fragen nicht stellen kann, ohne sehr sorgfältig mit dem umzugehen, was ich die „graue Zone“ des Lebens in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs nenne. Kollaboration ist ein schwerer Vorwurf, aber er gehört in eine Schwarzweißwelt. Der Begriff kann die feinen Unterschiede der Art und Weise, in der die Franzosen mit ihren Besatzern umgingen, leicht verdunkeln – von gelegentlicher Kooperation über abwartende Anpassung bis zu begeisterter Hingabe an eindeutigen Widerstand. Dieses Buch möchte den Ernst des Kollaborationsvorwurfs aufrechterhalten, zugleich aber die Schattierungen rings um diesen Vorwurf nicht übergehen. Während ich sage, dass beide Individuen auf jeweils verschiedene Art und Weise „ungleiche Kollaborateure“ waren, waren sie einander auch völlig unähnlich im Grad und schließlichen Resultat ihrer Unterstützung des Vichy-Regimes. Eins meiner zentralen Anliegen ist es, den Grad des Engagements ebenso zu bestimmen wie Unterschiede im Denken und Handeln dieser beiden Gefangenen in der labyrinthischen Situation Frankreichs während des Krieges. Während Steins Glaube an Vichy und Pétain echt war und von Herzen kam und sie ihr beträchtliches Ansehen nutzte, um für diesen Glauben zu werben, war Bernard Faÿ für den größten Teil der Kriegszeit ein aktiver, begeisterter und engagierter Kollaborateur im Herzen des Vichy-Regimes. Seine Schriften und Aktivitäten während der Kriegszeit unterdrückten seine französischen Landsleute unmittelbar. Sein Weg vom geachteten Historiker und literarischen Förderer der Künste zum Vichy-Ideologen war unwahrscheinlich genug, aber verglichen mit Stein war Faÿ eine völlig andersartige Spezies. Und Faÿs Sturz vom Gipfel persönlichen Erfolgs in nationale Entehrung war etwas, was Stein am eigenen Leib nie erleben sollte. Beide, Stein und Faÿ, reagierten auf das Dilemma von Vichy – seine Verheißungen und Gefahren – auf eine Art und Weise, die sie kompromittierte, aber nur Bernard Faÿ bekam die Langzeitwirkungen seines Verhaltens während der Kriegszeit zu spüren. Wenn es eine tragische Figur in dieser Geschichte gibt, dann ist das sicherlich er.

Nachbemerkung des Übersetzers

Aus urheberrechtlichen Gründen ist leider ein weiterer Abdruck meiner Übersetzung nicht möglich. Ich habe sie ohne Auftrag zu meinem Privatvergnügen – und aus Interesse an dieser Schlüsselfigur der Moderne – angefertigt. Die auslösende Frage war: Wie konnte eine in Frankreich lebende amerikanische Jüdin die Zeit der Besetzung durch die Deutschen unbehelligt überstehen? Die deutschen Rechte für das Buch liegen bei Paul&Peter Fritz, Zürich. Warum sich bisher kein deutscher Verlag für Barbara Wills Werk interessierte, kann ich nur mutmaßen: Gertrude Stein steht durch ihre Beeinflussung der lost generation, besonders Hemingways, auf einem so hohen literaturgeschichtlichen Sockel, dass es vermessen zu sein scheint, an diesem Sockel zu rütteln …

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