Der Verbrannte

Farce in 5 Durchgängen zu je 5 Strängen

Personen:

1 der Verbrannte
zwei deutsche Soldaten
zwei russische Soldaten
zwei amerikanische Soldaten
englischer Stabsarzt
amerikanischer Stabsarzt
russischer Stabsarzt
französischer Stabsarzt

2 die Mutter
Karli und Helmut, ihre Söhne
Harry
die alte Baronin
zwei Freundinnen von Karli
zwei Feldpolizisten

3 der Lehrer
ein paar halbwüchsige Schüler
(Rademacher, Gottfried, Lüdcke u.a.)
Polizist
Großmutter

4 Harry, erwachsen
Inge, seine Frau
Jockel, ihr Sohn
Analytiker
Sektierer

5 der einarmige Holzhacker

Das Stück spielt zum Ende des Zweiten Weltkriegs und eine Generation später.

1. Erster Durchgang

Strang 1 Ostfron, fern as Wummern einer Panzerschlacht

Gelegentlich Einschläge in der Nähe. Zwischen Betontrümmern ein total einbandagierter Mann. Er rührt sich nicht, könnte tot sein.

Ein abgerissener Wehrmachtssoldat auf der Flucht. Es pfeift. Er geht hinter einem Trümmerklotz in Deckung. Staub und Steine spritzen über ihn und den Bandagierten hinweg. Der Soldat sieht den Bandagierten; ist zuerst wie gelähmt; erschrickt dann und will schleunig wegrobben; aber da seufzt der Bandagierte tief auf. Es könnte ein Todesseufzen gewesen sein. Oder auch nicht. Wie an einer Leine gezogen, kriecht der Soldat widerwillig wieder näher; schüttelt den Kopf. Beschließt resigniert, der Frage nachzugehen, ob der Bandagierte noch lebt oder nicht; lauscht an der Stelle sdeines Kopfes, wo eine Ausbuchtung die Nase vermnuten lässt. Lauscht noch einmal. Seufzt wütend und will sich losreißen.

SOLDAT: Verreck doch! Verreck doch! Verreck doch!

Aber der Verbrannte lässt ihn nicht los. Er kehrt zu ihm zurück; schiebt die Wasserflasche zwischen die Binden, wo der Mund sein muss.

Der Verwundete trinkt; nickt schlaff.

SOLDAT: Nastrowje!

Keine Reaktion des Verbrannten.

SOLDAT: Du Russki. Russki, was?

Er hebt den Kopf des Bandagierten.

SOLDAT: Los, sag was! Sag was!

Der Verbrannte bleibt stumm. Wieder pfeift es. Der Einschlag ist sehr nah. Staub umhüllt die beiden. Licht aus.

Strang 2 Landstraße, Bombentrichter; ein zersplitterter Baum ohne Krone

Die Mutter kommt, das Baby in einem Tuch vor der Brust, Harry an der Hand. Helmut geht neben ihr. Große Müdigkeit ist in ihrem Schritt. Neben dem Baum bleibt die Mutter stehen. Läßt sich dann auf seine Wurzeln sinken. Harry kauert sich neben sie. Helmut ist zunächst weitergegangen; dann merkt er, dass er allein ist und wendet sich zum Baum um.

HELMUT: Wie der Wind in den Blättern säuselt! Und hört ihr das tausendstimmige Summen der Bienen? Es ist der Sommer, und die Bäume triefen von Honig. Man muss sich nur darunterlegen und das Maul aufsperren…

Er tut es.

… und schon wird man satt!

Die Mutter hat begonnen, das Baby zu stillen. Harry schaut begehrlich zu.

HARRY: Mein Bär mag keine Milch. Mein Bär mag gerne Kakao. Und Zwieback mit Butter drauf. Kriegen wir Kakao, wenn wir bei Großmutter sind?

MUTTER: Ja, dann krieg ihr Kakao. Großmutter kocht ihn aus Blockschokolade. Davon hat sie noch einen ganzen Karton voll.

HARRY: Und ist Papa auch bei Großmutter?

MUTTER: Vielleicht ist er noch nicht da, aber er kommt hin. Er weiß, dass wir nach Hamburg gehen, und er kommt dorthin.

HARRY: Und wo ist Papa jetzt?

MUTTER: Papa ist Soldat, und Soldaten sind jeden Tag woanders. Sein letzter Brief kam aus Narwa. Aber dort ist er längst wieder weg, denn der Russe dringt vor. Er steht schon in Ostpreußen, und wir haben Glück, wenn er uns nicht überrollt.

HELMUT: Es gibt eine Stadt. Sie liegt unter der Erde. Die Zugänge sind schwer zu finden. Sie liegen in Wäldern versteckt oder in schwer zugänglichen Höhlen. Und sie sind bewacht: von Wölfen, Bären, Luchsen und wilden Stieren. Mit ihren schwarfen Augen erkennen sie, wer böse ist. Die Bösen töten und fressen sie. Die Guten aber, die niemandem etwas antun, die lassen sie herein. In dieser Stadt ist Papa. Auch Großmutter wohnt dort und auch Karli. Keine Bombe kann auf diese Stadt fallen, kein Tiefflieger kann sie finden, kein Panzer in sie hinein. Es ist kalt dort, nackte Glühbirnen geben dürftiges Licht, die Menschen sitzen nah aneinander gedrängt, um sich zu wärmen. Über den Knien haben sie Wolldecken, und Becher mit Glühwein wandern von Mund zu Mund. Über Rundfunk hören sie vom Krieg. Sie weinen um die vielen, die sterben müssen. Ihr Trost ist, dass so viele gerettet sind. Dorthin werden auch wir finden.

HARRY: Mein Bär kennt diese Stadt, er hat genickt, als du erzählt hast.

MUTTER: Kommt, wir gehen weiter.

Sie steht auf. In diesem Augenblick nähert sich Motorradgeräusch. Es ist eine Streife, bestehend aus zwei Feldpolizisten. Sie halten an, steigen ab.

1. BEAMTER: Könnten wir mal die Papiere sehen?

Die Mutter zeigt sie ihnen vor. Der Beamte zeigt sie seinem Kollegen. Sie munkeln miteinander.

1. BEAMTER: Gute Frau, der Junge da heißt Helmut, nicht wahr?

Die Mutter nickt.

MUTTER: Was soll mit ihm sein? Er ist fünfzehn, ein halbes Kind.

1. BEAMTER: Sein Jahrgang ist einberufen. Komm, Helmut, du kannst hinten aufsitzen. Wir nehmen dich mit nach Kolberg, da bekommst du erst einmal eine warme Suppe. Die Verpflegung beim Barras ist nicht die schlechteste.

MUTTER: Mein Mann ist Soldat. Mein ältester Sohn ist Soldat. Jetzt soll ich auch noch ihn hergeben. Er ist zu zart. Er ist ein Träumer. Lasst ihn mir. Habt ihr keine Kinder?

HELMUT: Ich möchte mit ihnen gehen. Bitte, lass mich! Ich möchte einen Teller Suppe haben! Mach dir keine Sorgen um mich – ich komme schon durch. Als Soldat kann ich mich wehren, mit euch aber bin ich allem preisgegeben. Wenn der Krieg aus ist, komm ich nach Hamburg. Dort sehen wir uns alle wieder – bei Großmutter und Großvater in ihrem schönen Haus.

Die Streife fährt mit Helmut davon. Die Mutter schaut ihnen nach; kramt in der Tasche.

MUTTER: Ein Maul weniger zu stopfen – das veranderthalbfacht unsere Ration, Harry! Ich hab noch ein Stück Rinde. Weich es in der Backe gut ein, dann wird es dir schmecken.

Sie fasst ihn bei der Hand, setzt ihren Weg fort.

MUTTER: Bei einer Linde in Pommern, die von Honig troff, in deren Blüten tausendstimmig die Bienen summten, holten sie Helmut zu den Soldaten.

Licht aus.

Strang 3 Schulraum; Wandtafel mit chemischen Formeln, davor Tisch

Halb auf dem Tisch sitzend, der Lehrer. Seine Schulklasse – ein paar Halbwüchsige – geht über ins Publikum. Seitwärts ein Fenster. Durchs Fenster sieht man die Silhouette des Bismarckdenkmals und des Michels.

LEHRER: Was den Krieg entschieden hat, war die Materialüberlegenheit der Alliierten. Auch schon vor Kriegseintritt der Vereinigten Staaten standen ihnen deren unerschöpfliche Quellen zur Verfügung. Die Materialüberlegenheit manifestierte sich im Trommelfeuer. Was ist das: Trommelfeuer? Wer gibt eine Definition? Da hinten: Lüdcke!

LÜDCKE: Trommelfeuer – das ist, wenn es nicht mehr aufhört.

LEHRER: Sagen wir es genauer: Trommelfeuer ist der mehrtägige pausenlose Beschuss einer befestigten Stellung zur Vorbereitung ihrer Einnahme. Ich habe mehrfach englisches Trommelfeuer erlebt. Sie schossen und schossen, Tag und Nacht. Wir hofften auf den Tag, an dem sie ihre Munitionsvorräte erschöpft hätten. Aber dieser Tag kam nicht. Sie schossen so lange, bis sie der festen Überzeugung waren, dass in unserer Stellung nur noch die Läuse lebten. Dann stürmten sie. Doch aus den Gräben erhoben sich Gestalten gegen sie, die keine Menschen mehr waren: Unter versengten Brauen, aus wimperlosen Augen traf sie der Blick von Untoten: Verkohlte Gesichter, schlammverkrustete Leiber, verstümmelte Glieder – aber sie kämpften noch; schossen noch; schlugen den englischen Angriff zurück und bewiesen, dass selbst die infernalischste Technik machtlos ist gegen den Mut des Menschen.

Er weint, nimmt das Glasauge heraus, putzt umständlich die Höhle und setzt es wieder ein. Sirenen heulen auf.

LEHRER: Nur ruhig, nur ruhig, ihr habt Zeit! Die Zeiten, wo der Frontsoldat glauben durfte, dass er die Hölle durchleben müsse, damit sie Frau und Kindern erspart bleibe, diese Zeiten sind vorbei. Ja, geht jetzt! Ich komme nicht mit in den Keller. Ich ertrage es nicht mehr, mich zu verkriechen.

Das Krachen und Dröhnen eines Bombenangriffs. Licht aus.

Strang 4 Bett, darinliegend Inge, die Arme hinterm Kopf verschränkt

Auf dem Bettrand Harry, erwachsen, niedergeschlagen rauchend. Sie schweigen.

HARRY: Es hat mit dir nichts zu tun, ganz bestimmt nicht. Ich weiß das, du kannst dich darauf verlassen. Es gibt ja noch die Möglichkeit – du hast davon gehört – die Eizelle wird im Labor befruchtet und dir dann wieder eingepflanzt.

INGE: Es geht doch gar nicht darum. Es geht darum, dass du unglücklich bist, von mir gar nicht zu reden. Das ist es, worum es geht, und sonst gar nichts. Du bist ein so feiner Kerl! Es wäre doch einfach ein Jammer, wenn dir das Zeit deines Lebensversagt bliebe! Vielleicht sind wir auch nur nicht offen genug miteinander. Vielleicht hast du Wünsche, die du mir verschweigst… Sag mir, gibt es etwas, wovon du insgeheim träumst, was ich dir erfüllen könnte, was du nur nicht zu sagen wagst? Möchtest du mich schlagen? Oder beschimpfen?

Harry lacht peinlich berührt.

HARRY: Nein, eher das Gegenteil! Es nervt mich, dass du mir verzeihst! Aber es nützt auch nichts, wenn du es mir vorwirfst; das haben schon andere versucht.

INGE: Ich glaube, ich wüsste jemanden, der dir helfen kann!

Strang 5 Hof; Haublock

Ein Holzhacker mit einem Beil. Er ist einarmig. Der Ärmel des fehlenden Armes ist hochgeklappt und festgenäht. Er hat schon einen Haufen Holz gehackt. Nur ein Klotz ist noch übrig. Er legt ihn auf den Block und spaltet ihn. Licht aus.

2. Zweiter Durchgang

Strang 1 Landstraße, Bombentrichter; ein noch schlimmer zersplitterter Baum ohne Krone

Ein rauchendes LKW-Wrack im Straßengraben. Der Wehrmachtssoldat kommt. Er hat den Verbrannten in einen Schubkarren gelegt. Ein zweiter Wehrmachtssoldat kommt mit ihm. Er ist alt. Sie haben es offenbar verdammt eilig. Nicht weit von ihnen hört man das Dröhnen einer Fahrzeugkolonne.

2. SOLDAT: Warum schleppen wir ihn mit? Mit ihm schaffen wir es nie! Wir kennen ihn nicht einmal! Vielleicht ist es ein Russe!

Dem Schubkarren fehlt ein Bein; man kann ihn nicht abstellen, ohne dass er umkippt.

1. SOLDAT: Hier, halt mal! Nur’n Moment! Ich muß mal pissen – ich mach sonst in die Hose.

Er stellt sich an den Straßenrand.

1. SOLDAT: He – da ist Wasser! Ich hol uns was!

Er springt in den Straßengraben; ist nicht mehr zu sehen; ruft noch von außerhalb der Bühne.

1. SOLDAT (off): Bei Memel hab ich ihn gefunden! In einem kaputten Bunker bei Memel!

Der Alte, den Schubkarren haltend, schaut hinter ihm her.

2. SOLDAT: He, komm zurück! Feigling! Drecksau!

Er will den Karren stehen lassen, aber der droht umzufallen und den Verbrannten herauszuwerfen.

2. SOLDAT: Jetzt hab ich dich am Hals, Mehlwurm, ekliger!

Das Röhren der Kolonne ist nah herangekommen.

2. SOLDAT: Ach, Scheiße!

Er setzt sich so, dass er den Karren mit seinem Rücken stützt, zündet sich eine Zigarette an, deren Rauch der Verbrannte riecht. Er beginnt zu janken wie ein Kind. Der Alte zögert, ist immer noch wütend. Dann steckt er ihm die Zigarette in den Mundbereich. Der Verbrannte raucht. Geräusch eines haltenden Lastwagens. Zwei russische Soldaten kommen, Gewehr im Anschlag. Der Alte versteckt sich hinter dem Verbrannten.

2. SOLDAT: Ich bitt‘ dich, Kamerad, du hast bisher das Maul gehalten – halt’s auch weiter!

Die Soldaten kommen nah heran.

2. SOLDAT: Er Russki! Er Russki! Ich retten Russki!

Die beiden Russen schauen einander unschlüssig an.

Licht aus.

Strang 2 Schnee. Im Schnee ein Feuerchen

Daran kniet Harry, das Baby im Arm.

HARRY: Großmutters Haus hat ganz, ganz viele Zimmer, hat mein Bär gesagt. Und in keinem Zimmer gibt es einen Ofen, trotzdem sind alle warm. Im Keller steht ein riesengroßer Ofen, der heizt das ganze Haus. Von dem Ofen gehen Rohre durch die Wände, und in den Rohren fließt Wasser – sagt mein Bär. Und der Ofen wird nicht mit Holz geheizt, sondern mit Kohle. Kohle ist schwarz, und man kann sie essen, wenn man Bauchweh hat. Sagt mein Bär, und mein Bär weiß das.

Er nimmt ein Stück Holzkohle und steckt es dem Baby in den Mund. Eine Alte mit Kopftuch kommt.

ALTE: Was machst du da mit dem Kind? Hast du keine Mutter?

HARRY: Ich gebe ihm Kohle zu essen. Kohle ist gut gegen Bauchweh.

ALTE: Bist du allein? Hast du keine Mutter?

HARRY: Meine Mutter ist in das Haus da gegangen, um etwas zu essen zu holen.

ALTE: Das war einmal mein Haus. Aber jetzt ist der Russe darin. Hat sie die Fahne nicht gesehen? Sie haben ihre Kommandantur dort eingerichtet. Der Himmel stehe ihr bei!

Sie beugt sich zum Baby hinunter.

ALTE: Armes Kind! Von Kohle wirst du nicht satt!

Sie richtet sich auf.

ALTE: Es ist tot, mein Junge. Weißt du das nicht? Gib es mir, ich nehme es mit. Sag du deiner Mutter, wenn sie wiederkommt, die alte Baronin hätte es mitgenommen. Wir haben eine Familiengruft. Da ist noch ein Plätzchen frei. Sagst du ihr das?

Harry nickt. Die Alte mit dem Baby geht ab. Harry nimmt seinen Bären.

HARRY: Glaubst du auch, was ich glaube? Die Alte ist eine Hexe, und sie wird Gundel im Topf kochen und aufessen. Du nickst. Ja, ich weiß, du bist ein kluger Bär.

Die Mutter kommt. Sie trägt ein Zeitungspapierpaket wie etwas sehr Kostbares, legt es am Feuer nieder.

MUTTER: Es hat sich gelohnt, Harry. Schau nur, es hat sich gelohnt! Wir backen sie in der Asche. Eine solche Köstlichkeit haben wir lange nicht gehabt.

Harry schaut sie ernst und besorgt an.

MUTTER: Sie haben nur von mir verlangt, dass ich ihnen einen Haufen Kartoffeln schälte. Die Schalen durfte ich behalten. Was war das für eine Alte, die Gundel mitgenommen hat?

Harry antwortet nicht.

MUTTER: Sie war schon lange tot. Aber ich mochte mich nicht von ihr trennen… Das arme Wurm! Ich hatte nichts mehr für sie zu trinken. Wenn jetzt wieder was kommt, kriegst du es… Mit dieser Malzeit im Bauch schaffen wir den Rest. Weißt du, worauf ich mich am meisten freue? Auf Großmutters schöne weiße Badewanne mit den Löwenfüßen. Ich werde Stunden darin verbringen! Mein Gott, wie schmutzig ich bin! Aber heißes Wasser und ordentlich Seife werden wieder einen Menschen aus mir machen!

Harry will die Zeitung ins Feuer werfen.

MUTTER: Nein, tu sie nicht ins Feuer! Dafür ist sie zu wertvoll! Ich stecke sie mir unter den Mantel, damit sie mich wärmt!

Sie tut es, entdeckt eine Überschrift.

MUTTER: Das heißt bestimmt Kolberg… Aber es ist russisch. Komm, die ersten sind gar. Wir lassen sie uns schmecken!

Licht aus.

Strang 3 Wandtafel mit chemischen Formeln. Davor Tisch

Durchs Fenster Bismarckdenkmal und Michel. Der Lehrer geht auf und ab.

LEHRER: Am Bahnhof steht die Losung: „Räder müssen rollen für den Sieg!“ Habt ihr gelesen, was böse Buben darüber gemalt haben? „Köpfe werden rollen nach dem Krieg!“ Seht zu, dass eure nicht dabei sind! Seht zu, dass ihr durch die letzten Wochen Wahnsinn heil hindurchkommt! Verpisst euch, wo ihr könnt! Verdrückt euch! Und lasst euch von niemandem erzählen, ihr wäret dazu berufen, das Vaterland zu retten und euch ins ewige Buch der Heldentaten einzuschreiben! Das Einzige, was Sinn hat, ist: Flüchtlinge aufnehmen, Verwundete verbinden, Hungernden zu essen geben, Kinder sammeln… Soll ich euch sagen, wie es Helden ergeht? Ich war mit meiner Kompanie abgelöst worden. Wir lagen in der Etappe und erholten uns – aber wir wussten, wie schnell sich da vorn was ändern kann, und hielten uns in der Deckung. Ein Zug Fahnenjunker war angekommen; hübsche Kerls und Namen wie aus dem Siebenjährigen Krieg: Schwerin, Kleist, Itzenplitz, Alvensleben – alles Familien, deren Ehre es seit zweihundertfünfzig Jahren ist, für Preußen zu sterben. Sie mussten ihr Zelt natürlich auf einem Hügel aufschlagen. Nachts gab es vorne Zoff, und im frühen Morgengrauen schlug eine Granate auf dem Hügel ein. Ich will euch vormachen, wie es klang, als sie einen von den Jungen wegtrugen – fußhoch ragte ein verbogener Splitter aus seinem Bauch…

Er legt sich auf den Tisch, beginnt laut und sehr hoch zu schreien…

LEHRER: Mama, Mama, Mama, Mama!

Licht aus.

Strang 4 Chaiselongue. Darauf Harry, erwachsen

Hinter ihm sitzend, der Analytiker.

ANALYTIKER: Immer wieder dieser Haufen Kartoffelschalen… Und immer wieder Sie darin suchend, verzweifelt grabend nach der Mutter, und nie finden Sie sie… Versuchen Sie sich zu erinnern: Wann haben Sie Kartoffelschalen gegessen?

Harry will reden, schweigt aber.

ANALYTIKER: Und finden Sie Ihre Mutter unter dem Haufen?

Harry schüttelt den Kopf.

ANALYTIKER: Finden Sie sie wirklich nie? Es tut mir leid, dass ich so erbarmungslos fragen muss. Ich fürchte, Sie haben sie schon gefunden!

HARRY: Ich habe sie gefunden, ja. Ich finde sie jedes Mal, und jedes Mal gefesselt auf einen Tisch mit abgeschnittenen Brüsten… Und obgleich sie mir leidtut, furchtbar leid, erregt mich der Anblick sexuell, und dafür muss ich mich schämen, ewig schämen! Ach, welch eine Strafe ist es, ein Mann zu sein!

ANALYTIKER: Aber das sind doch nur Märchen, Märchen, die man sich von den Russen erzählt.

HARRY: Warum sollten es Märchen sein, da ich selbst dazu fähig wäre!

Licht aus.

Strang 5 Haublock

Der einarmige Holzhacker arbeitet unermüdlich. Aber der Haufen gehackten Holzes ist kleiner geworden. Dafür sind mehr Klötze da.

3. Dritter Durchgang

Strang 1 Lastwagenwrack in der Bühnenmitte

Klirren von Panzerketten nähert sich. Aufkreischen der Ketten. Der Panzer steht. Zwei GIs kommen, Gewehr in Anschlag, schauen ins Führerhaus des LKW, öffnen die Tür. Der tote Fahrer, der zweite Wehrmachtssoldat, fällt heraus.

1. GI: He is German, but it’s a russian camion.

Der zweite GI hat die Ladefläche aufgeklappt. . Darauf liegt mit zwei Toten der Verbrannte. Der GI hat die Toten als solche schnell identifiziert. Da der Verbrannte sich nicht rührt, will er mit seinem Kameraden zum Panzer zurück. Da wälzt sich der Verbrannte mit einer plötzlichen Bewegung an den Rand der Ladefläche und fällt zu Boden. Dort erholt er sich einen Moment von dem Aufschlagund beginnt dann, den beiden GIs nachzukriechen. Das sieht scheußlich aus: Wie eine riesige Raupe. Der eine merkt es.

2. GI: O god, he’s still alife!

Er geht zu ihm hin, wälzt ihn auf den Rücken und setzt ihn auf. Aber der Verbrannte jammert so lange, bis er wieder auf dem Bauch liegen darf.

2. GI: Ah! So it’s better, eh?

Der andere GI wühlt in den Taschen, ob er was zu essen hat. Er kramt ein Kaugummi heraus, wickelt es aus und steckt es dem Verbrannten in den Mund. Der beißt darauf – und spuckt es wieder aus.

2. GI: He doesn’t like it! Are you Russian?

Der Verbrannte nickt.

1. GI: Or German?

Der Verbrannte nickt.

2. GI: He doesn’t know.

Zwei russische Soldaten kommen von der anderen Seit. Die beiden GIs erkennen sie nicht sofort, ziehen sich vorsichtig zurück. Der Verbrannte im Niemandsland. Die GIs tuscheln miteinander. Die Russen auch. Dann gehen sie mit ausgebreiteten Armen aufeinander zu.

GIs: It’s phantastic!

RUSSEN: Doswidanje!

Sie umarmen einander über den Verbrannten hinweg.

Strang 2 Hydrant. Dahinter Trümmerhaufen. Darauf eine löwenfüßige Badewanne

Die Mutter kommt mit Harry an der Hand.

MUTTER: Bestimmt steht es noch, Harry. Warum sollte es ausgerechnet ihr Haus getroffen haben? Dies ist doch die Lohmühlenstraße?

Sie entdeckt ein verbogenes Straßenschild.

MUTTER: Ja, es stimmt. Es ist die Lohmühlenstraße. Und vor dem Haus war ein Hydrant. Es war der einzige auf der Straße. Hier ist ein Hydrant. Es ist doch die falsche Straße!

HARRY: Nein, es ist Großmutters Haus! Guck mal, die Badewanne!

Die Mutter kniet nieder, schaut und weint. Weint und schaut.

HARRY: Wo Großmutter wohl ist? Hier ist die Kohlenschütte!

Er ruft hinein, es echot dumpf.

HARRY: Großmutter! Großmutter! Bist du da?

Die Mutter steigt zur Badewanne hinauf, schaut sie kopfschüttelnd an, dreht an einem Knopf. Es rauscht. Und dampft.

MUTTER: Harry! Harry! Das Wasser geht noch! Sogar warmes Wasser! Der Stöpsel ist auch noch dran! Was für ein Wunder!

Sie lässt kräftig Wasser einlaufen.

MUTTER: Gib acht, dass nicht zu viel einläuft! Ich ziehe mich aus! Hier hinter den Trümmern kann mich keiner sehen. Es ist ja ohnehin niemand da… Wie gern würde ich die Klamotten gleich mitwaschen! Aber dann habe ich nichts zum Anziehen. So ist es noch zu heiß… Ein bißchen kaltes dazu… O wie herrlich! Ich kann mich baden – und gleich kommst dann du an die Reihe!

Sie streckt sich in der Wanne aus und wird ganz still.

HARRY: Weißt du noch, was Helmut erzählte an dem Tag, als sie ihn holten? Von einer Stadt unter der Erde… Der Eingang ist schwer zu finden, aber ich glaube, wenn wir durch die Kohlenschütte hinabsteigen, werden wir die Stadt finden. Da sind dann auch Vater, Karli und Helmut, Großmutter und Großvater, und warten auf uns… Mama?

MUTTER: Ja, was ist? Ich war eingeschlafen. Das Wasser wird kalt… Lass noch etwas heisses rein! Vorsicht – au! Ja, so!

Sie streckt sich wieder wohlig aus. Ein Soldat kommt gerkochen. Es ist Helmut. Er verbirgt sich hinter Trümmern.

HELMUT: Mama! Mama? Bist du es?

MUTTER: Das ist Helmuts Stimme! Er ist zurück! Komm herauf, Helmut! Ich bade gerade! Es ist so schön!

HELMUT: Ich komme sofort! Und darf ich einen Freund mitbringen? Es geht ihm nicht gut. Ich hab ihn aus der eiskalten Ostsee gezogen, da ist ihm einiges abgefroren, und er braucht mich.

MUTTER: Hauptsache, du bist heil! Was ist ihm denn abgefroren? Die Finger?

HELMUT: Auch die Zehen. Und die Hoden. Und seine Sehkraft ist schwach. Er kann nur noch kriechen.

MUTTER: Aber er gehört ins Lazarett!

HELMUT: Nein, dort gehört er nicht hin, weil sie ihn dort sich selbst überlassen und ihn vielleicht sogar töten. Sie haben Angst, dass so schwere Fälle, wenn sie herauskommen, die Wehrkraft zersetzen.

MUTTER: Ach, bring ihn doch lieber nicht mit! Wir haben so Schreckliches durchgemacht, sollen wir uns denn immer noch mehr aufladen? Wir wollen endlich wieder zu leben beginnen und das viele Furchtbare vergessen. Wir wissen nichts von Karli, wir wissen nichts von Papa – wer weiß, was da noch alles auf uns zukommt! Bring ihn woandershin – aber komm du! – Bist du es, der stöhnt? Oder ist es dein armer Freund? Bitte komm her und gib mir einen Kuß!

Helmut ersticht sich.

MUTTER: Was war das für ein Röcheln? Um Gottes Willen, Harry, schau, was da los ist! Was ist mit den beiden?

Harry geht hin.

HARRY: Es ist nur einer, Mama. Es ist Helmut. Er hat keine Finger – und keine Zehen. Ich glaub, er ist tot.

Die Mutter stürzt zu Helmut hin, kniet neben ihm hin, schaut ihn an, nimmt ihn in die Arme.

MUTTER: Er hat mich belogen. O, warum hat er mich belogen? Mein armer Junge! O, mein armer, armer Junge!

Licht aus.

Strang 3 Schulraum; Wandtafel mit chemischen Formeln, davor Tisch

Halb auf dem Tisch sitzend, der Lehrer. Durchs Fenster sieht man die Silhouette des Bismarckdenkmals und des Michels.

LEHRER: Was ist der Krieg? Hier, Lüdcke!

LÜDCKE: Der Krieg ist die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten.

LEHRER: Das ist nicht schlecht, aber wir wollen der Sache auf den Grund gehen. Warum wird im Krieg ein braver Familienvater zum Mörder? Gottfried!

GOTTFRIED: Weil in uns allen das Böse steckt! Die Lust am Bösen!

LEHRER: Ich will das keinesfalls prinzipiell bestreiten. Dennoch kommen wir auch damit der Sache nicht bei. Warum schießt der brave Familienvater im Krieg auf sein Gegenüber, ebenfalls braver Familienvater? Rademacher!

RADEMACHER: Weil er sonst selber erschossen wird!

LEHRER: Ausgezeichnet, Rademacher! Sie machen sich! Wie nennen wir eine Situation, in der wir verletzen oder töten müssen, um selbst nicht verletzt oder getötet zu werden? Gottfried!

GOTTFRIED: Eine solche Situation nennen wir…

Er weiß es nicht. Die andern zischeln: Notwehr!

LEHRER: Schon gut, jetzt wissen wir es. Eine solche Situation nennen wir Notwehrsituation. Gottfried, wie lautet die gesetzliche Definition der Notwehr?

GOTTFRIED: „Notwehr ist diejenige Verteidigung…“

LEHRER: Lüdcke!

LÜDCKE: …welche erforderlich ist…

LEHRER: RADEMACHER!

RADEMACHER: …um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff…

LEHRER: Gottfried!

GOTTFRIED: …von sich oder einem anderen abzuwehren.“

LEHRER: Krieg ist also nichts anderes als die planmäßige Herbeiführung von Notwehrsituationen, in denen der Selbsterhaltungstrieb uns zum Töten zwingt, damit wir selbst nicht getötet werden…

Er erinnert sich.

Die Frontlinie hatte sich mehrfach verschoben und lag über einem Tunnel, der früher einmal deutsche Außenposten miteinander verbunden hatte. Jetzt verband er uns – mit dem Feind. Dort unten, so tief unter der Erde, ereignete sich nun etwas Merkwürdiges. Hätte man dort mit Handgranaten gearbeitet, man wäre selbst mit verschüttet worden. Deshalb stellten wir einen Wachtposten auf. Ihm gegenüber stand sein französischer Kollege. Und weil es langweilig war dort unten, begannen sie Karten zu spielen, ich war mehrfach der dritte Mann… Dort auf Wache spielten wir Karten miteinander – an der Erdoberfläche aber kehrten wir in die staatlich sanktionierte Notwehrsituation zurück und schossen auf alles, was sich bewegte…

RADEMACHER: Warum schaffen wir den Staat nicht ab?

LEHRER: Eine gute Idee! Warum nicht?

LÜDCKE: Weil sich dann sofort andere Staaten unserer bemächtigen würden!

LEHRER: Die einzige Lösung ist also: Alle Staaten gleichzeitig abschaffen! ein gigantischer, weltumspannender anarchischer Akt! Die schwarze Fahne der Anarchie über New York – Moskau – Peking – London – Paris – Berlin – Tokio!

Er zittert vor Begeisterung bei der Vorstellung. Licht aus.

Strang 4 Fenster. Von draußen erregtes, vielstimmiges Geschrei

Inge wiegt das Baby. Harry schließt energisch das Fenster.

INGE: Wir hätten es nie haben dürfen! Ich fühle mich so verletzlich, so preisgegeben, seit es da ist… Überall rohes Fleisch, in das sie nur hineinstechen müssen… Wie schnell können sich die Lebensbedingungen so ändern, dass es leiden muss… Ein bisschen weniger Milch, ein bisschen Panik, Hamsterkäufe…

HARRY: Wovor hast du Angst?

INGE: Vor Krieg und vor allem, was mit ihm verbunden ist, was ihm vorausgeht, was ihn begleitet, was ihn ausmacht, was ihm folgt: Elend, Elend, Elend…

HARRY: Es wir keinen Krieg geben. Spannungszeiten ja, aber keinen Krieg, alle haben viel zu viel Angst um die eigene Haut.

INGE: Hat sich schon einer, der einen Mord begehen will, von der Todesstrafe abschrecken lassen? Nein! Die Mordrate in Ländern mit Todesstrafe ist nicht niedriger als bei uns. Wer es tun will, glaubt, dass er davonkommt! Und die, die das glauben, gibt es auch unter den Militärs – und unter den Politikern. Die tiefsten, geräumigsten und besten Bunker stehen doch für die Regierungen bereit! Eines Tages wird es losgehen – und das muß es, weil diese ewige Spannung ja auch nicht zu ertragen ist. Dann sind zwei Drittel der Welt kaputt, aber der Rest hat seinen Frieden… Es gibt dann eine Weltregierung, und dieser Krieg war endlich, was schon so viele sein sollten: der letzte.

HARRY: Ich glaube, wenn du selbst den Druckknopf betätigen könntest, du würdest es tun.

INGE: Ja. Weil ich es leid bin, immer in Angst zu leben!

Licht aus.

Strang 5 Haublock

Der einarmige Holzhacker bei der Arbeit. Das Beil bleibt in einem Klotz stecken. Er fasst es kurz, hebt es hoch mitsamt Klotz, fasst das Beil in der Luft wieder lang und lässt es herabsausen. Es ist kaum noch gehacktes Holz zu sehen. Der haufen des zu hackenden hingegen ist weiter gewachsen.

4. Vierter Durchgang

Strang 1 Lazarettbett. Darauf der Verbrannte

Drei Ärzte stehen am Bett: ein russischer, ein amerikanischer, ein englischer, ein französischer sitzt unbeteiligt beiseite.

AMERIKANER: Er ist ein Landsmann. Wir haben unumstößliche Beweise.

RUSSE: Beweise nennen Sie das? Ihr Kaugummi hat er ausgespuckt, die Papyrossi hat er drinbehalten.

ENGLÄNDER: Er raucht alles, was man ihm reintut, das beweist gar nichts. Dies hier ist britisches Besatzungsgebiet; er gehört der Krone.

RUSSE: Er wurde bei Memel verwundet, und Memel ist russisch. Entweder ist er ein Deutscher, dann ist er unser Gefangener, oder er ist ein Russe, dann gehört er nach Russland, wo unsere Chirurgen schon danach lechzen, ihm eine neue Haut zu verpassen.

AMERIKANER: Da er doch Amerikaner ist, würde ihm eine russische Haut gar nicht gefallen. Wir haben ihn aus deutscher Hand befreit.

Er legt die Hand auf ihn, die andern tun es ihm gleich.

ENGLÄNDER: Ich warne Sie: Burgsteinfurt ist britisch, er gehört der Krone.

RUSSE: Dieser Krieg hat uns genug Menschen gekostet. Wir können nicht auf einzigen mehr verzichten.

Sie zerren ihn hin und her.

AMERIKANER: Ohne Penicillin ist er verloren, und Penicillin haben nur wir.

Sie zerren jetzt so stark an ihm, dass er in der Luft hängt.

VERBRANNTER (singt): Sur le pont d’Avignon/ on y danse, on y danse…

Der Franzose steht auf. Die andern lassen los.

FRANZOSE: Er gehört dem siegreichen Frankreich. Offenbar ein Franzose, der im Osten für Deutschland gekämpft hat.

Französisch zum Verbrannten.

FRANZOSE: Schämen solltest du dich! Wir werden dich kurieren und an den Galgen bringen!

Licht aus.

Strang 3 Wandtafel mit chemischen Formeln

Auf dem Tisch mehrere Gefäße, darunter ein Ballon, gefüllt mit grünlichem Gas. Durchs Fenster das Bismarckdenkmal und der Michel.

LEHRER: Ich weiß nicht, ob ihr euch das vorstellen könnt: Früher Morgen im Graben… Nebel steigen auf… Ein paar Granaten schlagen ein… Und plötzlich von ferne her der Ruf: „Gas! Gas! Gas!“ vielstimmig sich fortpflanzend von Mund zu Mund…

Er denkt nach. Bilder ziehen an ihm vorbei.

LEHRER: Was ist die wichtigste Eigenschaft eines Kampfgases? Ja, Rademacher!

RADEMACHER: Es muss schwerer sein als Luft.

Lehrer: Weshalb?

RADEMACHER: Damit es sich in die feindlichen Gräben gleichsam hineinergießt.

LEHRER: Gut, Rademacher, ich mache mir eine Notiz! Diese geforderte Eigenschaft hat Chlor. Ich habe es hier zum Zwecke der Demonstration rein dargestellt. Sehen Sie…

Draußen fährt ein Motorrad vor. Der Lehrer hört es. Fährt ein wenig zusammen. Fasst den Entschluss, mit seiner Demonstration ein wenig weiter zu gehen als vorgesehen.

LEHRER: Stellen Sie sich vor, der Ausguss sei der feindliche Graben… Durch diese Rinne rieselt das Chlor wie Wasser hinein… Ich möchte euch nun die Wirkung des Chlors auf die Atmungsorgane vorführen. Bitte erschreckt nicht! Es handelt sich nur um eine leichte Reizung, die sofort wieder abklingt. Ich bin der Feind im feindlichen Graben, atme das Chlorgas ein…

Er steckt den Kopf in den Ausguss, inhaliert, keucht, hustet, taumelt zu Boden. Er erbricht sich. Zuckt noch. Liegt ruhig, entspannt. Die Tür geht auf. Ein Polizist kommt herein. Er wedelt mit einem Wisch, sieht den Toten nicht.

POLIZIST: Studienrat Werner Hohler, Sie haben sich zum Anarchismus bekannt! Ich verhafte Sie wegen Wehrkraftzersetzung!

Licht aus.

Strang 4 Straßenlaterne

Ein Sektierer mit einem schwarzen Buch in der Hand predigt, Leute sind gelangweilt stehen geblieben. Harry und Inge kommen mit Jockel an der Hand, bleiben ebenfalls stehen.

SEKTIERER: „Und der sechste Engel posaunte; da hörte ich eine Stimme aus den vier Hörnern des goldenen Altars, der vor Gott steht, die sagte zu dem sechsten Engel, der die Posaune hatte: Binde die vier Engel los, die an den großen Strom Euphrat gebunden sind!“

J0CKEL: Engelchen flieg, Mama!

INGE: Jetzt nicht, Jockel. Hör mal, was der Herr da sagt!

HARRY: Laß uns gehen! Das ist doch alles Unfug!

Er will gehen, aber Inge bleibt stehen, Jockel und Harry müssen sich widerwillig anschließen.

SEKTIERER: „Da wurden die vier Engel losgebunden, die sich auf die Stunde und den Tag und den Monat und das Jahr bereitgemacht hatten, um den dritten Teil der Menschen zu töten.“

HARRY: Laß uns gehen!

INGE: Warum?

HARRY: Entweder er hat recht – dann ist alles zu spät. Oder er hat nicht recht, dann ist es Mumpitz.

Er zieht Inge und Jockel ein Stück weg.

SEKTIERER: Also sprach der Apostel des Herrn! Wer Ohren hat, der höre! Denn wieder stehet die Rotte Kora auf gegen die, die da glauben und die Gebote halten, der Amalekiter erhebet sein Haupt!

JOCKEL: Jetzt aber, Mama!

Inge und Harry spielen „Engelchen flieg“ mit Jockel: Sie laufen an und lassen ihn an den Händen durch die Luft fliegen.

INGE und HARRY: Engelchen – Engelchen – Engelchen – flieg!

Inge bleibt noch einmal lauschend stehen.

SEKTIERER: Wer aber ihm folgt, der da sagt: „Ich bin das Licht der Welt, ich bin der Weg“ – der soll errettet sein, wenn die Posaunen von Jericho erschallen und die Mauern der Mächtigen zum Einsturz bringen!

Licht aus.

Strang 5 Haublock

Der einarmige Holzhacker kommt nicht voran, im Gegenteil: das ungehackte Holz hat weiter zugenommen – oder läuft dieser Film rückwärts? Er lässt erschöpft das Beil sinken und schreit.

HOLZHACKER: Es liegt nur daran, dass sie mir einen Arm abgeschossen haben. Hätten sie mir den andern auch abgeschossen, ich wäre längst fertig!

Strang 2 Trümmerhaufen. Die Badewanne ist einer Holzhütte verschwunden, die über ihr errichtet wurde

Karli kommt im Trenchcoat, an jedem Arm ein schwerer, voller Lederkoffer. Harry tritt vor die Hütte.

HARRY: Karli!

Die Mutter kommt heraus, läuft zu Karli hinunter und umarmt ihn.

MUTTER: O Karli! Dass ich dich wiederhabe! Dass du gesund bist! Und wie prächtig du aussiehst! Was für ein schöner Mantel! Alleine der Stoff!

Sie befühlt ihn.

MUTTER: Und dann noch die dicken Koffer! Was hast du denn bloß da drin?

KARLI: Das sag ich dir später. Zuerst einmal müssen wir dafür sorgen, dass ihr aus diesem Loch herauskommt. Ich habe gute Beziehungen. Ich mache das schon!

MUTTER: Und es geht dir wirklich gut? Auch unter dem Mantel? Nichts Verborgenes?

KARLI: Ich bin völlig okay. Ich war in britischer Gefangenschaft. Da ging es uns prima, und mit meinen Englischkenntnissen habe ich mich nützlich machen können. Ich habe mich mit dem Kantinenwirt angefreundet, und mit dem zieh ich jetzt hier was auf. Hier ist doch so gut wie alles knapp – ein Eldorado, um einen kleinen Handel aufzuumachen! Aber sag mir, was ist mit Helmut?

MUTTER: Er ist in der Stadt, die unter der Erde liegt… Ihre Eingänge sind schwer zu finden, sie liegen in Wäldern und unzugänglichen Höhlen… Die Eingänge werden bewacht – von Wölfen, Bären, Luchsen und wilden Stieren…

Karli wechselt einen Blick mit Harry.

MUTTER: Auch Gundel ist da…

KARLI: Und Großvater?

MUTTER: Er hatte einen Unfall im Chemieunterricht… Aber jetzt ist er wieder wohlauf, und Großmutter ist bei ihm… Es ist kalt dort unten, sie sitzen im Licht nackter Glühbirnen dicht beieinander und haben Wolldecken über den Knien…

Karli wechselt erneut einen Blick mit Harry.

KARLI: Und Vater?

Die Mutter zieht einen Brief aus dem Busen.

MUTTER: Von ihm kam ein Brief! Rat mal, woher? Er ist am Atlantik. In französischer Kriegsgefangenschaft! Weiß der Himmel, wie er dahin gekommen ist, denn sein letzter Brief kam aus Narwa… Hör, was er schreibt: „Es geht mir gut. Ich bin den ganzen Tag am Strand, genieße bei leichter Arbeit Licht und Luft und habe auch schon im Ozean gebadet. Es kann nicht mehr lange dauern, dann komme ich heim.“

Während sie vorliest, wird schon das nächste Bild beleuchtet.

5. Fünfter Durchgang

Strang 1 Meeresküste. Sehr viel Licht

Der Verbrannte in schlechtsitzenden deutschen Uniformteilen, eine Nickelbrille auf der Nase, das Gesicht von einer breiten weißen Brandnarbe entstellt, auf der sich Sommersprossen bilden. Er hält eine lange Stange in der Hand, an der ein kreisrunder Magnet hängt, ein Minensuchgerät. Er bewegt es vorsichtig und ruhig über den Sand. Geht ein paar Schritte. Tastet wieder den Boden ab. Geht wieder weiter.

KARLI (im vorigen Bild): Aber dann hast du von deinen Kindern die Hälfte behalten – und sogar noch den Mann! Mehr kann man nicht verlangen! Komm, darauf trinken wir einen! Ich habe erstklassigen Whisky dabei und stangenweise Zigaretten. Lisa kommt auch gleich, das ist meine Freundin, und wir sind ein Kreis von lauter lustigen Vögeln …

Strang 2 Trümmerhaufen mit Hütte

Aus dem Innern laute Plattenspielermusik. Karlis tiefe Stimme, dann das laute Kreischen von einem der Mädchen. Die Mutter und Harry kommen heraus, klettern den Schutthaufen herunter.

MUTTER: Hier können wir nicht bleiben.

HARRY: Warum nicht?

MUTTER: Das ist nichts für dich! Du hast genug mitgekriegt, wofür du noch viel zu klein bist.

HARRY: Und wohin gehen wir jetzt?

MUTTER: Wir suchen Großvater.

HARRY: Wo ist er?

MUTTER: Irgendwo. Er hatte einen Unfall in der Schule, als er mit Chlorgas experimentierte.

HARRY: Dabei ist er gestorben, Mama.

MUTTER: Red keinen Unsinn, Harry! Wir werden ihn finden! Bestimmt!

HARRY: Lass uns hier bleiben, Mama! Wo willst du hin?

MUTTER: Nun komm schon!

Sie zieht ihn mit sich. Karli kommt aus der Hütte. Die beiden Mädchen folgen ihm.

KARLI: Mama! Mama! (ärgerlich zu den Mädchen) Ich hab euch gesagt, ihr sollt euch zusammenreißen!

1. MÄDCHEN: Wer erzählt die Witze? Wir oder du?

KARLI: Lustig sein ist das eine, sich gehen lassen das andre! Los, mach die Bluse zu! Mama! Mama! Sie kann Weiber wie euch nicht ausstehen, aber sie kommt wieder. Bestimmt!

Licht aus.

Strang 3 Ort unter der Erde

Auf einer Bank sitzen im Licht einer nackten elektrischen Birne der Lehrer, seine Frau (die Großmutter) und Helmut, der Gundel im Arm hält. Sie summen leise vor sich hin, jeder eine andere Melodie, wiegen die Oberkörper hin und her, unterbrechen ihr Verhalten für einen kurzen Moment, wenn ein Neuling kommt.

Lüdcke kommt, trägt den abgerissenen unter dem heilen Arm.

LÜDCKE: Mein Name ist Lüdcke. Ich verlor im heldenhaften Kampf um den Übergang über die Luhe einen Arm und verblutete.

Er setzt sich. Alle summen und wiegen die Oberkörper hin und her. Rademacher kommt mit einer Schlinge um den Hals.

RADEMACHER: Rademacher. Ich wollte mich verpissen, wurde erwischt, kam vors Militärgericht und wurde am 3. Mai 1945 gehenkt.

Der Lehrer fühlt sich mitschuldig, bedeckt sein Gesicht. Rademacher setzt sich. Alle summen und wiegen die Oberkörper hin und her. Gottfried kommt mit einer Schußwunde in der Stirn.

GOTTFRIED: Gottfried. Ich erlag der Schußverletzung, die ich mir zuzog, als ich 1946 mit einem Sturmgewehr spielte, das ich im Wald gefunden hatte.

Er nimmt Platz. Alle summen und wiegen die Oberkörper hin und her. Karli kommt im nassen Mantel.

KARLI (wichtigtuerisch): Ich glaube, man kennt mich hier … Nun, was sage ich … Das viele Geld, das ich auf dem Schwarzmarkt verdiente, hat mir wenig genützt; ich verfiel dem Trunk und ertrank in meinem Wagen im Hafenbecken vier.

Als ihm kein Platz gemacht wird, stellt er sich grollend beiseite. Alle summen und wiegen die Oberkörper hin und her. Der Verbrannte und die Mutter kommen von verschiedenen Seiten, treffen in der Mitte der Bühne zusammen, sprechen gemeinsam, schauen einander aber nicht an.

VERBRANNTER und MUTTER: Wir überlebten den Krieg um ein rundes Vierteljahrhundert, aber diese Zeit war es nicht wert, durchlebt zu werden, denn wir fanden nicht wieder zueinander, verstrickten uns in Scheidungsauseinandersetzungen, deren wir uns schämen, aber wir wissen nicht, wie wir sie hätten vermeiden sollen. Dabei ging es vor allem um das Trümmergrundstück von Großmutters Haus.

GROSSMUTTER: Ach, das Haus, das Haus! Aber die Badewanne, um die tut es mir leid! Eine so gute bekomme ich nie wieder! Ein halbes Pfund Butter habe ich dafür bekommen von dem Bauern – und er ließ seine Kühe daraus saufen!

Der Verbrannte und die Mutter setzen sich getrennt an die Ende der Bank. Alle summen und wiegen die Oberkörper hin und her.

Licht aus.

Strang 4 Küchentisch

Inge Kartoffeln schälend. Sie wirkt froh, stark und zuversichtlich. Sie stellt die Kartoffelschalen beiseite. Schaut sie mit verhaltenem Lachen an. Spült die Kartoffeln und salzt sie. Die Tür geht auf. Harry kommt herein. Er sieht aus wie ein Schatten.

HARRY: Wir müssen packen, Inge.

INGE: Was denn, Harry?

HARRY: Es knallt. Die vier Engel sind los, die an den großen Strom Euphrat gebunden waren. Wo ist Jockel?

INGE: Ich hab ihn nach unten spielen geschickt. Aber das ist doch Unsinn! Was soll das denn bedeuten? Hier…

Sie faßt in die Kartoffelschalen.

Eine ganze Schüssel voll! Hast du nicht Lust? Du darfst sie alle über mich ausschütten! Ich bin so froh! Ich bin von einer Zentnerlast befreit. Ich habe zu Gott gefunden. Er ist das Licht der Welt. Er ist der Weg. Er wird uns beschützen. Wir sind alle in seiner Hand.

Jockel kommt.

JOCKEL: Mama, Klaus lässt mich nicht mit seiner Tankstelle spielen!

HARRY: Komm her, Jockel! Ich habe dir was zu sagen!

INGE: Was willst du ihm sagen?

JOCKEL: Papa, haben Düsenjäger auch Propeller?

HARRY: Komm her, Junge, ich erkläre es dir!

INGE: Willst du nicht ein Butterbrot? Ich glaube, du hast Hunger, und das Essen ist nicht so bald fertig!

HARRY: Jetzt kommst du her!

Er zieht Jockel an sich heran, Inge reißt ihn zurück.

INGE: Nein, geh jetzt nicht zu Papa, Jockel, er hat schlechte Laune.

Harry versucht, ihn wieder an sich zu ziehen.

INGE: Jetzt lass ihn zufrieden! Was soll er denn? Was hast du mit ihm vor?

Harry nimmt Jockel in die Arme.

HARRY: Papa hat dich sehr lieb, weißt du das? Sehr lieb hat er dich, sehr lieb! Und gerade deshalb möchte er, dass du nicht durchmachst, was er durchgemacht hat! Er küsst ihn und legt ihm die Hände um den Hals.

INGE (schreit): Nein, nein! Das darfst du nicht! Hilfe!

Sie fällt ihm in den Arm. Harry zögert. Licht aus.

Strang 5 Haublock

Alles Holz ist gespalten und zerkleinert. Der einarmige Holzhacker kann es nicht fassen.

HOLZHACKER: Ein Wunder! Ein Wunder!

(1986 unter dem Titel „Kartoffelschalen“ Dramatikerpreis der Theatergemeinden und Aufführung am Schillertheater, Berlin)