Robinsonade in drei Akten
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Hölderlin
Personen:
Jeronimo Alvarez, Gutsbesitzer aus Veneragua
Eliza Fleetwood, Witwe aus Baltimore
Ines, ihre Tochter
García, junger Kadett aus Veneragua
Soerensen, Biologe aus Schweden
Pilar de Luisi, Revolutionärin aus Veneragua
Lorna, Stewardess
Captain Calasso, Standbild
Agnes Stampfli, Künstlerin
Barbara Seiffert, Jugendbuchautorin
Piet, Strandwächter
Steven, Koch
Branko, Leibwächter von Alvarez, (stumme Rolle)
weitere zehn bis fünfzehn Gestrandete
Das Stück spielt in der Gegenwart auf einer kleinen Insel in der Karibik.
Erster Akt
Strand. Grab Calassos, auf dem ein Sockel steht. Schwemmholz. Tag.
Branko, Piet, Steven und Soerensen bringen das Holzbild eines Mannes herbei und stellen es auf den Sockel. Alle Gestrandeten tragen verschlissene, ausgebleichte Reisekleidung, einige keine Schuhe oder jeweils nur einen.
Alvarez, Eliza, Ines, Barbara, Agnes, Lorna und Pilar kommen. Alvarez hat einen Kranz. Er legt ihn am Sockel des Bildes nieder, alle verharren einen Moment schweigend.
ALVAREZ: Drei Wochen sind nun vergangen, seit unsere Maschine auf dem Flug von Veneragua nach New York in den Sog des Zyklons Harriet geriet und hierher verschlagen wurde. Drei Wochen harter Arbeit, drei Wochen des Hoffens auf Rettung und mancher Enttäuschung, drei Wochen aber auch, in denen wir, die wir einander großenteils fremd waren, einander kennen und schätzen gelernt haben. Unser Andenken gilt Käptn Calasso, der bei dem Versuch, das Funkgerät aus der sinkenden Maschine zu bergen, den Tod fand. Lieber Käptn Calasso, dein guter, väterlicher Geist möge über uns sein, möge uns trösten, wenn wir verzweifelt sind, möge uns Einigkeit schenken, wenn wir streiten – und er möge den vorbeifahrenden Schiffern die Augen öffnen für die Not unserer Verlassenheit. Mein besonderer Dank geht an Agnes, die das lebensgroße Bild unseres Käptn aus dem Holz einer Mangrove geschnitzt hat. Und das mit Werkzeug von äußerster Primitivität! Ich finde, es ist außerordentlich lebenswahr geraten!
Alle klatschen, Agnes verneigt sich bescheiden.
ALVAREZ: Warum aber hast du ihm eine Wunde eingeritzt?
AGNES: Ich wollte an einen anderen erinnern, der sein Leben gab für uns und dem die Seite mit der Lanze geöffnet wurde.
Alvarez ist für einen Moment irritiert, reißt sich dann aber zusammen.
ALVAREZ: Unser tiefster Kummer sind die Schiffe, die vorüberfahren, uns zuwinken – und unser Winken und Rufen nicht ernst nehmen, gerade als ob wir Pestkranke wären. Um uns verständlicher zu machen, haben wir mit dem Bau eines Floßes begonnen. Wir werden es bemannen und von der Nordspitze aus zur Fahrrinne treiben lassen. Versuche haben ergeben, daß es an der Südspitze der Insel wieder antreiben wird. Was fehlt, ist Bast. Wer kümmert sich darum? Ines! Und Barbara. Laßt uns die Arbeit fortsetzen! Diejenigen aber, die für Fisch und Früchte sowie für die Küche sorgen, sind freigestellt, ebenso die Strandwachen.
Alvarez mit fast allen ab. Nur Ines, García und Pilar, die ein steifes Bein hat, bleiben zurück.
INES (für sich): Er hat nicht einen Blick für mich gehabt. Was gibt ihm nur das Recht, so hochmütig zu sein? Für Pilar interessiert er sich – und er hat ja recht! Sie ist eine gestandene Frau, ich hingegen bin nur – ein Schluck Wasser!
Sie geht ebenfalls ab. García und Pilar haben begonnen, Schwemmholz zu einem Haufen zu schichten.
GARCIA: Was hätten wir bloß ohne Alvarez gemacht!
PILAR: Du liebst ihn.
GARCIA: Wie einen Vater. Er denkt an alles. Sorgt für alle. Denke nur daran, wie seine Kaltblütigkeit uns gerettet hat, als es darum ging, aus dem sich drehenden Flugzeug herauszukommen! Er hat die Bodenluke entdeckt und von Branko aufstemmen lassen. Wir wären alle kläglich abgesoffen!
PILAR: Was glaubst du, weshalb die Schiffe vorbeifahren?
GARCIA: Eins verläßt sich immer aufs nächste. Sie scheuen die Umstände und den Zeitverlust. Zeit ist Geld – für die.
Pilar ist erschöpft, lehnt sich an den Sockel.
PILAR: Ob du mir das Stück Holz unter den Fuß legen würdest?
García tut es.
Danke.
GARCIA: Wie lange hast du das mit dem Fuß?
PILAR: Seit meiner Haft.
GARCIA: Du warst im Gefängnis?
PILAR: Du nicht? Dann habe ich Grund, dir zu mißtrauen. Alle anständigen Veneraguaner waren im Gefängnis.
GARCIA: Bist du dort – gefallen?
Pilar lacht.
PILAR: Bist du naïv! Noch nie was von Folter gehört?
GARCIA: Sie haben dich…
Pilar nickt.
PILAR: Sie hatten verschiedene Epochen. Die Knüppelepoche, die Elektroschockepoche, die Sehnendurchschneideepoche. Ich hatte das Pech, in der letzteren in Haft zu geraten.
GARCIA: Sie haben dir…
PILAR: Nun ja. Du siehst: Ich lebe! Und ich hätte auch gekämpft. Aber sie wollten, daß ich nach New York gehe und die Republik bei der UNO vertrete.
GARCIA: Mendoza, dies Schwein. Hast du ihn gesehen?
PILAR: Er stand oft hinter einem Fenster, durch das ich nicht hindurchschauen konnte. Es heißt, er schaute sich gerne Folterungen an – und war auch der Erfinder der immer neuen Methoden.
GARCIA: Deshalb bin ich weg, als die Revolution ausbrach. Ich wollte nicht für die Junta kämpfen.
PILAR: Du hättest gegen sie kämpfen können.
GARCIA: Ich? Als Kadett der Offiziersschule?
PILAR: Uns fehlen Offiziere.
GARCIA: Sie hätten mich erschossen auf dem Weg zur Meldestelle.
PILAR: Du weißt, daß sie dich in New York stante pede nach Veneragua zurückschicken!
GARCIA: Auch wenn sie mich in den Tod schicken?
Pilar lacht.
PILAR: Ich bin sicher, die Republik hat längst gesiegt.
Licht aus.
Strand. Strunk. Tag.
Piet sitzt auf dem Strunk neben einer Tonne. Zum Alarmschlagen hat er ein Blech und einen Stock neben sich liegen. Steve kommt.
STEVE: Nun, hast du auch schön aufgepaßt?
PIET: Klar, Steve. Piet tut immer haargenau seine Pflicht. Piet ist schließlich nicht blöd.
Steve guckt in die Tonne.
STEVE: Aber die Tonne ist leer! Keine Makrele mehr drin!
Piet guckt auch hinein.
PIET: Merkwürdig. Eben war sie noch voll.
STEVE: Gib zu, du hast sie gegessen!
PIET: Dreiundzwanzig Makrelen könnte auch Piet nicht essen!
STEVE: Dreiundzwanzig waren es?
PIET: Dreiundzwanzig. Ich habe sie gezählt.
STEVE: Hast du wirklich ununterbrochen aufgepaßt?
PIET: Ja. Ich mußte nur einmal – austreten.
STEVE: Aha.
PIET: Und als ich zurückkomme – ich denk, ich seh nicht recht – springt eine von diesen dreckigen, räudigen, einäugigen Katzen mit einem zerfetzten und einem fehlenden Ohr aus der Tonne heraus, und rat mal, was sie im Maul hat!
Steve: Macht zweiundzwanzig.
PIET: Ich schaue aufs Meer hinaus und denke darüber nach, ob wohl Schiffe, die von rechts nach links fahren, besser sind als Schiffe, die von links nach rechts fahren – oder umgekehrt… Da hör ich doch – einen lauten Schrei – und sehe, wie zwei von diesen dreckigen, räudigen, einäugigen Katzen…
STEVE: Macht zwanzig… Piet, ich habe keine Lust zu warten, bis das Faß leer ist…
PIET: Habe ich dir schon von dem Geier erzählt? So ein ekelhafter Kerl mit nacktem, verschrumpeltem Hals stößt doch plötzlich auf mich herunter…
STEVE: Was mach ich denn jetzt zu Ines‘ Geburtstag? Ich soll ein Buffet vorbereiten. Und das wird nicht einfach sein, denn Ines stammt aus besten Verhältnissen und ist extrem anspruchsvoll.
PIET: Wie wärs mit irischer Hungersuppe? Zehn Liter Wasser, eine Kartoffel, ungeschält, eine Handvoll Brennesselblätter, ein alter Fischkopf, abschmecken mit Salz und Pfeffer, und dazu ein herzhaftes Gebet!
STEVE: Heut abend gibts Bananen! Gedünstet in Fischöl! Wieviele Portionen nimmst du?
PIET: Piet verzichtet. Er muß auf seine Figur…
Piet sieht ein Schiff. Hektisch greift er zum Blech, will draufschlagen. Steve fällt ihm in den Arm.
STEVE: Siehst du nicht, daß es schon fast vorbei ist? Der Alarm kommt zu spät! Und…
Steve schaut sich um, ob auch niemand mithört.
Es ist doch prima hier! Wer weiß, ob in New York nicht die Polente auf uns wartet!
Piet nickt klug und legt das Blech demonstrativ wieder hin.
PIET: Piet ist ja nicht blöd!
Licht aus.
Strand. Floßbaustelle. Tag.
Alvarez, Soerensen, Branko, García und vier weitere Männer mit bloßen Oberkörpern bei der Arbeit am Floß: Stammstücke werden mit Bast zusammengebunden. Sie singen beim Arbeiten.
MÄNNER: Horay and up she rises…
Sie schauen sich um, richten sich auf. Es ist kein Bast mehr da.
ALVAREZ: Die Frauen werden gleich neuen bringen. Ich denke, wir haben uns eine Pause verdient!
Soerensen hat sich auf das Floß gesetzt, steht aber höflich auf, als Branko ihm ein unhöfliches Zeichen gibt. Alvarez setzt sich, Branko nimmt hinter ihm Aufstellung, Soerensen und García stehen an seiner Seite. Die anderen Männer lagern sich vorn am Boden und würfeln.
ALVAREZ: Ach, das ist doch das Schönste – sich wieder einmal richtig auszuarbeiten!
SOERENSEN: Ich gestehe – ich stünde gern wieder hinterm Katheder!
MÄNNER: Herr Professer Apfelfresser! Herr Professer Apfelfresser!
Sie lachen und spielen weiter. Soerensen ignoriert sie demonstrativ.
ALVAREZ: Ich habe auch lange nur in Bücher geguckt! Die Literatur ist ein gefährliches Hobby! Man kommt nicht davon los, und schließlich schluckt sie dich über mit Haut und Haar!
GARCIA: Warum sind Sie nicht in die Politik gegangen? Ein Mann wie Sie… Ich meine…
Er wird verlegen.
ALVAREZ: Unter der Junta hieß Politik machen, sich an ihren Verbrechen beteiligen. Das war nicht meine Sache. Man ist mehrfach mit Angeboten an mich herangetreten… Zuletzt wollten sie mich zum Landwirtschaftsminister machen. Aber ich habe La Soledad vorgezogen. Es gibt nichts Schöneres als das Leben auf einem Landgut! Morgens durch die Zuckerrohrplantagen gehen und nach dem Rechten sehen… Den Arbeitern einen Besuch abstatten… Dann pflegte ich mich in die Bibliothek zurückzuziehen und die Klassiker zu lesen…
GARCIA: Aber jetzt, wenn die Republik siegt… Werden Sie sich dann zur Verfügung stellen? Sie haben so viel Umsicht, Weitsicht und Geschick im Umgang mit Menschen. Sie dürfen sich nicht länger verweigern!
ALVAREZ: Wenn man mich fragt…
GARCIA: Wohin wollten Sie, als Sie das Flugzeug bestiegen? Sie hatten von den Rebellen nichts zu befürchten!
ALVAREZ: Ich wollte einen alten Studienfreund besuchen, Thomas McCullen… Er wohnt in Neuengland in einem bezaubernden alten Farmhaus mit Scheune und frönt der Malerei… Was ist das?
Alvarez springt auf und schaut aufs Meer hinaus. Alle folgen seinem Blick. Die Würfler springen auf, folgen dem Schiff mit den Blicken, laufen ihm gestikulierend und schreiend nach – und verschwinden so von der Bühne.
ALVAREZ: Warum wurde nicht Alarm geschlagen? Ein Tanker! Ein Riesentanker fährt vorbei und keiner schlägt Alarm! Wer hat Strandwache?
Branko spielt »Piet«.
Piet? Ja, Piet! O, wie ich ihn hasse, diesen kleinen Ganoven! Er besteht nur aus seinem Bauch und hat das Hirn einer Ratte! Man sollte ihm das Genick brechen!
García zuckt zusammen. Alvarez merkt das.
O, tut mir leid, aber das Leben ist Kampf, Kampf und nichts als Kampf! Schon Darwin hat herausgefunden, daß die gesamte Natur auf dem Prinzip des Kampfes ums Dasein beruht! Nichts als blutiger, rücksichtlosester und erbarmungsloser Kampf eines gegen den anderen! Entweder er oder ich! Etwas anderes gibt es nicht!
SOERENSEN: Mit Verlaub, Señor Alvarez, aber Darwin war in diesem Punkt weniger einseitig als viele seiner Anhänger! Er hat durchaus gesehen, daß es in der Natur auch das Prinzip gegenseitiger Hilfe gibt – Fürst Kropotkin hat darüber ein ausgezeichnetes Buch geschrieben, das in Ihrer Bibliothek offenbar fehlt! Angefangen mit der Symbiose unterschiedlicher Lebewesen über die lebenslangen Vogelehen bis zum Sozialverhalten der Herdentiere und der Staatsbildung der Insekten… Der Kampf ums Dasein ist nur eine Seite der Natur, die zwei Gesichter zeigt wie der Gott Janus bei den alten Römern…
Alvarez ist immer noch wütend, beherrscht sich aber.
ALVAREZ: Geschwätz für Pastorentöchter… Die Natur kennt weder Moral noch Anstand! Es ist ein Wachvergehen, für das es keine Entschuldigung gibt! Wir dürfen keine Chance für unsere Rettung versäumen! Sie haben Recht, Professor, wir sollten Piet helfen, ein besserer Strandwächter zu werden, indem wir ihm Gelegenheit geben zu üben. Er hat Nachtwache! Ich sag es ihm selbst! Kümmert ihr euch um den Bast!
Alvarez mit Branko ab. Soerensen faßt García am Arm. Sie gehen, immer wieder stehen bleibend, in entgegengesetzte Richtung.
SOERENSEN: Zum Beispiel die Delphine…
Er schaut zur Fahrrinne hinaus.
Wußten Sie schon, daß es bei ihnen Geburtshilfe gibt? Sie sind Säugetiere und Luftatmer wie wir… Die Weibchen bringen lebende Junge zur Welt, und dann schwimmen Geburtshelferinnen ihnen zur Seite, und kaum bemerken sie, daß das Neugeborene Luftnot bekommt, fassen sie es zart mit den Lippen und tragen es zur Wasseroberfläche empor!
Bei den letzten Worten sind sie schon nicht mehr zu sehen. Licht aus.
Palmen. Wäscheleine. Tag.
Ines und Barbara holen Bast aus einem selbstgefertigten Holztrog und hängen ihn auf die Leine, an dem schon mehrere Bündel hängen.
BARBARA: Der Strand mit den Palmen… Das unendliche Meer… Die Zufallsgesellschaft der Notgewasserten… Das ist alles so romantisch! So spannend! Und jetzt haben wir sogar noch ein Denkmal für unseren ertrunkenen Kapitän! Ich hätte mir in meiner kühnsten Phantasie nichts Spannenderes ausmalen können!
Ines seufzt.
INES: Vermißt du gar nicht dein Zuhause? Deine Freunde?
BARBARA: Ach, ich habe in Deutschland auf dem Dorf gelebt… Ich bin zu allen hingegangen, wollte gut Freund mit allen sein… Aber man hat mich nur mißtrauisch beäugt… Eine alleinstehende Frau… Was will die? Was macht die? Wovon lebt die? Soll ich dir was sagen? Ich habe geglaubt, auf dem Lande unverdorbenere Menschen anzutreffen als in der Stadt. Aber ich habe Angsthasen angetroffen, die sich hinter ihren Hecken verstecken, die sie solange schneiden, bis sie kaum noch da sind, die mit knatternden und stinkenden Zweitaktern ihren Rasen mähen, wenn er einen Millimeter zu lang ist, die ihr hochanständiges Leben hinter Stores verstecken, deren Falten genau 9,8 cm voneinander entfernt sein müssen, Menschen, die sich nicht helfen lassen wollen, weil sie Angst haben, sie könnten dann einmal anderen helfen müssen… Eine Welt der Beschränktheit und der Gehässigkeit… Wie herrlich ist es hier – unter euch! Die gemeinsame Not hat alles Enge und Überflüssige von uns abfallen lassen. Ich genieße jeden Tag… Und soll ich dir etwas verraten? Ich sehne mich nicht nach Rettung. Rettung wovor?
Sie haben ihre Arbeit beendigt.
INES: Was zieh ich denn bloß morgen an?
BARBARA: Wieso?
INES: Ich hab doch morgen Geburtstag.
BARBARA: Aber – hast du denn überhaupt Alternativen?
INES: Nein, eben nicht! Und wen lad ich ein?
BARBARA: Ganz einfach alle!
INES: Und wie bewirte ich sie?
BARBARA: Ich bin sicher, daß Steve sich was einfallen lassen wird.
INES: Ach, Steve! Ein Spitzbube – genau wie Piet! Und Branko! Was sind das bloß alles für Menschen, unter die ich hier geraten bin? Ungebildete Proleten – Hefe…
BARBARA: Mit der jeunesse dorée von Baltimore können sie natürlich nicht mithalten… Ich als simple deutsche Jugendbuchautorin vom Land… Agnes als biedere Schweizer Künstlerin… Soerensen als spießiger schwedischer Professor… Da bist du natürlich Besseres gewohnt!
INES: Ach, mach dich auch noch lustig über mich!
BARBARA: Was hältst du denn z.B. von García?
INES: Ein Kommißkopp! Ein Stinkstiefel! Ein arroganter Mistkerl!
BARBARA: Vorhin konntest du dich von seinem Anblick nicht losreißen.
INES: Es stimmt, er ist von einer gewissen – faszinierenden – Häßlichkeit.
BARBARA: Ines?
INES: Ja! Was ist?
BARBARA: Merkst du denn nicht, was los ist?
Ines bricht in Tränen aus. Beim folgenden stampft sie mit dem Fuß auf.
INES: Ich will es nicht, ich will es nicht, ich will es nicht! Er behandelt mich wie ein Kind, er ist ein Niemand, ein Junge ohne Zukunft und ohne Namen!
García kommt.
GARCIA: Hello, Ladies. Wir kommen nicht weiter, wir brauchen Bast.
BARBARA: Stimmt, wir haben die Zeit verschwatzt.
GARCIA: Eine Frau braucht für die Wäsche zwei Stunden. Wie lange brauchen zwei Frauen?
INES: Spar dir deine Macho-Witze! Wir sind nicht in Veneragua.
GARCIA: Schau dir Pilar an! Die verschwatzt nicht die Zeit!
INES: Nicht jede Frau ist eine Pilar. Und nicht jeder Mann ist ein Alvarez.
GARCIA: Was willst du damit sagen?
INES: Wie nennt man eigentlich Soldaten, Barbara, die, wenn es brenzlig wird, davonlaufen? Nennt man sie nicht Deserteure?
GARCIA: Ich bin nicht vor dem Krieg, sondern vor dem Einsatz auf der falschen Seite davongelaufen. Ich wollte nicht für die Junta kämpfen!
INES: Soldat bleibt Soldat. Und alle Soldaten sind Mörder.
GARCIA: Warum schwatzt du anderen etwas nach, nur um mich zu verletzen?
INES: Ich glaube nicht, daß man ein Rhinozeros verletzen kann.
Sie geht ab.
GARCIA: Was hat sie bloß?
Barbara legt ihm ein Bündel Bast in die Arme.
BARBARA: Das frag dich mal selbst!
García geht ab.
BARBARA: Was für ein hübscher Kerl! Da könnte ja sogar unsereins noch mal schwach werden! O was für ein wunderbares Abenteuer! Und nun wird es auch noch mit Liebe gewürzt! Die arme Ines! Sie kennt nur die seichten Unverbindlichkeiten, in denen sich das Leben einer reichen höheren Tochter abspielt, und zum ersten Mal wird ihr Herz von wirklicher Liebe ergriffen! Wundervoll zu sehen, wie es geschüttelt und gerüttelt wird! Ich hätte mir nichts Spannenderes ausdenken können!
Sie geht ab. Licht aus.
Strand. Bild Calassos. Nacht.
Piet mit Blech und Stock an den Sockel gelehnt. Er spielt ein Spiel mit seinem rechten Daumen, den er abwechselnd in seiner Faust verschwinden und wieder auftauchen läßt.
PIET: Da isser. Weg isser!
Er amüsiert sich königlich, verzögert das Wiederauftauchen des Daumens.
Da isser! Weg isser!
Er setzt das fort, bis es ihm langweilig wird. Er seufzt, streckt sich aus, die Augen fallen ihm zu. Er schrickt zusammen, schüttelt den Schlaf ab und versucht, sich mit dem »Selbstschreck« wachzuhalten. Der besteht darin, daß er scheinbar ahnungslos und ruhig aufs Meer hinausschaut, aber seine »grauenvoll gespreizte« rechte Hand nähert sich von hinten über seinen Kopf – bis er plötzlich die gespreizten Finger sieht und wahnsinnig erschrickt. Er grinst: Das hat ihn wach gemacht. Er schaut geradeaus aufs Meer hinaus. Da beugt sich plötzlich Calasso zu ihm herab und nähert seine »grauenvoll gespreizte« rechte Hand dem Blick Piets. Als Piet die Hand sieht, grinst er souverän: Er weiß ja, daß es seine ist! Als sie immer näher und tiefer kommt, schiebt er sie mit der eigenen Rechten beiseite – und merkt erst in diesem Moment, daß er ja nicht zwei rechte Hände haben kann! Und außerdem ist Calassos Hand ziemlich kalt! Mit einem lauten Aufschrei springt er nach vorn und schaut entsetzt zu Calasso auf, der in seine alte Haltung zurückgekehrt ist.
CALASSO: Gelegentlich kehrt Kraft in mich zurück:
Ich bitte dich – García zu mir schick.
Ich habe ihm zu sagen, was euch frommt –
sieh zu, daß bald er, unverzüglich, kommt.
PIET: Jawohl! Ay ay, Sir! Zu Befehl, mein Käptn!
Er rennt mit vor Angst flatternden Gliedern davon.
Seitlich von der Bühne sieht man jetzt García am Boden (auf ein paar Tischen, die den Boden »darstellen«) schlafen. Piet nähert sich ihm, rüttelt ihn.
PIET: He, García!
GARCIA: Was ist los?
PIET: Du sollst zum Käptn kommen!
GARCIA: Zum Käptn? Du meinst, zu Señor Alvarez!
PIET: Er ist ganz fromm geworden und du sollst vorzüglich zu ihm kommen.
García richtet sich auf, will gehen.
Zum Käptn.
GARCIA: Was faselst du von Käptn? Käptn Calasso ist tot.
PIET: Aber er hat gesagt, daß du…
García packt Piet bei der Hemdbrust und zieht ihn an sich heran.
GARCIA: Käptn Calasso?
Piet nickt verzweifelt. García stößt ihn weg und schaut für einen Moment aufs Meer hinaus.
GARCIA: Was kann er von mir wollen?
PIET: Frag ihn doch selbst!
GARCIA: Komm mit, wir gehen!
PIET: O nein, bitte… Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen… Es ist etwas, was man nur nachts, nur um diese Zeit erledigen kann… Es hängt mit Ines‘ Geburtstag zusammen!
GARCIA: Aber du hast Strandwache!
PIET: Sei so nett und vertritt mich! Tu es Ines zuliebe, ja?
Er geht gestikulierend ab.
GARCIA: Ines zuliebe – die mich als Mörder verachtet… Nun gut…
Er macht sich auf den Weg.
García kommt am Bild Calassos an, bleibt in respektvoller Entfernung stehen.
GARCIA: Was hast du mir zu sagen, Käptn?
CALASSO: Nehmt euch vor Señor Alvarez in acht!
García, obgleich vorgewarnt, prallt doch zurück, als er die hohltönende Stimme des Standbilds vernimmt.
CALASSO: Ich hab das Funkgerät heraufgebracht
und lag hier schwach und abgekämpft am Strand,
da griff nach mir infame Mörderhand –
ich hab Mendozas Hand in ihr erkannt!
GARCIA: Mendozas?
CALASSO: Er ist’s. Und hast du Zweifel,
frag Lorna, denn sie kennt den Teufel!
Er erstarrt.
GARCIA: Aber warum… Weshalb… Ja, natürlich! O bitte, sag mir, was soll ich tun? Was soll ich tun?
García rüttelt an dem Bild. Es schweigt.
Alvarez, mein lieber, verehrter Alvarez ein Folterer, ein Massenmörder, ein Ungeheuer? O, du lügst, Calasso, du lügst! Warum aber sollte er mich anlügen, aus dem Tode heraus? Welches Interesse könnte er haben? Allenfalls das der Rache – aber ja… Wäre es nicht berechtigt, wenn Alvarez ihn, nur weil er wußte, was er wußte, erwürgt hätte? Was aber ist aus dem Funkgerät geworden? Wo hat er es versteckt? Und warum?
Er taumelt davon, ohne an Strandwache zu denken. Licht aus.
Strand. Schwemmholzhaufen. Nacht.
Wind und Wellenrauschen. Ines kommt, kniet an der Rampe hin und schaut aufs nächtliche Meer hinaus.
INES: Das Meer leuchtet und schillert in blauen und grünen Farben, aber in mir ist alles schwarz! O ich wußte nichts vom Leben, als ich hierherkam, ich war ein oberflächliches und verwöhntes Kind… Ich glaubte, ich wüßte, was Liebe ist – aber ich kannte nur Befriedigung meiner Eitelkeit, dummen Stolz und den billigen Triumph über andere! Keine andere macht mir García streitig, und dennoch zerreißt der Gedanke an ihn mein Herz! Er ist meiner nicht würdig – und doch liebe ich ihn. Er ist ein niemand – und doch liebe ich ihn. Er hat nichts, ist nichts, wird nichts – und doch liebe ich ihn!
García tritt leise im Hintergrund auf, bemerkt Ines, bleibt still und hört ihr zu.
INES: O höre mich doch, García! Wenn ich dich verletze, so nur, weil ich dich so furchtbar liebe, daß es mir weh tut! Ich liebe dich, García! Nur dich, du einziger, du kostbarer, du Stolzer und Schöner, ich liebe dich, mein junger Kriegsgott! O, meine Wangen glühen… Ich muß sie kühlen…
Sie spült sich das Gesicht mit Meerwasser, steht auf und geht ab, ohne García zu bemerken, der an die Stelle geht, wo sie gekniet hat und seinerseits niederkniet.
GARCIA: Was für ein Wunder! Nur wenige Augenblicke sind vergangen, seit ich erfuhr, was ich lieber nie erfahren hätte! Oder habe ich es nur geträumt? Aber es genügt, daß es wahr sein kann, um mir für immer den Schlaf zu rauben! Und nun, beladen mit einem Wissen, das mich aus all meinen Knabenträumen reißt, vernichtet durch den Sturz meines Ideals, erfahre ich, daß Ines mich liebt! Gerade als ob sich das Schicksal, wenn es Unglück auf die eine Waagschale wirft, auf die andere Glück werfen müßte… O Ines, ich will dir gehören bis ans Ende der Welt!
Vorhang
Zweiter Akt
Palmen. Früher Morgen.
Unter dem Baum Alvarez, schlafend. Pilar steht in seiner Nähe, kann den Blick nicht von ihm wenden.
PILAR: Wovon er wohl träumt, dieser Römerkopf! Aber ganz geheuer ist er mir nicht. Warum hat er Veneragua verlassen genau in dem Augenblick, als unsere Guerilla losschlug? Was hatte er zu befürchten?
Alvarez erwacht, schaut sich um.
ALVAREZ: Pilar! Was ist los? Wenn ich Sie sehe, habe ich immer Angst vor schlimmen Botschaften.
PILAR: Guten Morgen, Señor!
ALVAREZ: O Verzeihung! Guten Morgen, Señorita!
PILAR: Gut geschlafen?
ALVAREZ: Karl XII. von Schweden pflegte mit seinen Soldaten auf der nackten Erde zu schlafen. Aber ich fürchte, für solche soldatischen Vergnügungen bin ich nicht gemacht. Ich sehne mich nach einem weichen Bett.
PILAR: Wie Sie es auf La Soledad hatten, nicht wahr…
ALVAREZ: Wo? Ah, natürlich, auf La Soledad, meinem Landgut. Ja, dort hatte ich ein wundervolles Bett, es wurde mir von Jessica jeden Tag aufgeschüttelt, an die Sonne gelegt und frisch bezogen… Ach ja, der Luxus! Gab es keine Schiffspassagen die Nacht? Oder hat Piet wieder geschlafen?
PILAR: Sagen Sie doch, wo lag La Soledad? Mir ist ein Gut dieses Namens nicht geläufig.
ALVAREZ: Woher stammen Sie denn?
PILAR: Aus dem San Jago-Tal.
ALVAREZ: O! La Soledad liegt genau am entgegengesetzten Ende von Veneragua, in den Montes de Pepe nicht weit von Buenas Aguas.
PILAR: Die Montes de Pepe kenne ich sehr gut. Dort habe ich meine Grundausbildung im Guerillakampf bekommen. Es gibt dort kein Landgut, das La Soledad heißt.
Alvarez schaut zu Boden, lächelt dann, schaut sich um, ob auch niemand lauscht, spricht dann mit gedämpfter Stimme.
ALVAREZ: Erwischt! Sie haben mich erwischt!
Pilar weicht zurück, faßt an ihr Hosenbein, wo ein Messer steckt.
PILAR: Wer sind Sie?
ALVAREZ (verschwörerisch): Sagen Sie’s auch keinem weiter? Mein Name ist Wladimir Patkin, ich bin Resident des russischen Geheimdienstes in Veneragua. Ich wurde nach Hause beordert, um über die bevorstehenden Veränderungen Bericht zu erstatten.
PILAR (auf Russisch): Ich habe es geahnt. Willkommen, Genosse Patkin! Oder habt ihr die Anrede »Genosse« in Rußland abgeschafft?
ALVAREZ (auf Russisch): O nein, Genossin Pilar! Wir haben das Hemd gewechselt, aber nicht das Herz!
Er spricht wieder deutsch.
Müßten wir uns kennen?
PILAR: Mein Name ist Pilar de Luisi.
Alvarez zuckt zusammen, beherrscht sich aber.
ALVAREZ: Dann sind Sie die Sportlerin, die von Mendoza so bestialisch gefoltert wurde! Kommen Sie an mein Herz!
Er umarmt Pilar, die für einen Moment den Kopf auf seine Schulter sinken läßt und aufschluchzt.
ALVAREZ: Selbstverständlich bleibt Rußland seiner Linie treu und unterstützt den heldenhaften Kampf des veneraguanischen Volkes! Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?
PILAR (stolz): Was für eine Frage, Genosse!
Licht aus.
Vor einer Höhle, Morgen.
Der Eingang zur Höhle ist mit Bast verhängt. García kommt mit einem Blumenstrauß in der Hand, setzt sich hin und wartet. Soerensen kommt gerannt, hält etwas Unsichtbares in der Hand.
SOERENSEN: Es ist unfaßbar! Heureka! Heureka!
GARCIA: Seien Sie still! Die Frauen schlafen noch.
SOERENSEN: Ich habe es geahnt! Schon seit vielen Jahren untersuche ich die Strandfauna und habe eine Lücke festgestellt… Es gibt eine ganze Reihe von Kerbtieren, deren Nahrungsgrundlage absolut unbekannt war… In der Gefangenschaft gingen sie ein… Es mußte noch ein weiteres Lebewesen geben – und was glauben Sie? Ich habe es gefunden! Hier!
Er hält begeistert García seinen Zeigefinger hin. García schaut genau drauf, schüttelt den Kopf.
Das winzige Würmchen, sehen Sie’s nicht? Und ich habe auch schon den Namen dafür: Vermix minimax Soerensianum! Ach, immer habe ich davon geträumt wie mein Landsmann Linné einmal in die Nomenklatur einzugehen! Und jetzt endlich wurde es mir beschieden! Ein winziges Würmchen erhebt mich unter die Unsterblichen!
Er streckt den Finger mit dem unsichtbaren Wurm in die Höhe – und erstarrt in dieser Haltung, denn Eliza kommt aus der Höhle zum Vorschein.
ELIZA: »Wann endlich, Clint, befreist du dich aus dem Banne dieser Hexe Britt? Begreifst du denn nicht, daß sie nicht dein Bestes, sondern deinen Untergang will?« Nein, so wird es nicht wirken, ich muß mehr Gefühl hineinlegen: »Wann endlich, Clint, befreist du dich aus dem Banne dieser Hexe Britt? Begreifst du denn nicht, daß sie nicht dein Bestes, sondern deinen Untergang will?« Ja, so werde ich ihn erschüttern und umstimmen können – denn was bin ich ohne ihn? Nichts als eine bedeutungslose, alternde Witwe, die niemand mehr ernst nimmt…
Sie schlägt die Hände vors Gesicht. García wendet sich leise an Soerensen.
GARCIA: Wovon spricht sie?
SOERENSEN: Sie hat sich nach dem Tod ihres Mannes in die Welt der Serie »Buchenplatz« geflüchtet… Ines sagt, zu Anfang habe sie zwischen Wirklichkeit und Schein durchaus noch unterscheiden können, aber seit der Notwasserung… Das Fehlen jeglicher Zivilisation, die Härte des Lebens hier…
ELIZA: Ach, wenn ich doch wenigstens in Rachel eine Freundin hätte! Aber sie ist nichts – als eine Tochter, und sie hat sich für Hank entschieden… Aber Hank ist tot, tot, tot! Am besten wäre ich gleich mit ihm gestorben! O Rachel, Rachel, Rachel, wie kannst du mir das antun?
Ines kommt heraus.
INES: Es gibt keine Rachel, Mama! Ich bin hier, Ines – und ich habe nicht das geringste einzuwenden, wenn du wieder heiraten willst! Hast du gehört? O mein Gott!
Soerensen und García kommen aus ihrem Versteck. Eliza kommt auf Soerensen zu.
ELIZA: Ach, endlich, Clint! endlich! Ich glaubte schon, du hättest deine Daggie ganz und gar vergessen! Wann endlich, Clint, befreist du dich aus dem Banne dieser Hexe Britt? Begreifst du denn nicht, daß sie nicht dein Bestes, sondern deinen Untergang will?
SOERENSEN (zu Ines): Ich gehe mit ihr an den Strand. Es wird ihr guttun.
Er wendet sich Eliza zu.
Nun, haben Sie gut geschlafen, Mrs Fleetwood?
Eliza zeigt keine Reaktion. Soerensen faßt sie beim Arm und geht mit ihr ab. Ines schweigt und schaut zu Boden.
GARCIA (verlegen): Ich wollte dir… Ahem. Herzlichen…
Er streckt ihr die Blumen entgegen. Sie bemerkt es nicht.
Ines?
INES: Ich schäme mich so.
GARCIA: Aber wofür?
INES: Für meine Mutter. Was für ein Jammerbild!
GARCIA: Aber du bist nicht sie. Du bist Ines! Und du bist kein Bild des Jammers, du lebst in der Wirklichkeit, bist tatkräftig, wortgewaltig, mutig und schön!
INES (schaut auf): Findest du das wirklich?
García nickt, streckt ihr erneut die Blumen hin.
Sind die für mich?
García nickt.
Zu meinem Geburtstag?
García nickt.
Ich wußte gar nicht, daß du auch nett sein kannst. Hast du etwas dagegen, wenn ich mir einen Kranz daraus flechte? Vasen haben wir sowieso keine!
Sie beginnt zu flechten.
Ich wollte dich um Verzeihung bitten.
GARCIA: Wofür?
INES: Ach, ich habe gestern dummes Zeug geredet… Alle Soldaten wären Mörder…
GARCIA: Aber es ist doch wahr!
INES: Nein, das ist es nicht. Dann wäre auch Hank ein Mörder gewesen, und ich weigere mich, das zu glauben.
GARCIA: Hank?
INES: Mein Vater. Er war in Vietnam. Bestimmt haben sie dort furchtbare Sachen gemacht… Er hat sich immer geweigert, davon zu erzählen… Aber blieb ihnen denn eine Wahl? Du siehst traurig aus.
GARCIA: Man sollte dem Anschein nicht trauen… Es kann einer ein wundervoller Mann sein, tatkräftig, ehrenhaft, moralisch einwandfrei… Und dann stellt sich plötzlich heraus, daß er die furchtbarsten Verbrechen auf dem Kerbholz hat…
INES (befremdet): Woran denkst du?
García schweigt. In der Ferne wird das Blech geschlagen.
INES: Ein Schiff!
Sie springt auf, läßt den halbfertigen Kranz liegen und läuft mit García von der Bühne. Licht aus.
Strand. Bild Calassos. Tag.
Lorna, die Strandwache hat, schlägt noch immer das Blech. Alle Insulaner strömen zusammen. Es gibt zuerst ein großes Durcheinander. Alvarez kommt als letzter mit Branko.
ALVAREZ: Hierher die Tänzer!
Links vorn gruppieren sich die Tänzer, zu denen auch Barbara, Agnes, Ines und Lorna sowie Branko gehören. Sie haben große, aber meist schmutzige und unansehnliche Stoffetzen in Händen.
Hierher die Rufer!
Die Rufer, denen sich Alvarez sowie García, Steven und Piet anschließen, stellen sich rechts vorne auf.
Dort draußen unsre Rettung! Ruft! Und tanzt!
RUFER: Mayday! Mayday!
ALVAREZ: Sie winken uns zu!
Die Tänzer tanzen die Rufe und schwenken die Tücher.
RUFER (noch lauter): Save our souls! Save our souls! Save our souls!
Soerensen kommt mit Eliza. Er stellt sich zu den Rufern.
ELIZA: Um Himmels Willen… Was ist denn passiert? Clint! Clint! Bitte verlaß mich nicht!
RUFER: Hilfe! Hilfe! Hi…
Das Schiff, dem alle mit den Augen gefolgt sind, ist offenbar am Horizont verschwunden. Die Tänzer haben sich völlig verausgabt und sinken zu Boden. Branko nimmt schweratmend hinter Alvarez Aufstellung.
BARBARA: Das ist doch nicht zu fassen! Man hat uns nicht nur aufgegeben – man ignoriert uns! Wahrscheinlich halten die uns für einen Haufen völlig ausgeflippter Trekking-Touristen!
AGNES: Calasso, Calasso! Wolltest du uns nicht alle retten?
Lorna: Er hat sein Leben gegeben – was kann man mehr erwarten?
STEVEN: Tut mir leid – aber ich muß mich ums Essen kümmern.
Er geht ab.
PIET: Piet muß sich auch ums Essen kümmern, weil: Auf den Schreck haben alle bestimmt einen Riesenkohldampf, und Piet muß aufpassen, daß keiner nascht, denn es gibt keinen besseren Gärtner als den Bock!
Er geht ebenfalls ab. Soerensen kehrt zu Eliza zurück.
Soerensen: Meine Entdeckung bleibt der Welt weiter vorenthalten.
ELIZA: O Clint, Clint! Ich hatte schon Sorge, du würdest abreisen und deine Daggie hier hilflos zurücklassen!
PILAR: »Clint, Clint!« Wie lange müssen wir diesen Unfug noch mitanhören! In New York warten die Vereinten Nationen auf die Stimme der Republik von Veneragua, und Sie haben nichts als diesen dämlichen Clint im Kopf!
Eliza bricht in Tränen aus.
ELIZA: Aber ich habe doch nichts als ihn.
Pilar wird von Mitleid ergriffen, geht zu Eliza und nimmt sie in den Arm.
PILAR: Es tut mir leid! Es ist ja wahr – wärmen tun mich meine Ideale auch nicht!
GARCIA: Was sagen Sie dazu, Señor Alvarez?
ALVAREZ: Ich begreife es nicht. Geradezu, als ob sie Auftrag hätten, uns zu ignorieren. Ich muß darauf was trinken! Wir sehen uns bei Ines‘ Geburtstagsfeier!
Er geht ab, gefolgt von Branko und den anderen. Nur Lorna bleibt zurück.
LORNA: O Jeronimo, es ist kein ehrliches Spiel, das du mit uns treibst! Wieder einmal hast du deine Abgründe und Staatsgeheimnisse und sagst uns noch lange nicht alles! Ach, wenn ich doch von dir lassen könnte – aber einen so hinreißenden Hund wie dich finde ich nirgends wieder. Du hast dich mit meinem Blut vermählt, und es will zurück in deines.
García kommt zurück.
GARCIA: Was dagegen, wenn ich Ihnen ein Weilchen Gesellschaft leiste?
LORNA: Solange du mir nicht den Hof machst, gern.
GARCIA: Darf ich Sie etwas fragen? Wie ist das, wenn ein reiches Mädchen sich in einen Habenichts von jungem Burschen verliebt – kann das gut gehen?
LORNA: Frag mich lieber das Umgekehrte, darin hab ich Erfahrung.
García schaut sie fragend an.
Ich stamme aus einer armen Bauernfamilie des Hochlands – genau wie Pilar, aber ich bin einen anderen Weg gegangen als sie. Mein Vater starb, da ging meine Mutter mit uns – wir waren drei Mädchen – in die Stadt, und wir verkauften Orangen und frische Feigen am Flughafen. Da kommt eines Tages ein feiner Herr… Er roch so gut… Er bietet meiner Mutter tausend Dublonen – für mich… Mit dem Geld hat sie meinen Schwestern einen Schulplatz gekauft… Nun, mein Gönner war immer gut zu mir… Drei Jahre lang war ich seine Geliebte – dann hat er mich auf eine Schule für Stewardessen gesteckt… Ich weiß nicht, was ein reiches Mädchen mit einem armen Jungen macht, wenn sie ihn leid ist… Vielleicht bezahlt sie ihm ein Studium und macht ihn zum Professor von ihren Gnaden…
GARCIA: Wer war der feine Mann – wenn man fragen darf?
LORNA: Sie werden es nicht glauben, aber das war Miguel Mendoza, der spätere gefürchtete Polizeiminister der Junta.
GARCIA: Dann gehören Sie ja zu den wenigen, die bezeugen können, wie er aussieht.
LORNA (lacht): Mit Sicherheit ist er der erste gewesen, den die Aufständischen erschossen haben! Da gibt es nichts mehr zu bezeugen! So, ich habe hier jetzt lange genug Ausschau gehalten. Ich will mich für das Fest noch ein wenig aufdonnern!
Sie geht ab.
GARCIA: Also hätte sie Mendoza in Alvarez nicht erkannt. Calasso lügt! Aber sie kennt Mendoza – in diesem Punkt hat er die Wahrheit gesagt! Ja – natürlich – sie liebt ihn – und deshalb gibt sie ihn nicht preis! O Calasso, Calasso, hättest du doch geschwiegen!
Licht aus.
Liegender Stamm. Tisch mit Speisen. Abend.
Steven überschaut noch einmal alles, Piet sucht eine Gelegenheit, was vom Tisch zu stibitzen.
STEVEN: Makrelenkaviar an Ananassorbett… Mangoschiffchen mit Makrelenschaum gefüllt… Tintenfischpastete im Bierteig… Bananenpudding mit Bourbonvanille… Willst du wohl keine langen Finger machen?
Er schlägt Piet auf die ausgestreckte Hand, Piet heult auf.
PIET: Aber Piet hat nichts anderes gelernt!
STEVEN: Mais-Bratlinge mit Tintenfischleber, Seegurke auf Schloßherrenart frisch gekocht, Waldorf-Salat an pochiertem Blasentang…
Piet hat sich unbemerkt was genommen und hat jetzt die Backen voll. Steven schaut ihn fragend an.
PIET: Was guckst du Piet so an?
STEVEN: Was hast du dir…
PIET: Nichts. Ich habe es mir in den Mund gesteckt und habe jetzt den ganzen Mund voller Nichts. Du glaubst nicht, wie zäh so ein Haufen Nichts sein kann – und wie es im Mund aufquillt!
Steven will ihm eine herunterhauen, aber gerade noch rechtzeitig kommen Eliza und Soerensen auf die Bühne.
ELIZA (emphatisch): Ich bitte Sie, Clint… Seien Sie nicht so stürmisch! Hank ist noch keinen Monat unter der Erde, ich bin innerlich noch nicht so weit…
SOERENSEN: Ach, meine Liebe, es steht nicht zum besten um Sie.
ELIZA: Was sagen Sie da? Daggie ist zwar noch in Trauer, aber ansonsten geht es ihr ausgezeichnet.
SOERENSEN: Ich spreche nicht mit Daggie. Ich kenne keine Daggie. Und ich bin auch nicht Clint. Und stürmisch bin ich schon gar nicht. Ich sehe nicht den geringsten Grund dafür. Sie sind nichts weiter als eine reiche Witwe, die nicht ganz bei Trost ist. Haben Sie ein Geschenk für Ihre Tochter? Ihre Tochter hat Geburtstag!
ELIZA: O Himmel, das habe ich völlig vergessen. Clint, wir müssen schnell etwas einkaufen fahren… Rachel schwärmt für Modeschmuck und für Assessoires… Ach, das macht doch nichts, wir nehmen ein Taxi. Taxi! Taxi! Was ist das für eine Unverschämtheit, warum hält denn niemand an?
Soerensen pflückt eine Blüte, gibt sie Eliza.
SOERENSEN: Geben Sie ihr diese Blume… Passiflora, ein bezauberndes Gewächs…
ELIZA: Eine einzelne Blüte? Ist das nicht etwas ärmlich?
Sie setzen sich auf den Baumstamm. Barbara und Agnes kommen. Als Barbara den Tisch voller Speisen sieht, klatscht sie in die Hände.
BARBARA: Unfaßbar! Mitten in der Wildnis, auf einer unbewohnten Insel in den Weiten des Ozeans ein kaltes Buffet, dessen sich das Vierjahreszeiten nicht zu schämen brauchte! Wenn ich das in meinem nächsten Buch schreibe, keiner wird es mir glauben! Die Wirklichkeit ist phantastischer als jede Fiktion!
AGNES: Ein großes Lob für Steven.
PIET: Und Piet.
AGNES: Natürlich. Und Piet. Hast du Steven geholfen?
PIET: Geholfen? Ich ihm? Er hat mir geholfen!
BARBARA: Was ist denn das alles Tolles?
PIET: Dies hier ist Bananenkaviar mit Bubenschaum! Makrelenpudding mit Schiffchensorbett… Tintenfisch an Mangomarmelade, Seegurke, frisch gekotzt!
Barbara bleibt der Mund offen stehen. Pilar und Lorna kommen. Lorna hat sich wirklich sehr hübsch gemacht.
LORNA: Den armen Menschen ist noch nie durch Revolutionen geholfen worden, sie sind immer diejenigen, die am Ende bezahlen müssen!
PILAR: Sollen wir jedes Unrecht dulden, nur weil zu befürchten ist, daß Neues an seine Stelle tritt? Nein, wer den Glauben daran nicht hat, daß eine neue Ordnung auch mehr Gerechtigkeit und mehr Glück bringt, dessen Leben ist nicht wert, gelebt zu werden!
Lorna schaut kritisch auf den Tisch.
LORNA: Steve, warum hast du die Pastete nicht angeschnitten? Niemand wird sich zu nehmen wagen!
Sie holt das nach. Alvarez und Branko kommen.
ALVREZ (zu Branko): Du mußt nicht immer so dicht hinter mir gehen, daß du mir in die Hacken trittst! Du brauchst mich überhaupt nicht dauernd zu begleiten! Wir sind nicht mehr in Veneragua, wo auf Schritt und Tritt Gefahren drohten!
Er wendet sich an alle.
Jedem dieser Menschen hier würde ich jederzeit meinen Kopf in den Schoß legen… Professor Soerensen aus Uppsala… Der entzückenden Eliza Fleetwood aus Baltimore…
Er tut es jeweils, Heiterkeit bei allen deshalb.
Aber warum fangen wir nicht an? Warum essen wir nicht? Ines ist noch nicht da, unser Geburtstagskind. Und García, dieser Lauser! Was sagen Sie denn dazu, Mrs Fleetwood, daß der hübsche Kadett aus Veneragua Ihrem Fräulein Tochter den Hof macht?
Ines (mit Kranz) und García kommen, werden aber zunächst nicht bemerkt.
ELIZA: Ines weiß, was sich ziemt. Sie ist mit John Boredom verlobt, einem ausgezeichneten und sehr erfolgreichen jungen Mann, und wird sich nicht an einen namenlosen Rekruten wegwerfen…
Ines sieht, wie García unter diesen Worten zusammenzuckt.
Ines: Achte nicht darauf. Mama weiß nichts von mir und von meinen Gefühlen. Sie ist völlig ahnungslos und redet einfach etwas daher! Man weiß nicht einmal, ob sie überhaupt von mir oder von ihrer Tochter aus der Serie spricht… Bitte gib mir deinen Arm, García!
García tut es zögernd. Sie gehen weiter, alle wenden sich ihnen zu.
ALVAREZ: Im Namen aller herzliche Glückwünsche, liebe Ines! Von mir und Branko bekommst du – diesen noch absolut schreibtauglichen Bleistift, den wir am Strand gefunden haben!
Ines bedankt sich bei beiden mit einem wohlerzogenen Küßchen, Branko wischt sich anschließend die Backe ab.
PIET: Piet und Steve schenken dir diese wundervolle Tasche. Du kannst sie auch als Sonnenschutz oder als Badehose benutzen!
Er gibt Ines eine unansehnliche, ausgebleichte Plastiktüte. Ines schüttelt beiden herzhaft die Hand.
BARBARA: Eine Geburtstagsfeier auf einem windzerzausten Eiland mitten im sturmumtosten Meer! Ich finde, Ines, allein das schon ist ein Geschenk, und ich schenke dir darüberhinaus die Hauptrolle in meinem nächsten Roman!
AGNES: Ich habe dir dies Kleid aus Bast gewoben. Wenn es nicht schön ist, ist es doch selten!
Ines nimmt das Kleid, hält es sich an, freut sich, küßt beide Frauen.
SOERENSEN: Meine liebe Ines, ich lade dich ein nach Uppsala auf unsere schöne alte Universität, dort kannst du studieren nach Herzenslust und die nettesten jungen Schweden kennenlernen… O Pardon, García, das war taktlos, aber so bin ich nun einmal!
García lächelt zerstreut.
Eliza, wollen Sie Ihrer Tochter nicht auch etwas überreichen?
Eliza kommt unsicher auf Ines zu, die Blüte steif in der Hand.
ELIZA: Ja, mein Kind, ich wünsche dir alles Gute und bitte dich herzlich um Verzeihung… Ich wollte dir Modeschmuck besorgen – oder eine Handtasche – aber Clint hatte seinen Wagen nicht dabei, und die Taxifahrer, so etwas Unerhörtes…
INES: Es ist ja gut, Mama. Und danke für die schöne Blüte. Die ist doch für mich, oder?
Eliza bricht plötzlich in Tränen aus, läßt die Blume fallen und rennt weg. Ines hebt die Blüte auf.
SOERENSEN: Ich kümmere mich um sie.
Er geht ebenfalls ab.
INES: Bitte – das Buffet ist eröffnet!
Aber noch bevor das Essen beginnen kann, ziehen die anderen Gescheiterten auf die Bühne, eine Kapelle mit primitivsten Instrumenten (Monochorde, Pfeifen, Plastikeimer als Trommeln) und machen eine durchaus mitreißende und wohltönende Musik.
ALVAREZ: Eröffnet niemand den Tanz? Komm, Ines!
Er schwenkt Ines zur Musik über die Bühne, die Musik wird schneller, die anderen tanzen auch – Branko mit Barbara, Steven mit Agnes, Piet mit Lorna, nur García und Pilar stehen abseits…
GARCIA: Kann ein Verbrecher so fröhlich sein?
PILAR: Was sagst du, García?
GARCIA: Ach, nichts. Es ging mir nur etwas durch den Kopf.
PILAR: Er tanzt gut, nicht wahr?
GARCIA: Wer?
PILAR: Alvarez.
GARCIA: Ich kann es nicht mitansehen!
Er geht und holt sich Ines. Alvarez lächelt nur über den Affront. Geht auf Pilar zu.
ALVAREZ: Tanzen Sie nicht?
PILAR: Ich habe es lange nicht versucht, Señor.
Alvarez tanzt mit ihr. Man merkt ihr steifes Bein kaum noch. Sie lächelt glücklich. Soerensen und Eliza kommen und tanzen auch.
ELIZA (legt sich in Soerensens Arm): O, Clint!
Später (Lichtwechsel). Der Tisch ist halbleer, die Musiker sind verschwunden, die Geburtstagsgesellschaft sitzt und steht erschöpft und wortlos umher, die Dämmerung ist hereingebrochen, aus dem Wald ertönen Nachtvogellaute… Aus der Ferne ertönen schwermütige Shanties.
STIMMEN (von ferne): Good night, ladies…
PILAR: Das erinnert mich an meine Haft! Das Gefängnis von Veneragua steht nicht weit vom Hafen entfernt, und aus den Schenken drang oft das Singen der Seeleute an unsere Ohren… Aber nicht nur das! Wir hörten auch die entsetzlichen Schreie der Gefolterten, und die Salven der Exekutionskommandos echoten durch die Gänge…
GARCIA: Laßt uns das Feuer anzünden, damit wir einander besser sehen können…
Er tut es. Flackerschein beleuchtet die Gesichter. García hat nur Augen für Alvarez.
GARCIA: Erzähl weiter, Pilar! Was haben sie mit dir gemacht!
PILAR: Mendoza wollte von mir die Namen der Gefährten, aber ich konnte sie ihm nicht sagen, weil aus meinem Kader alle tot waren, und die Namen der anderen Kader waren mir unbekannt. Aber er glaubte, ich schwiege aus Trotz, und weil ich nun veneraguanische Meisterin im Hochsprung war, drohte er mir an, mir die Sehnen zu durchschneiden.
ALVAREZ: Schaut nur den Mond, wie er aus dem Meer steigt!
García beobachtet ihn scharf.
GARCIA: Der Mond interessiert hier nicht. Fahre fort, Pilar.
PILAR: Ich sagte ihm, daß ich nichts wüßte, aber er hielt es für Trotz… Er muß es gesehen haben! In dem Raum, in dem sie mir die Achillessehne durchschnitten, war ein breites dunkles Fenster wie in einem Tonstudio, hinter dem nie jemand zu stehen schien… Dort muß er gestanden und sich an meinen Schreien, meinem Entsetzen ergötzt haben…
Alvarez verläßt fluchtartig die Bühne.
LORNA: Wie könnt ihr ihn mit diesen Dingen quälen! Viele seiner nächsten Angehörigen sind durch Mendoza umgekommen!
Sie geht zur selben Seite ab wie Alvarez.
GARCIA: Wie er erbleichte, als er Pilars Bericht hörte!
BARBARA: Es ist noch zu essen da! Greift zu!
Licht aus.
Palmen. Nacht.
Alvarez kommt, fällt auf die Knie.
ALVAREZ: Ich darf nicht schwach werden, ich darf nicht schwach werden, ich darf mich nicht so sehen, wie die andern mich sehen, denn dann ertrage ich mich nicht mehr!
Er hört Schritte, steht auf, nimmt würdevolle Haltung ein. Lorna kommt.
LORNA: Verzeih mir, Miguel…
ALVAREZ: Nenn mich nicht so! Für dich bin ich wie für alle Señor Alvarez.
LORNA: Ich möchte dich warnen.
ALVAREZ: Wovor?
LORNA: Hast du es nicht gemerkt? García weiß was.
ALVAREZ: Woher? Hast du geschwatzt?
LORNA: Nein. Aber er versuchte mich auszuholen. Als er nach dir fragte, habe ich gesagt, du seist bestimmt längst tot.
ALVAREZ: Mendoza ist tot, da hattest du völlig recht.
LORNA: Und was machst du, wenn wir gerettet werden?
ALVAREZ: Wir werden nicht gerettet. Hier bin ich in Sicherheit. Ein alter Freund von mir, Thomas McCullen, sitzt im Pentagon und hat allen Schiffen Weisung gegeben, unsere Hilferufe zu ignorieren.
LORNA: Aber weshalb?
ALVAREZ: Man ist dort schon lange auf der Suche nach einer Gruppe von Menschen, die in völliger Abgeschlossenheit von der Außenwelt ihr Überleben organisiert. Das Schwierige: Sie dürfen nicht wissen, daß sie Gegenstand eines Experiments sind. McCullen ist vor Freude fast an die Decke gesprungen, als ich mit ihm Kontakt aufnahm.
LORNA: Aber wie konntest du mit ihm Kontakt aufnehmen?
ALVAREZ: Calasso hat das Funkgerät gerettet.
LORNA: Er hat…
ALVAREZ: Ja. Deshalb mußte er sterben.
LORNA: Du hast ihn…
Alvarez nickt.
Was bist du für ein Teufel! Und wo ist es jetzt?
ALVAREZ: Ich habe es benutzt, um McCullen zu instruieren, dann habe ich es an der Nordspitze ins tiefe Wasser geworfen. Geh jetzt, man könnte uns zusammen sehen und daraus Schlüsse ziehen. Wir haben uns nie gekannt, ja?
LORNA: Nein, Miguel, das mache ich nicht mit… Irgendwann einmal ist dieses »Experiment« hier zuende, und dann will ich dich für mich! Du aber wirst einwilligen müssen, denn ich weiß, wer du bist, und ein einziges Wort von mir bringt dich vor die Gewehre eines Exekutionskommandos!
ALVAREZ: Aber wovon redest du? Das war schon immer mein Traum: Mit dir irgendwo in Neu England zu leben, in einem alten Farmhaus mit Scheune… Ich würde Staffelei und Leinwand aufstellen und wieder anfangen zu malen…
LORNA: O, ist das wahr?
ALVAREZ: So wahr ich bin, der ich bin. Aber jetzt geh, mein Schatz – und schweige!
Lorna nickt demutsvoll und geht ab.
ALVAREZ: Mit wie wenigen Worten doch so ein Weib zufriedenzustellen ist! Aber sie kann mir nicht helfen, und ich brauche Hilfe! Sie kann den Strom der Toten, der Verstümmelten, der Zerstörten, der anklagenden, stummen, leidenden und verzweifelten Gesichter nicht stoppen! Immer und immer wieder bricht er über mich herein! Habe ich denn das alles nicht getan im festen Glauben daran, daß die Ordnung der Junta immer noch besser war als das Chaos, das jetzt ausbrechen wird? Aber was ist eine Ordnung wert, die auf Blut und Unrecht beruht? Nichts! Nichts! Nichts!
Vorhang
Dritter Akt
Strand. Bild Calassos. Tag.
Soerensen kommt mit Barbara.
SOERENSEN: Hier… Genau an dieser Stelle ist es gewesen! Hier habe ich eine Prise des Strandsandes aufgenommen und durch meine Finger rieseln lassen… Zunächst einmal wollte ich mich nur an der Formen- und Farbenvielfalt der winzigen Körner ergötzen, an diesem ästhetischen Mikrokosmos, den die Welt gemeinhin nur mit Füßen tritt… Und da sehe ich plötzlich, an ein korallrotes Korn geklammert, vermix minimax soerensianum! Aber nein, ich sehe etwas ganz anderes: Ich sehe ein namenloses Wesen aus dem erhabenen Labor von Gottes Schöpfung, eines, das noch nie jemand vor mir zur Kenntnis genommen hat! Ich sehe es – und eine Nahrungskette schließt sich, das Rätsel des Biotops Strand rückt seiner Lösung näher!
BARBARA: Wundervoll! Was für ein Reichtum an Erlebnissen! Als ich einmal las, wie sich auf den Galapagosinseln die Vögel auf die Muskete setzten, mit der Darwin nach ihnen schießen wollte – wie er, zu Tränen gerührt, das Gewehr sinken ließ – da habe ich mir immer gewünscht, etwas Ähnliches einmal zu erleben in meinem Leben! Und nun habe ich es erlebt! Der schrullige Professor aus Uppsala, der die Prise Sand durch die Finger rieseln läßt – und eine Kreatur entdeckt, die der Aufmerksamkeit der Forschung bisher völlig entgangen ist! Was für ein Bild! Ach, hätte ich doch jetzt meinen Laptop, um es hineinzutippen!
SOERENSEN: Vergessen Sie Darwin! Sein Kampf ums Dasein hat ausgedient! Das Prinzip der Harmonie, der Schönheit und der gegenseitigen Hilfe wird von meinen Forschungen zunehmend unterstützt! Vermix minimax soerensianum ist nur ein winziger Baustein, um es unter Beweis zu stellen!
Sie gehen ab.
Aus der entgegengesetzten Richtung kommen Ines und García, lehnen sich an den Sockel des Bildes, schauen vor sich hin. Ines trägt das Kleid aus Bast von Agnes.
INES: Warum bist du so stumm?
GARCIA: Worüber soll ich sprechen?
INES: Wir haben uns geküßt. Ist das ein Grund, stumm zu sein?
GARCIA: Ach, Ines!
INES: Was?
GARCIA: Was hat das schon zu bedeuten? Alle küssen sich. Und meistens ist es der Anfang vom Ende.
INES: Ich werde dich nie leid.
GARCIA: Sind wir nicht einer wie der andere? Sind wir nicht austauschbar? Wir gehen in die Discos und lassen uns durcheinanderwirbeln wie die Kugeln in der Lottotrommel. Mal wirft’s die eine, mal die andre heraus – der Zufall regiert!
INES: Schau da hinten die Delphine!
GARCIA: Ja, sie springen. Was ist mit ihnen?
INES: Sie freuen sich! Sie springen aus Lebenslust! Sie spüren ihre Kraft, ihre Schönheit, ihre Leichtigkeit in dem Element, das sie trägt…
GARCIA: Pflanzen sich fort, plagen sich – und sterben… Es ist so leer alles, so eintönig, so austauschbar, eine ständige Wiederholung des Immergleichen… Warum schweigst du?
INES: Was soll ich darauf sagen?
GARCIA: Sag: Ich liebe dich!
INES (steht auf): Das sagen alle – und meistens ist es der Anfang vom Ende.
GARCIA: Möchtest du denn, daß es nie zuende geht?
Ines nickt, den Blick am Boden. García schaut hinaus.
GARCIA: Hast du das nicht auch schon John Boredom in Baltimore gesagt?
Ines geht wortlos ab. Licht aus.
Strand. Strunk. Abend.
Ines kommt mit Eliza.
INES: Die Luft wird dir guttun, Mama. Setz dich hierhin und schau ein wenig hinaus. Ich wollte dir etwas mitteilen…
ELIZA: Du behandelst mich wie eine Kranke. Dabei bin ich völlig gesund. Was für ein Jammer, daß Clint nicht hier ist!
INES: Clint?
ELIZA: Du weißt genau, von wem ich spreche. Ich weiß, er hatte keinen guten Einstieg bei dir, er war gleich zu vertraulich, es fehlt ihm manchmal ein wenig an Fingerspitzengefühl. Aber ansonsten ist er ein feiner Kerl, zuverlässig, amüsant, solide – genau das, was eine arme Witwe wie Daggie braucht.
INES: Aber du weißt doch noch, daß du Eliza bist? Mama, ich wollte mit dir über John sprechen, über meine Verlobung. Ich möchte sie…
Eliza hört ihr überhaupt nicht zu.
ELIZA: Meinst du denn, ich sollte Clint heiraten? Nein – du würdest ihn niemals als Nachfolger von Hank akzeptieren. Hank war einmalig. Ja! Einmalig! Aber er ist tot, Kind, tot!
Sie bricht in Tränen aus.
Und dabei war er zwei Jahre jünger als ich! Warum hat es ihn und nicht mich hinweggerafft!
INES: Mama! Hörst du mich nicht mehr? Wo bist du? Papa war älter als du – sechs Jahre älter! Und es geht hier um mich, nicht um dich!
ELIZA: Schrei mich nicht so an, Rachel! Ich bin eine erwachsene Frau, ich habe auch noch ein Recht auf Gefühle, und wenn meine Wahl auf Clint fällt, so ist das meine Sache. Du kannst gerne ausziehen, wenn dir das nicht paßt, aber ich lasse mich nicht von dir bevormunden!
Sie steht würdevoll auf und geht ab.
INES: O Mama! Mama!
Sie fällt auf die Knie und schaut ihrer Mutter fassungslos nach. Licht aus.
Strand. Schwemmholzhaufen. Nacht.
García und Pilar.
GARCIA: Was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte… Du hast mir von Mendoza erzählt… Was er dir alles angetan hat. Wie sehr du ihn haßt… Was würdest du tun, wenn er dir eines Tages über den Weg liefe?
Pilar lacht und schweigt. Dann holt sie das Klappmesser hervor, das in einer Seitentasche ihres Hosenbeins steckt, öffnet es und schaut es lächelnd an.
PILAR: Ist das Antwort genug?
GARCIA: Du hättest den Mut dazu?
PILAR: Dafür brauchst du keinen Mut, wenn du durchgemacht hast, was ich durchgemacht habe. Dafür brauchst du nichts als ein wenig Ehrgefühl. Aber es wird nicht dazu kommen. Ich bin sicher, daß Mendoza eines der ersten Opfer der Aufständischen war. Es ist unmöglich, daß sie ihn am Leben lassen.
GARCIA: Ich könnte das nicht. Einfach zustechen.
PILAR: Du wurdest noch nicht gefoltert. Dann könntest du es auch.
GARCIA: Mag sein. Ich höre Schritte, das ist der Alte, er macht um diese Zeit seinen Rundgang. Ich habe mit ihm zu reden. Bitte, laß uns allein.
PILAR: Okay.
Sie geht hinter den Reisighaufen, simuliert Schrittgeräusche, bleibt stehen. Von der anderen Seite kommt Alvarez mit Branko.
ALVAREZ: Nun?
GARCIA: Keine besonderen Vorkommnisse.
ALVAREZ: Was ist mit Pilar?
GARCIA: Sie ist zur Südspitze, um zu sehen, ob sich da was tut. Ich möchte Sie etwas Persönliches fragen, Señor.
ALVAREZ: Bitteschön.
García schaut zu Branko, schweigt.
ALVAREZ (zu Branko): Geh schon weiter und schau, ob Soerensen und Lorna auf dem Posten sind.
Branko geht ab.
Nun? Schieß los!
GARCIA: Guten Abend, General Mendoza!
Alvarez prallt zurück.
Damit haben Sie nicht gerechnet, nicht wahr?
ALVAREZ: In der Tat. Du überraschst mich. Wie hast du es herausgefunden?
Pilar (für sich): Das kann nicht wahr sein!
GARCIA: Das geht Sie nichts an. Warum belügen Sie uns?
ALVAREZ: Weil ich leben will.
GARCIA: Haben Sie das verdient?
ALVAREZ: Nein.
GARCIA: Warum leben Sie dann weiter? und fügen zu all Ihren Schandtaten noch diejenige hinzu, Ihre eigene Identität feige zu verleugnen?
ALVAREZ: Ich habe Angst vorm Sterben. Vorm Tod. Vorm ewigen Gericht. Ich brauche noch eine Gnadenfrist. Um noch ein wenig Gutes zu tun. Ein ganz klein wenig! Habe ich euch nicht alle sicher aus dem Bauch des sinkenden Flugzeugs geholt? Habe ich hier nicht eine stabile Ordnung aufgebaut, euch vor Verzweiflung, Hader, Hunger und Durst bewahrt?
GARCIA: Und das alles haben Sie nur getan aus Angst?
ALVAREZ: Wenn du damit meinst, ich hätte es aus Freude am Guten tun sollen – ich weiß nicht, was das Gute ist. Ich freue mich nicht daran. Ich kenne nur Macht, Kontrolle, Angst, Haß! Aber jetzt, wo es zuende geht, möchte ich geliebt werden, sehne ich mich nach Wärme, kann ich nicht schlafen, wenn ich an all das Entsetzliche denke, wofür mir Hunderte den Tod wünschen.
GARCIA: Ich habe Sie geliebt – und verehrt – wie einen Vater – und nun erweisen Sie sich als ein Schuft allerschlimmster Sorte!
ALVAREZ: Nun mal langsam, mein Lieber! Verglichen mit den ganz großen Bösewichtern, mit Nero und Caligula, Mussolini, Franco, Hitler, Stalin, mit Idi Amin, Pol Pot, Duvalier, der Weltbank und wie sie alle heißen, die Massen- und Völkermörder, die Kriegsgurgeln und Schlagetote, die in euern Schulbüchern über den grünen Klee gelobt werden, bin ich doch ein Lehrling gewesen, ein Anfänger, ein greenhorn!
GARCIA: Was mache ich denn jetzt bloß mit Ihnen?
ALVAREZ: Du brauchst nur Pilar zu verraten, wer ich bin, dann habe ich ausgelitten. Du hast mich in der Hand!
GARCIA: Ich werde mich Ihretwegen nicht verächtlich machen.
Er geht ab.
ALVAREZ (schwach): He – du hast – Strandwache… Das sollte ich jetzt wohl lieber nicht sagen… Mendoza oder Alvarez, das ist die Frage… Ach, das waren doch noch Zeiten! Während die Schreie der Gefolterten aus den Kellern heraufdrangen, saß ich in meinem Fauteuil und las eine Ode von Pindar… Hach, wer gibt mir das zurück?
Er geht ab. Pilar kommt aus ihrem Versteck.
PILAR: Was für ein unverbesserliches Schwein! O nein, der Name dieses sanften Haustiers ist eine Schmeichelei für einen solchen Charakter! Ich werde mich an seine Fersen heften und eine Folter für ihn ersinnen, die nicht ihresgleichen hat!
Licht aus.
Strand. Floßbaustelle. Nacht.
García kommt.
GARCIA: Ich nehme das Floß und lasse mich forttreiben, ende es wie es will. Mein Held ist ein Mörder, Rettung heißt für mich: Rückkehr nach Veneragua und Soldat werden für die verhaßte Junta, Ines liebt mich nicht und ist in den Vorurteilen ihrer Klasse befangen, was ist mein Leben noch wert?
Ines steht auf. Sie war hinter dem Floß verborgen.
INES: Bitte nimm mich mit! Meine Mutter ist wahnsinnig geworden, Rettung bedeutet für mich Rückkehr in Pflichten, die ich nicht mehr achten kann, du bist das einzige, was mir geblieben ist.
GARCIA: Wie dunkel die Nacht ist. Kein Licht, kein Stern.
INES: Aber das Floß schimmert im Dunkeln.
GARCIA: Es heißt, daß faules Holz leuchtet.
INES: Du meinst, es fault schon? Dann wird es bald sinken!
GARCIA: Wir ziehen es in die Strömung, komm!
INES: Ich hab Angst!
GARCIA: Wovor?
INES: Ich weiß nicht.
GARCIA: Wir halten uns ganz fest an einander. Was kann uns passieren?
INES: Aber der Moment, wo wir Wasser schlucken…
GARCIA: Hier, nimm davon einen Schluck.
Ines hustet.
INES: Was ist das?
GARCIA: Rum. Dümpelte an der Südspitze im Brackwasser.
INES: Wer mag zuletzt daraus getrunken haben?
GARCIA: Du, Schatz.
INES: Gib mir noch einen Schluck. Das wärmt.
GARCIA: Komm jetzt!
Sie ziehen das Floß ins Meer – und von der Bühne. Licht aus.
Strand. Bild Calassos. Nacht.
Agnes kommt. Sie geht an die Rampe, blickt aufs Meer hinaus.
AGNES: Was für eine Nacht! Kein Stern! Kein Licht! Dunkelheit, wohin man schaut! Nur du, mein Käptn, leuchtest!
Sie hat sich zu ihm umgewandt.
Was soll aus uns werden hier? Hast du uns nicht deine Hilfe versprochen? Wo bleibt sie? Wie lange sollen wir hier noch ausharren? Piet hat gesagt, du sprichst… Mit ihm? Mit García? Was hast du mit denen zu sprechen? Ich, ich bin deine Schöpferin! O, wie gerne hab ich dich gemacht! Meine ganze Seelenkraft hab ich hineingegeben, und es würde mich nicht wundern, wenn du zu leben begännest! O Käptn, mein Käptn, so hör mich doch! Mit drei Jahren bin ich zu den Nonnen ins Waisenhaus gekommen, nie hat mich jemand geliebt, aber du – du mußt mich lieben, und wenn nicht als Mann, dann als mein Kind und Geschöpf! O bitte, bitte…
Sie sinkt am Sockel nieder, legt ihre Hände auf die hölzernen Füße. Calasso beginnt in merkwürdig eintönigem Singsang wie ein psalmodierender Priester laut aufs Meer hinaus zu rufen.
CALASSO: Erkenn, Delphin, verzweifelte Gebärden
und heb aus Tod und Dunkel die ans Licht,
die heute nacht aufs Neu geboren werden,
heb sie vor Gottes ew’ges Angesicht!
Agnes wendet sich zum Meer.
AGNES: Er redet zu den Delphinen da draußen! Oder hab ich mir das nur eingebildet? Ob die Toten mit allem, auch mit den Tieren, in Verbindung stehen? »Wir sind nur ein Glas Wasser,« pflegte Schwester Felicitas zu sagen, »das beim Tod zurückgegossen wird in den Ozean Gott.«
Licht aus.
Palmen. Nacht.
Alvarez kann nicht schlafen.
ALVAREZ: O, ihr furchtbaren Gesichter, laßt ihr mich denn nie in Ruhe? Ihr Gesichter von Kindern, denen ich die Väter, von Müttern, denen ich die Kinder raubte, von Frauen, die ich zerstörte, von Männern, die ich quälte, und das alles nur, weil ich die Macht dazu hatte und der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie auszuspielen!
Pilar ist gekommen, hat das letzte gehört. Sie hat das blanke Messer in der Hand.
PILAR: O nein, Mendoza, so leicht kannst du es dir nicht machen, denn andere haben dieselbe Macht und benutzen sie nicht gegen, sondern für die Menschen. Nein, du warst böse, die Lust am Bösen hatte dich gepackt, und du hast dich ihr aus freiem Willen überlassen. Schau hier! und hier! die Narben der Wunden, die deine Folterknechte mir beibrachten, gar nicht zu reden von den Wunden, die die Seele davontrug und die niemals heilen werden.
ALVAREZ: Hier biete ich dir meine Brust und flehe dich an: Mache ein Ende mit der Qual! Meine Opfer, alle, denen ich Böses antat, ziehen in nicht enden wollendem Strom an mir vorüber. Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!
PILAR: Wie hast du andere nach Gerechtigkeit dursten lassen und hast sie ihnen verweigert!
Sie steckt das Messer ein.
Nein, Mendoza, den Tod hast du nicht verdient, sondern ein langes Leben. Und du wirst es mit mir verbringen, ich werde mit dir kommen nach Amerika ins politische Asyl, ich werde Señora Alvarez sein, und wenn der Leidenszug deiner Opfer einmal abreißen sollte, ich werde ihn wieder in Gang bringen, du sollst ein hohes Alter erreichen in meiner Pflege – und leiden, leiden, leiden!
Piet kommt.
PIET: Verzeihung, Señor… Señorita… Ich möchte ja nicht stören, aber es gibt Dinge, über die muß man sprechen, selbst wenn es zu nachtschlafener Zeit ist – wobei ich darauf hinweisen möchte, daß die Sonne bereits im Begriff ist, sich aus ihrem Lotterlager im Osten zu nicht dagewesener Pracht zu erheben.
ALVAREZ: Könntest du dich kurz fassen, lieber Piet?
PIET: Das Floß ist futsch.
ALVAREZ: Dann bauen wir ein neues. Außerdem wird es vielleicht wieder angetrieben. Bestimmt hat die Flut es angehoben und mitgerissen.
PIET: So wie ein Sandwich aus zwei Teilen besteht, einem Unterbett und einem Oberbett, und was dazwischen liegt, ist das leckere roast-beef, so besteht auch meine Nachricht aus zwei Teilen, von denen ich nur erst den ersten mitgeteilt habe.
ALVAREZ: Was gibt es noch? Und dann verschwinde!
Piet: Gern würde ich verschwinden, bevor ich es sage, aber dann würdet ihr es vielleicht nicht mehr hören, weshalb ich es also jetzt herauslasse: García und Ines sind ebenfalls verschwunden. Wir haben alles nach ihnen durchsucht – nirgends eine Spur, außer an der Nordspitze, wo es Schleifspuren gibt – offenbar wurde das Floß ins Wasser gezogen.
Er rennt weg.
PILAR: Der Junge hat dich sehr geliebt.
Branko kommt. Er gibt Alvarez wortlos die leere Rumflasche und ein Stück Rinde.
ALVAREZ: Ist das Floß wieder zurück? Leer? Hat man das darauf gefunden?
Branko nickt jedesmal. Alvarez gibt Pilar das Rindenstück.
Bitte lies du. Mir fehlt die Brille.
PILAR: »Wo das Böse herrscht, ist für die Liebe kein Platz.«
Licht aus.
Strand. Bild Calassos. Tag.
Ines und García liegen da. Ihre Sachen sind noch naß, aber in der Sonne fast getrocknet. Ines kommt als erste zu sich.
INES: O schau nur, García, Blumen! Hast du gewußt, daß es im Himmel Blumen gibt?
GARCIA: Was? Wie? Blumen? Wo?
INES: Hier, schau! Und wie köstlich sie riechen!
GARCIA: Es ist schön hier! Schau nur, das Meer! Wie grün es ist! Und wie unendlich! Und wie schön du bist! Totsein steht dir!
Er streichelt zart ihre Wange.
INES: Ich habe deine Hand gespürt, García.
GARCIA: Und ich deine Wange.
INES: García!
GARCIA: Ja, Ines!
INES: Wir leben!
García springt erschrocken auf, betastet sich selbst, kneift und kratzt sich.
GARCIA: Du hast recht! Aber wie kann das sein?
INES: Meine letzte Erinnerung ist, wie die Sonne aufgeht… In einer Fülle von Pastelltönen, die wie ein Abschiedsgruß der lieben Welt waren… Meine Augen konnten sich nicht satt trinken daran. Und dann sagtest du: »Ich bin fertig. Komm, Ines!« Und wir haben einander umarmt, und… Dann weiß ich nichts mehr, alles wurde dunkel und naß… Oder doch… Ich erinnere mich – an Lippen, die nach mir griffen! An ein Schreien und Zirpen, wie ich es noch nie gehört hatte! Sie griffen mich und trugen mich wieder zur Wasseroberfläche empor!
GARCIA: O Ines.
INES: Was ist?
GARCIA: Jetzt müssen wir leben. Und ich will es auch!
INES: Ich auch!
Sie küssen einander.
Ich höre Stimmen.
GARCIA: Das werden die andern sein.
INES: Komm, wir lauschen.
GARCIA: Verwisch deine Spuren! Komm!
Alvarez, Branko, Piet, Soerensen, Frank, Pilar, Barbara, Agnes, Eliza, Lorna und andere kommen.
Ines und García lauschen hinter dem Sockel von Calassos Bild.
PIET: Ausgerechnet mich hat das Los bestimmt, eine Rede zum Andenken an die Verstorbenen zu halten! Ach, du liebes bißchen, da werd ich mich schön blamieren. Ahem. Also los. Liebe Hinterbliebene, liebe Trauergemeinde! García und Ines weilen nicht mehr unter uns. Daran gibt es nun nichts zu rütteln, und die Maus beißt davon keinen Faden ab. Sie haben es vorgezogen, sich ein nasses Grab da draußen in den Wellen zu suchen, und womöglich sind sie schon längst ein Fraß der Fische geworden! Aber ist das nicht nur gerecht? Wir essen gern Fisch, warum sollten die Fische nicht auch mal gern Mensch haben? Essen ist ja sowieso das Schönste auf der Welt, und was ich nicht begreife, das ist, wie man sich freiwillig noch zu erwartenden Gaumenfreuden entziehen kann! Wieviele geräucherte Makrelen hätte García noch auseinanderzupfen, wie so manche Auster hätte Ines‘ niedliches Zuckermündchen noch aufschlürfen können! Aber nein, sie zogen es vor, Salzwasser zu trinken und Algen zu futtern!
Alle weinen.
INES: O, das ist ja nicht auszuhalten!
GARCIA: Der gute Piet!
ALVAREZ: Ich bekenne mich schuldig, euch alle betrogen zu haben. In dem Wunsch, noch einmal von vorn anfangen zu können, habe ich mir einen falschen Namen zugelegt. Ich bin Miguel Mendoza, der Polizeiminister der Junta, und ich bin mit Blut besudelt bis über die Schultern. García hat das gewußt, und sein Wissen hat ihn in den Tod getrieben. Bitte, García, vergib mir!
GARCIA: Ich weiß nicht, ob ich das kann.
ALVAREZ: Sobald wir gerettet sind, werde ich mich der Justiz meines Landes stellen und mich selbst anzeigen! Ich werde keine Rechtfertigung gelten lassen, keine Milderungsgründe anerkennen und die Höchststrafe für mich fordern: den Tod!
INES: Den hat er nicht verdient!
ALVAREZ: An meiner Seite aber wird diese Frau stehen: Pilar de Luisi. Sie hat mir ein Beispiel an Selbstüberwindung, Großzügigkeit und Verzeihen gegeben, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Selbst das Opfer meiner Folterknechte, hat sie mir verziehen und mich gebeten, ihr Mann zu werden.
ELIZA: Auch ich habe nicht alles richtig gemacht, Ines. Ich habe nicht gesehen, wie sehr du mich brauchtest, habe mich in meiner Trauer – und dann in jener Serie verkrochen und dich vergessen und vernachlässigt. O, Ines, wieviel Geduld hattest du mit mir – und wie wenig Vertrauen hatte ich in dich! Ich wollte dem Unfall, der in unser Leben eingegriffen hatte, nicht das Recht zugestehen, es auch umzugestalten, ich erkannte nicht, daß es keinen Zufall gibt – sondern nur Fügung. O Ines – mußtest du sterben, damit ich wieder ich selbst werden konnte? Wie gerne, wie gerne würde ich dich jetzt in die Arme schließen!
INES: Dann tu’s!
Sie eilt auf ihre Mutter zu, die zurückweicht und sie dann umarmt.
García zeigt sich ebenfalls und wird von Barbara, Agnes und Soerensen stürmisch begrüßt.
Im Trubel fällt nicht auf, daß Lorna Pilar das Messer aus der Hose zieht und sich damit Alvarez nähert. Sie sticht von hinten zu. Alvarez stürzt zu Boden. Lorna sticht auch sich selber das Messer ins Herz.
Alle schreien laut auf und weichen zurück.
LORNA: Jetzt habe ich ihn endlich ganz für mich.
Sie stirbt. Alvarez versucht etwas zu sagen, aber nur ein Röcheln entringt sich seiner Brust. Er stirbt. In der Ferne wird aufs Blech geschlagen. Ein Schiff fährt vorbei, alle treten an die Rampe und folgen ihm still mit den Blicken, nur ein oder zwei Hände heben sich zu einem verstohlenen Winken. Als es fort ist, nehmen sie ruhig die Toten und tragen sie von der Bühne.
CALASSO: So endet doch mit Sterben unser Spiel:
Geringes wirkt der Hass, die Liebe viel.
Verlassen wir sie nun auf ihrem Eiland
und bitten wir, zu schützen sie, den Heiland.
(1997 für die Freie Waldorfschule Oberberg geschrieben und an dieser aufgeführt)