Roman
Prolog
Es war Malte Ossenblom nicht an der Wiege gesungen, dass er seine Lebenserinnerungen mal im Knast abfassen würde, insofern vergleichbar dem Siggi Jepsen in der „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz, aber auch dem Peter Ibbetson von George duMaurier. Aber während jenen ein Aufsatzthema nicht wieder losließ, das ihm im Deutschunterricht gestellt wurde, wurde mein lieber Cousin selbst Deutschlehrer für die vielen des Deutschen nicht mächtigen Knastologen, übte mit ihnen Uhrzeit und Datum und wann es „an die Wand“ und wann es „an der Wand“ heißt. Aber das füllte ihn nicht aus, und weil er von Journalisten, aber auch von mir, der Sozialarbeiterin, die ihn oft besuchte und beriet, gefragt wurde, wie es komme, dass er, studierter Mann aus gutem Hause, zum Mörder werden konnte, hat er sich, bereits im zehnten Jahr seiner Strafe, daran gemacht, seinen Werdegang zu Papier zu bringen, den ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe. Susanne Wittig

Erstes Kapitel
Emil war als Krüppel aus dem Krieg zurückgekehrt, als Träger einer Unterschenkelprothese rechts. Bizarr war der Anblick der Regale des Prothesenmachers, dessen Weizen blühte durch den Krieg. Ich begleitete ihn dorthin und wagte die Augen kaum zu erheben zu den Bataillonen von stählernen Füßen, den Regimentern hölzerner Arme, und in einer Glasvitrine gab es auch eine Gruppe saffianlederner Zungen zu bewundern. „Für Männer mit Munddurchschuss,“ erklärte Emil, der meinen rätselnden Blick bemerkt hatte. Er war untersetzt, um nicht zu sagen pyknisch, hatte eine Stirnglatze mit einer Delle in der Mitte, die an die Zange erinnerte, die ihn einst „geholt“ hatte; diese Stirnglatze verstand er eindrucksvoll zu runzeln, was wohl mit seinem Beruf zusammenhing: Er war Staatsanwalt, und in diesem Beruf gibt es oft Anlass, nachdenklich oder – nach Bedarf – dräuend die Stirn zu runzeln.
Emils Prothese bestand aus einem Lederteil, das an den Oberschenkel geschnallt wurde, und einem hohlen hölzernen Unterschenkel, in dessen Schienbein ein kreisrundes, etwa fünfmarkstückgroßes Loch gebohrt war. Ein Metallscharnier verband das Lederteil mit dem Unterschenkel, an ihm war der mit einem schwarzen Lederschuh bekleidete Fuß befestigt, der bei Belastung nachgab, bei Entlastung sich wieder streckte. Jeden Morgen salbte Emil den Stumpf, insbesondere den funktionslos und deshalb schlaff gewordenen Wadenmuskel mit leise klatschenden Geräuschen, zog ihm einen beutelförmigen dicken Woll-, im Sommer Baumwollstrumpf über, der an seinem Ende eine wurstförmige Verlängerung hatte, versenkte dann den bestrumpften Stumpf im hölzernen Teil, fingerte das Strumpfende durch das Loch heraus und zog fest daran. Nun stak der Stumpf richtig fest, das Oberteil konnte festgeschnallt werden. Die Prothese erlaubte es ihm, auf den Gebrauch von Krücken zu verzichten, freilich bedurfte er eines Gehstocks in der linken Hand, mit dem er den rechten Fuß geringfügig entlastete, um so die Gefahr des Wundwerdens zu verringern.
An Tagen, an denen der Stumpf wundgelaufen war, musste er, wollte er nicht zu Hause bleiben, auf die Unterarmkrücken zurückgreifen, mit denen er aus dem Lazarett entlassen worden war. Vilma schlug dann das leer flatternde Hosenbein hoch und steckte es mit zwei Sicherheitsnadeln fest. Nachdem sich Emil zu Beginn seiner Behinderung zu Jähzornausbrüchen und Schreianfällen hatte hinreißen lassen, lernte er sie im Laufe der Jahre akzeptieren u.a. dadurch, dass sie mit seinem Alltag verschmolz, die Erinnerung an unbehinderte Beweglichkeit verblasste und andere Kriegsheimkehrer noch stärker beeinträchtigt waren, so der Tischler, der das altmodisch hohe Ehebett niedriger setzte: Er hatte beide Beine überm Knie verloren und war trotz seiner Oberschenkelprothesen ein beliebter Tänzer. Ein Trost freilich blieb diesen Männern vorenthalten: Sie konnten sich nicht wie die Veteranen der Siegerstaaten an einem Tag des Jahres stolz mit ihren Verstümmelungen und Orden in der Öffentlichkeit präsentieren. „Das liegt nicht daran, dass wir den Krieg verloren haben,“ antwortete Emil mir, als ich ihn fragte. „Kaiser Franz von Österreich hat fünf Kriege verloren und blieb doch ein Ehrenmann. Wir haben nicht nur den Krieg, wir haben die Ehre verloren.“ Warum die Ehre verloren gegangen war, erläuterte er nicht.
Vielleicht war die auf Kriegsverletzung beruhende Unsportlichkeit Emils der Grund für die Bewunderung, die ich einem Schüler entgegenbrachte, der drei Klassen über mir das Gymnasium besuchte. Harald Hirsebeck war gut zehn Zentimeter größer als ich, breitschultrig, sein Profil glich dem des Antinous im Lateinbuch, ein dunkles Vlies spross auf seiner Brust, und wenn er zum Sprint antrat, stampfte er mit seinem enormen Antritt alle Gegner in Grund und Boden. Unsere Schule war bizarrerweise stehen geblieben, als die Stadt in Staub und Asche sank. Sie hieß nach einem Patrioten, der sich im Genfer See erschossen und ertränkt hatte, Lornsen-Gymnasium und lag in der Nähe des Liliencronparks, in dem halbzahme Kanada-Gänse ihre schwarz bestrumpften Hälse reckten und Passanten um Brotbröckchen anschnatterten. Harald Hirsebecks Vater war Versicherungsagent, und um auf sich und das „konkurrenzlos günstige Angebot der LEMOVIA“ aufmerksam zu machen, ließ er in der Vorweihnachtszeit von Harald Firmenkalender an Kunden und solche, die es werden sollten, verteilen. Ich empfand es als Ehre, meinen großen Freund, den ich beim Rollschuhlaufen auf dem Exerzierplatz kennengelernt hatte, dabei begleiten und ihm die schwere Tasche mit den Kalendern tragen zu dürfen. Was mochte in meinem 13-jährigen Kopf vor sich gehen, dass ich nicht merkte, wie Harald mich ausnutzte? Ich konnte gar nicht genug beladen werden, und wenn ich abends nach Hause kam, erfüllte mich meine Erschöpfung mit dem befriedigenden Gefühl, einem Jungen gedient zu haben, den alle bewunderten, ja, wenn Klassenkameraden mich als „Kofferträger“ und „Kuli“ verspotteten, war ich sicher, dass sie nur ihren Neid verbergen wollten.
Lag ich dann im Bett und konnte noch nicht einschlafen, lauschte ich auf das regelmäßige Klacken von Damenschuhen auf dem Trottoir. Da ich gerade Einlagen bekommen hatte, die meine schwächlichen Plattfüße ein wenig hochstützen sollten, und da ich wegen Blutarmut vom Turnunterricht befreit war, war mir dann oft, als ob mein Ende nahe bevorstünde. Und wenn es so wäre, dachte ich mir, würde meine Mutter mich bestimmt fragen: Hast du noch einen Wunsch, den wir dir erfüllen können? Zögernd würde ich nicken und bekennen: Einmal noch wolle ich Harald Hirsebeck sehen. Harald würde kommen, an meinem Bettrand sitzen und würde bedauernd sagen: ‚Wer soll mir jetzt die Kalender tragen?’ ‚Du wirst schon jemand finden’, würde ich antworten. ‚Du bist so schön! So groß! So stark! Wer kann dem Zauber deiner dunklen Augen widerstehen?’ Verlegen würde Harald lachen – aber ich würde seine Hand ergreifen – sie küssen, diese kraftvolle, nervige, schwarz behaarte Hand – und sterben … Ich lag weinend im Bett. Die klackenden Damenschuhe kamen zurück – und ich schlief ein.
Aber ich lebte weiter, und noch ein weiteres, von Bomben weitgehende verschont gebliebenes Stadtviertel musste mit Kalendern versorgt werden. Da der Kalender nicht in den Briefkasten passte, klingelte Harald an der Tür einer Gründerzeitvilla mit Grotesken und einem verglasten hölzernen Wintergarten. Eine Dame im Morgenmantel und Lockenwicklern in den Haaren öffnete und bat uns herein. Ich wurde mit einer Himbeerbrause in den Wintergarten gesetzt, während die Dame mit Harald „etwas zu besprechen“ hatte und mit ihm im Innern der Wohnung verschwand. Ich schaute mir den Garten durch die Himbeerbrause an: Er war ins Schlanke und Hohe zusammengepresst und leuchtete rubinrot.
Harald entschuldigte sich, als wir weitergingen: „Tut mir leid,“ sagte er, „aber ich musste es mit ihr machen.“ Ich nickte. Dieses „Es“ war zwar ein weißer Fleck auf meiner inneren Landkarte, aber er war umgrenzt und lag an einer bestimmten Stelle. Seine Koordinaten hießen Erwachsenenwelt, Heimlichkeit, Fortpflanzung und Verbrechen. Mit anderen Worten: Dieses „Es“ tauchte nicht zum ersten Mal in Gesprächen auf. Aber Harald fühlte sich verpflichtet, mich aufzuklären, und fragte: „Soll ich dir sagen, wie’s war?“ Ich schüttelte energisch den Kopf, aber Harald drängte sich auf: „Weißt du, was sie unter ihrem Morgenmantel trug?“ Ich ahnte es, schwieg aber. „Nichts. Was soll man als Mann dann machen? Wenn ich gekniffen hätte, hätten es morgen die Spatzen von den Dächern gepfiffen: Harald Hirsebeck ist ein Schlappschwanz! Und einen Vertrag hab ich ihr auch noch aufgeschwatzt!“
Haralds Schilderungen wühlten mich auf. Ich wusste nicht, was mich mehr aufregte: Dass mein bewunderter Freund sich von einer ihm völlig fremden Frau benutzen ließ – oder dass er mit dieser ihm völlig fremden Frau Ehebruch beging und mit ihr auf eine Weise fleischlich verkehrte, die mich, von prüden Eltern zur Prüderie erzogen, anekelte.
Aber ich ließ den bewunderten Freund noch nicht fallen, sondern trug ihm weiter die schwere Tasche mit den Kalendern der LEMOVIA. Ich gewöhnte sich daran, beinahe bei jedem Nachmittagsgang einmal mit einer Brause irgendwohin gesetzt zu werden, während Harald mit der Frau des Hauses, manchmal aber auch mit dem Hilfsmädchen, in der Tiefe der Wohnung verschwand, „um etwas zu besprechen“. ‚Ob die Kalender extra so breit gemacht werden, dass sie in viele Briefkästen nicht passen?’, fragte ich mich.
Wenn ich jetzt abends erschöpft ins Bett sank, schämte ich mich meiner Freundschaft zu Harald. Ja, ich hatte mich in einen Unwürdigen verguckt! Und obgleich ich ihn immer noch an mein Bett sehnte, wollte ich nicht mehr sterben, sondern ihm eine Standpauke halten. ‚Wie kannst du dich so wegwerfen!’, wollte ich zu ihm sagen, ‚du bist ja nicht besser als ein Tier!’ Ich erinnerte mich an einen Menschenauflauf auf der Schlossstraße. Gebannt verfolgten die dicht bei dicht stehenden Erwachsenen ein Schauspiel, das ich, damals erst zehn, nicht sehen konnte, weil ich zu klein war. Ich drängte mich hindurch und sah es. Zwei Hunde kopulierten vor einem Friseurgeschäft und hingen aneinander. Um sie auseinander zu bringen, kam der Friseur mit einem Eimer heraus und schüttete Wasser über das auf sechs Beinen trippelnde Doppelwesen. Aber sie waren miteinander wie verwachsen. Widerwille hatte mich damals erfüllt und erfüllte mich noch, wenn ich daran dachte, dass sich in diesem Punkt Menschen von Tieren nicht nur nicht allzu weit, sondern letztlich überhaupt nicht unterscheiden.
Ihren Tiefpunkt erreichte die Freundschaft – und zerbrach – als Harald mich eines Vormittags in der Pause beiseite nahm, auf ein Mädchen zeigte und sagte: „Die will ich haben!“ Es war gar nichts Besonderes dran an diesem Mädchen, sie war lang aufgeschossen, trug das dunkelblonde Haar, wie es damals üblich war, zu einem Pferdeschwanz am Hinterkopf mit einem Gummi zusammengefasst, und von blauen Windjacken und braunen Cordröcken wimmelte es auf dem Schulhof, diese Kombination war fast eine Art nicht angeordneter Schuluniform. Ach ja, ihre oberen Schneidezähne standen etwas vor. Manche Leute mögen das, ich mochte es nicht, weil es mich an Eichhörnchen und Hasen erinnerte. Aber das war alles ganz gleichgültig, ich ergriff Partei für die Unbekannte nicht wegen ihrer Schönheit, sondern weil ich sie bedroht sah durch Harald, den ich Freund nie wieder nennen wollte. Ich war reif, mich zum weiblichen Geschlecht zu bekennen, und nicht ich traf diese Wahl, sondern sie war für mich getroffen worden und erhielt dadurch den Charakter eines Auftrags. Fragt denn der Ritter danach, ob die Prinzessin schön ist, die es zu beschützen oder zu erlösen gilt? Ist sie nicht oft genug schwarz oder unansehnlich? ‚Wie leicht ist es,’ dachte ich, ‚sich für eine Schönheit aufzuopfern! Aber die ganze Größe der Tat enthüllt sich erst, wenn sie einer Unschönen gilt! Niemals, niemals sollst du sie haben, du Gefräßiger!’ Erstmals betrachtete ich Harald mit den Augen des Hasses. ‚Wie würdest du mich auslachen, wenn ich, der unsportliche, plattfüßige, blutarme Malte, dir das jetzt sagen würde! Aber du wirst erkennen müssen, dass in mir – ein Riese steckt!’
Am Abend, als ich die Stiefel ausgezogen hatte, nahm ich die Einlagen heraus und warf sie in den Mülleimer. Ab sofort nahm ich am Sportunterricht teil – obgleich Vilma den Kopf schüttelte und behauptete, ich sei dafür „zu zart“. Ich kaufte mir ein Paar gusseiserne Hanteln, mit denen ich allabendlich jonglierte, bis ich sie emporwirbeln und wieder auffangen konnte, als wären sie aus Holz. Den Kontakt zu Harald mied ich, was ihm aber gar nicht auffiel; der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Ich fand in dem bleichen, klugen und geheimnisvollen Henning von Testorff, der auf dem Land lebte, Weimaraner züchtete und für Sophia Loren schwärmte, einen Pausenkameraden, mit dem ich im entgegengesetzten Sinne wie die Unbekannte um das Rondell mit der Fahnenstange kreiste. Dann begegnete ich ihr pro Runde zwei-, pro Pause etwa zwanzigmal. Das war genug, um mich an ihr satt zu sehen; denn sie gefiel mir von Tag zu Tag besser: Ihr schmaler Kopf, die messerrückenscharfe Nase, der fast männlich entschlossene Mund, der zu einem erschütternden Lächeln schmelzen konnte – bis ich mir eingestehen musste, dass sie doch schön und dass meine geplante Aufopferung nicht ganz so heldenhaft und selbstlos war, wie ich sie mir ausgemalt hatte. Von Annäherung konnte jedoch keine Rede sein; je öfter ich sie von ferne angehimmelt hatte, desto unmöglicher war es, die sich verfestigende Distanz mit einem „Hallo“ oder „Guten Morgen“ oder gar einem „Kennen wir uns nicht?“ banal zu durchbrechen.
Einmal stand sie neben mir an dem Stahlrohrzaun, der das Rondell umgab; in der Mitte produzierte eine Equilibristentruppe ihre atemberaubenden Künste und fuhr mit dem Motorrad zum hohen Walmdach der Schule hinauf. Ich aber hatte nur Augen für die schlanke braune Mädchenhand, die auf dem Stahlrohr lag. In einem Moment des Erschreckens – ein junger Artist verhakte sich und fiel fast vom Seil – umklammerte sie das kalte Eisen fester, und als sie sich nun wieder streckte, bildeten sich Grübchen über den Fingergrundgelenken, ein Schauer der Zärtlichkeit überlief mich, und von diesem Moment an war alles anders. Bevor ich einschlief, träumte ich mir Helche an mein Bett, diesen Namen hatte ich aufgeschnappt, als jemand sie rief und sie sich umdrehte. Ihre Hand war es, der ich einen Kuss aufdrücken wollte voller Andacht und Schwärmerei, und bei der Erinnerung an die schwarz behaarte Pranke, die ich einstmals hatte küssen wollen, empfand ich Scham und Abscheu. Meine Fantasie inszenierte eine Feuersbrunst, aus der ich Helche, alle Gefahr missachtend, auf meinen Armen hinaustragen und, wenn sie sich dann später bedankte, allen Dank stolz zurückweisen und meiner Wege gehen wollte. Eine gute Tat verlor ihren Glanz, wenn sie belohnt wurde. Ich wollte ein Held sein und nichts empfangen als atemlose Bewunderung. Was aus meinen Fantastereien verschwunden war, war der Wunsch, zu sterben. Meinem Leben war ein neuer, kraftvoller Sinn eingehaucht worden, der sich mit der Unwiderstehlichkeit fließender Lava in mir ausbreitete. Manchmal wusste ich mir vor Begeisterung kaum zu helfen, boxte in die Luft, sprang in die Höhe und dirigierte ein unsichtbares Orchester. Mit den Hanteln jonglierte ich inzwischen so leicht, dass ich ein neues, schwereres Paar erwarb, um mich noch zu steigern.
Zweites Kapitel
Henning von Testorff war im Unterricht ein Schweiger, aber wenn er drangenommen wurde, brach der Damm, den er um seine Beredsamkeit errichtet hatte, und es ergoss sich ein Schwall kluger Worte über den ratlosen Lehrer, der sich vornahm, diesen Schüler besser in Zukunft nicht wieder zu Wort kommen zu lassen – denn er nahm alles vorweg, was doch die restliche Stunde noch füllen sollte – oder er sprach ein Schlusswort von so abrundender Exaktheit, dass dem Pädagogen nur blieb, die Klasse achselzuckend in die Pause zu entlassen. Hennings Lieblingslektüre waren die Werke eines Amerikaners, der die Manuskripte wäschekorbweise zum Verleger geschleppt und es dem Lektor überlassen hatte, daraus ein Buch zu formen: Thomas Wolfe. Ich ließ mich anstecken von dieser Begeisterung, las „Schau heimwärts, Engel!“ in der ekstatischen Übersetzung des Expressionisten Hans Schiebelhuth, tauchte ein in die Welt des Eugen Gant in dem Bergstädtchen Altamont – und empfand ein Getröstetsein, wie es mir Literatur noch nie geschenkt hatte. Ich hatte oft darunter gelitten, in einer unbedeutenden Provinz- und Garnisonsstadt heranzuwachsen – aber Altamont war noch kleiner gewesen! Und da Eugen die Klassiker las, las auch ich die Klassiker, insbesondere Shakespeare, dessen sonnets mich alsbald zur Nachahmung anregten. Als mir das erste, wie mir schien, gelungen war, folgte das zweite, das dritte – und ich empfand eine Schaffenslust bei der Versifikation, die mir die sichere Vorbotin einer Zukunft als Autor zu sein schien.
Ich zeigte Henning meine Sammlung von sonnets, Henning las sie mit amüsiertem Gesicht, gab sie mir zurück und fragte: „Wusstest du, dass Shakespeares sonnets – zumindest die meisten – nach einhelliger Überzeugung der Literaturgeschichtler einem Mann gegolten haben?“ Als ich ungläubig die Brauen zusammenzog, setzte Henning lachend hinzu: „Rate mal, wohin ich morgen fahre! Nach Hamburg! Und weißt du auch weshalb? Sophia Loren gibt eine Pressekonferenz im Vierjahreszeiten. Ich habe von meinem Onkel einen Presseausweis bekommen. Das lass ich mir nicht entgehen!“
Aber Hennings Frage stak wie ein Pfeil in meinem Herz. Hatte meine Verehrung für Harald mir jemals das Bedürfnis eingeflößt, sie in Worte zu fassen? Nein, und der Grund war: Ich hatte Harald nie geliebt! Aber war es nicht gleichgültig, wen man liebte, kam es nicht nur darauf an, dass dieses Gefühl inspirierend war? Mir wurde klar, dass die an Helche gerichteten Verse nicht länger in meiner Schreibtischschublade verstauben durften. Sie musste sie kennenlernen, koste es, was es wolle! Mit Herzklopfen bestieg ich den kleinen Schraubendampfer, der mich auf die andere Seite der Bucht übersetzte. Dort wohnte sie mit ihrem Vater in einem Haus für Sommergäste mit Namen Luv und Lee. „Dr. jur. Max Fohrmann“ stand auf dem Briefkasten. Ich steckte den Umschlag mit den drei sonnets hinein, wagte es nicht, den Blick zu den Fenstern zu erheben, aus Sorge, eine Bewegung der Gardinen oder sogar sie selbst zu sehen. „Furchtlos beginn ich den Streit. Er ende, wie mir die Norne bestimmt!“, zitierte ich innerlich aus dem Beowulf.
Henning kam enttäuscht aus Hamburg zurück. Er hatte sich Sophia Loren als amazonenhafte Heroine vorgestellt, aber sie war, wie er sagte, „zierlich, ja, winzig“ gewesen. „Wahrscheinlich wird sie immer aus Kniehöhe gefilmt und in Kussszenen auf einen Schemel gestellt!“ Aber er trauerte ihr nicht lange nach. In einer Sängerin, deren Ruhm gerade nach Deutschland drang, fand er sein neues Idol. Sie war Griechin und hatte eine Stimme, die wie ein Messer ins Herz schnitt. Henning lieh mir eine Aufnahme mit Ausschnitten aus Donizettis Lucia di Lammermoor. Ich musste weinen, als ich diese Stimme zum ersten Mal vernahm. Auf dem Schulhof suchte ich den Blick Helches, aber der glitt gleichgültig an mir ab. Ich hatte meinen Absender auf den Brief geschrieben. Aber wahrscheinlich konnte sie den Namen nicht zuordnen. Und selbst wenn sie es konnte, hatte sie vielleicht die allertriftigsten Gründe, es mich nicht merken zu lassen.
„Deine Unterlippe rundet sich stark. Gib acht, dass du nicht in Sinnlichkeit versinkst. Ein wenig Enthaltsamkeit, ja, Askese möchte dir gut tun!“ Diesen Rat gab Vilma mir mit auf den Weg, als ich gerade dabei war, mich in Helche zu verlieben. Wie Vilma darauf kam, dass gerundete Unterlippen Sinnlichkeit anzeigen, blieb ihr Geheimnis. Vielleicht wollte sie auch nur darauf aufmerksam machen, dass es in ihrem Leben an Sinnlichkeit immer gefehlt hatte; denn Emils Unterlippe war nur ein Strich. Er hatte als junger Jurist für die schmallippige Göttliche, für Greta Garbo, geschwärmt und keinen ihrer Filme versäumt. Er mochte Frauen, die größer waren als er, zugleich aber kränkte es ihn, wenn man darauf anspielte, dass er kleiner war als seine Frau. So hatte Vilma einmal ein Buch, nach dem er sich vergeblich gestreckt hatte, mühelos aus dem Regal gezogen. Er sprach drei Tage lang nicht mit ihr. Als Emil sich in Vilma verliebte, war sie als Gräfin Orloff verkleidet und trug ein pelzbesetztes Bustier, das ihre kraftvollen, ostseestrandgebräunten Oberarme mit den Impfnarben reizend zur Geltung brachte. „Er liebte meine Walkürenarme,“ erzählte Vilma, wenn sie auf die Anfangszeiten ihrer Ehe zu sprechen kam. „Und er hat mir im Romanischen Café auf Knien einen Antrag gemacht. Aber sprich nie davon – er will es heute nicht mehr wahrhaben.“
Ich fand meine Mutter sehr attraktiv und sah nicht weg, wenn er sie einmal beim Ankleiden vor dem Spiegel ihres Schleiflackschranks erblickte. Dieser Schleiflackschrank war das Einzige, was sie mit in die Ehe gebracht hatte – außer sich selbst und ihrem Beruf als Säuglingsschwester. Gelegentlich spürte ich ein Ziehen in meiner Unterlippe. ‚Jetzt verdickt sie sich’, dachte ich. ‚Werde ich in Sinnlichkeit versinken?’ In der Leihbücherei war ein Konvolut Bücher aus Amerika gelandet – Werke, die die vom Nationalsozialismus korrumpierten Deutschen mit der englischen Sprache, mit demokratischen Idealen und abendländischem Bürgerstolz vertraut machen sollten. Darunter waren auch Fotobände, in denen leicht oder gar nicht bekleidete kalifornische Strandschönheiten abgelichtet waren. Ich beschloss, Fotograf zu werden. ‚Dann brauche ich nur mit dem Finger zu schnippen, und die schönsten Frauen ziehen sich für mich aus! Was für ein herrlicher Beruf! Wie kläglich, sich auf dem Ehepfad mit der kargen Kost eines einzigen Weibes lebenslang begnügen zu müssen!’ Andererseits: Wenn dieses Weib Helche hieß – was blieb da noch zu wünschen übrig? War es nicht auch großartig, seine ganze Existenz in die Hand einer Einzigen und Einzigartigen zu geben?
Vilma war geborene Hanseatin, und das ließ sie ihre Mitbürger gern spüren. Hier wolle sie nicht begraben sein, war ihr erster Gedanke, als sie Emil, dem der Federstrich eines Justizbeamten eine Planstelle beschert hatte, in die Garnisonsstadt folgte. Alles, was ihr dort nicht gefiel, schob sie auf das geringere Niveau der Provinzler: Ihre Klatsch- und Großmannssucht (als ob Hanseaten nicht klatschten und sich nicht gern auch einmal übernähmen), ihre Neugier, ihre Schadenfreude … Ihr fiel auf, dass die vielen Menschen, die als Flüchtlinge aus dem Osten zugewandert waren, kaum eine Chance hatten, nach oben zu kommen. Sie beteiligte sich deshalb an einem Heim für Waisenkinder aus Flüchtlingsfamilien, spielte mit ihnen, fertigte Buntpapierarbeiten mit ihnen an, richtete den Mädchen Puppenstuben ein.
Das Schicksal eines Jungen berührte sie besonders; er war mit seiner Mutter und der kleinen Schwester im Winter 45 aus Ostpreußen geflohen, wo sein Vater Sattelmeister auf Trakehnen gewesen, aber nun gefallen war. Die Mutter hatte eine tote Krähe am Wegesrand gefunden, hatte dem Sohn das Schwesterchen zu halten gegeben, hatte aus Zweigen ein Feuer entfacht, das schwarze Suppenhuhn gerupft, ausgenommen und in einer Blechdose gekocht. Währenddessen kamen Soldaten, die die Mutter nicht verstand, aber sie musste mit ihnen beiseite gehen. Der Junge legte das Mädchen ab, trank die Brühe und nagte wolfshungrig an der mageren Karkasse des Vogels. Als die Mutter zurückkam, schwankte und zitterte sie. Sie hob das Kind aus dem Schnee. Es war steif gefroren. „Aber du bist wenigstens satt,“ sagte sie, nahm den Jungen bei der anderen Hand und ging mit ihm weiter.
„Stell dir nur vor, ich wäre diese Mutter, du wärest mein Sohn gewesen, Malte, und Emil wäre im Krieg nicht nur verwundet, sondern getötet worden! Es ist alles so zufällig, und die Schicksale liegen so nah aneinandergepresst, als ob nur Seidenpapier dazwischen wäre!“ Sie schauderte bei diesen Betrachtungen und versank in Schwermut. Nach einiger Zeit zog sie sich aus ihrer ehrenamtlichen Arbeit zurück. „Ich ertrage das alles nicht. Ich habe zu viel Armut und Elend in meiner Kindheit kennengelernt. Mein Vater trank ja, und Mutter, ach, sie war nervenleidend, und es war ein schlimmer Tag, als ich mit Papa dem geschlossenen Wagen folgte, der die Rasende in eine Heilanstalt brachte! Ich habe meine Portion des Jammervollen mitbekommen und muss mir nicht noch mehr aufladen.“
Gern wanderte sie mit mir an einem schönen Sommertag durch die Wiesen und Weiden des Umlands, und wenn sie dann über ein Gatter in ein Stück verwunschener Stille hineinschauten, umstanden von den Haselhecken der Knicks, die kaum einen Windhauch hindurchließen, blieb sie stehen, schaute auf dieses Stück begrünter Erdoberfläche und sagte: „Warum kann nicht überall so tiefer Friede herrschen? Ach, wenn ich mir hier eine Hütte bauen und darin leben dürfte, ich wollte wohl die glücklichste Frau auf Erden sein.“ Was sie geprägt hatte, wurde an einer Postkarte deutlich, die mit einer Reißzwecke über ihr Bett geheftet war. Sie zeigte den Umriss des Berliner Schlosses bei Nacht, groß und düster lag es da, aber in einem Fenster brannte Licht. „Deutschland, schlafe ruhig – dein Kaiser wacht!“, stand darunter.
„Aber dieser Kaiser war ein großmäuliger Esel,“ wagte ich einmal einzuwenden.
„Das wussten wir erst später. Als der Krieg verloren war und die Flintenweiber den Neuen Wall heraufmarschiert kamen. Was für ein Chaos! Lieber ungerechte Ordnung als gerechte Unordnung!“ Dieser Satz fasste ihr ganzes, von Angst zerfressenes Wesen zusammen. Sie war wie gemacht, um auf das inszenierte Pathos, die hohle Feierlichkeit und die dümmlich-brutale Anmaßung der Nationalsozialisten hereinzufallen. Sie füllten den Leerraum aus, den der Verlust des Kaisers in ihrem Herzen hinterlassen hatte, und wenn sie mit ihrem damaligen Verlobten, meinem nachmaligem Vater, im Volksparkstadion der einschmeichelnden Stimme des Propagandaministers lauschte, dann wollte sie nur noch eins: blind vertrauen und Geborgenheit finden.
Hatte sie je einen anderen als Emil geliebt? Emil spottete gelegentlich, wenn sie über einen Mann positiv sprach (z.B. über den Metzger, der immer so liebenswürdig war, ihr, der wenig küchenfesten Säuglingsschwester, Tipps für die Fleischzubereitung zu geben), er sehe wohl aus wie Italo Balbo. Wer das gewesen sei, wollte ich von Vilma wissen; und warum Emil sie mit ihm aufziehe. Trotzig erwiderte sie, Emil sei auf lächerliche Art und Weise eifersüchtig auf ihn. Balbo sei ein Pilot gewesen, der mit ganzen Geschwadern von Flugzeugen den Atlantik überquert habe, ein fabelhaft aussehender Mann. Mussolini habe ihn zu seinem Luftmarschall gemacht, und in der Uniform habe er blendend ausgesehen. Natürlich habe sie für ihn geschwärmt! Es habe damals wohl in ganz Mitteleuropa keine Frau gegeben, die das nicht getan habe. Balbo sei auch ein kluger Kopf gewesen, er habe eine Vorahnung des Unheils gehabt, das auf Italien zukommen würde, wenn es sich Deutschland anschlösse. Er habe das Bündnis mit Hitler bekämpft, weshalb Mussolini ihn habe abschießen lassen. Es sei ein Jammer gewesen um diesen großartigen Mann!
Ja, Vilma war eine an den Felsen gefesselte Andromeda, die ihres Retters auf seiner Savoia-Marchetti harrte! Harrte sie noch oder hatte sie aufgegeben? Ich betrachtete das Bild der legendären Königstochter, die einem Ungeheuer geopfert werden sollte. Ein flämischer Meister hatte die üppige Schönheit in Öl gemalt, ein Schleierzipfel war ihr einziges Kleidungsstück. Dicke Tränen entrollten den himmelwärts gewandten Augen. O, Perseus sein und auf dem Pegasus, dem Markenzeichen von Mobiloil, einfliegen und sie retten! Dem Ungeheuer, das gräulich wie Grendels Mutter im Wasser schwamm, die Lanze in den grausig geronnenes Blut aufstoßenden Schlund rammen! Und dann hinknien vor der Gefesselten und ihren Dank entgegennehmen!
Da sich der Kunstdruck mit dieser Szenerie in einem der Bücher Emils befand, lebte Malte sich in die Vermutung ein, hier zu lernen, was seinen Vater, der über Sexuelles nie sprach, zu fesseln vermochte: ‚Auch er hat schon weinende Frauen trösten und retten wollen! Ich bin in dieser Hinsicht nicht anders als er. Und hat er Vilma nicht, als sie mittellos und ohne Zukunft in immer ärmeren Spitälern arbeitete, gerettet? Dies herrlich gewölbte und gerundete Fleisch, die Gewalt dieser Knie, die Eleganz der gerungenen Hände, die wie ein Schmuck getragenen Ketten, die Wucht des in der Torsion der Qual verzogenen Nabels!’ Ich berauschte mich an dem Bild, nur um sogleich Scham und Reue zu spüren. War das Enthaltsamkeit? War das Askese? Nein, ich hatte versagt, kläglich versagt! Aber musste etwas so Schweres nicht durch häufiges Scheitern hindurch mühselig erlernt und antrainiert werden? Eine ganze Woche blieb ich standhaft. Aber dann kniete ich erneut nieder vor dem Fantasma der Bedrohten und zu Rettenden und machte sie, indem ich mich ihr ergab, zu meiner Beute.
Einmal gelang es mir, mich über zwei Wochen im Zaum zu halten. Aber dann war ich so unsinnig reizbar, dass das Schreiben einer Drei mir wie das Zeichnen von Brüsten erschien, und die unterdrückte Natur befreite sich selbst. Um den Fleck, der sich in meinem Schritt abzeichnete, zu verbergen, hielt ich die Beine krampfhaft geschlossen und improvisierte eine lächerlich x-beinige Gangart. Ein Schulkamerad starb am überreichlichen Genuss von Kopfschmerztabletten seiner Mutter, nachdem er ihr Bild auf seine Brust gestellt hatte. Henning hatte in Erfahrung gebracht, dass er in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, er sei völlig verzweifelt und sehe keine Zukunft mehr. Er sei seit Monaten schwer krank, sein Glied sondere regelmäßig unter furchtbaren Zuckungen fad riechenden Eiter ab.
Ich wollte nicht an Selbstekel sterben. Und ich wollte auch nicht wieder mit X-Beinen laufen müssen. Deshalb gestattete ich mir einmal wöchentlich den Ausflug auf dem Pegasus zum Andromeda-Nebel.
Drittes Kapitel
Ghana wurde unabhängig, ein Stein wurde auf die Mona Lisa geworfen, Mao forderte: „Lasst hundert Blumen blühen!“, der §175 StGB wurde für verfassungsgemäß erklärt, Willy Brandt wurde regierender Bürgermeister von Westberlin, der Sputnik wurde in eine Erdumlaufbahn gebracht. Ich schmiedete sonnets, führte Buch über die verwendeten Reime, um mich nicht zu oft zu wiederholen, verbannte die Reime Herz und Schmerz, Lust und Brust, Leib und Weib, Welt und Held, Gold und hold sowie die Worte filigran und Kristall aus meinem poetischen Wortschatz, weil es mir spießig erschien, und steckte meine Werke Helche in den Briefkasten. Diese aber verzog weiterhin keine Miene, ernst und in sich gekehrt wanderte sie an der Seite einer sehr viel kleineren Freundin durch die Pausen. Manchmal weinte sie, das bekümmerte mich heftig, aber da ich sie in meinen Versen mit Schwärmerei und Anbetung überschüttete, war ich mir keiner Schuld bewusst.
Eines Mittags, als Emil Vilma in der Küche das Geschirr abtrocknete, hörte ich im Vorbeigehen an der Tür den Namen Helche. Ich blieb stehen wie vom Donner gerührt und hörte mit klopfendem Herzen, wie Emil fortfuhr: „Was soll aus dem Mädchen werden, wenn wir gegen ihren Vater Anklage erheben müssen? Und danach sieht es aus!“ „Wie alt ist sie denn?“ „Ein Jahr älter als Malte.“ „Aber das würde doch passen! Du weißt, dass er eigentlich – eine Schwester haben – müsste …“ Ihre Rede brach ab. Ich erinnerte mich, dass sie einmal von einer Fehlgeburt gesprochen hatte ein Jahr, bevor sie mich bekam. „Bitte, Vilma,“ sagte Emil beschwörend, aber Vilma versank minutenlang in schmerzliche Erinnerung. „Und das, woran du denkst, ginge nicht,“ fuhr Emil fort. „Ich bin juristisch mit dem Fall befasst, und wenn wir das Mädchen bei uns aufnähmen, würde es heißen, dass wir auch vorher schon befreundet waren. Du weißt, um was für ein heißes Eisen es sich handelt. Ich wünschte, ich müsste hier keine Entscheidung treffen. Ich war doch damals auch nicht klüger.“
Zitternd verzog ich mich auf mein Zimmer. Es gab kaum einen Zweifel: Sie hatten über eine Helche gesprochen, die ein Jahr älter war als ich – das konnte nur meine Angebetete sein! Sie lebte offenbar mit ihrem Vater und hatte keine Mutter mehr. Schon seit Wochen hatte ich die Ohren offengehalten, ob irgendwo der Name Fohrmann fiel. Aber viel mehr, als dass sie im Dezember zugezogen waren, hatte ich nicht herausgefunden, auch nicht, wo sie vorher gelebt hatten. Befand sich der Vater auf der Flucht vor der Justiz? Dann war sie offenbar jetzt zu Ende, denn wenn er angeklagt wurde, dann konnte das sehr wohl die Endstation bedeuten. Und was wurde ihm vorgeworfen? War er in eine Mordaffäre verstrickt? In einem Anfall von düsterer Romantik stellte ich mir vor, dass er seine Frau umgebracht haben könnte. Aber dann wäre Helche kaum bei ihm geblieben, und die Möglichkeit, dass sie es nicht wusste, verwarf ich als zu konstruiert.
Immerhin ahnte ich jetzt, weshalb sie geweint haben könnte; es ist ja nichts Geringes, wenn gegen den eigenen Vater staatsanwaltlich ermittelt wird. Aber erstaunlicherweise rückte deshalb niemand von ihr ab, niemand machte anzügliche Bemerkungen, auch die Lehrer schwiegen, es lag eher etwas wie eine solidarische Bedrücktheit über der Lornsenschule, und ich umschrieb mein Mitwissen mit den Zeilen:
„Schlohweiß entsteigst du, Nixe, schwarzem Teich,
behängt mit Algen nur und Krötenlaich.“
Aus späteren Gesprächen meiner Eltern in der Küche erfuhr ich, dass die Ermittlungen gegen Helches Vater sich wegen schwieriger Beweislage hinzogen, aber was ihm zum Vorwurf gemacht wurde, erfuhr ich weiterhin nicht, konnte auch in der Zeitung nichts dazu finden, und dort, wo ich hinfuhr, hinaus zum Ehrenmal, das wir den Gedenkständer nannten, weil wir in unserer pubertären Fantasie einen erigierten Penis assoziierten, spazierte ich bei guter Luft und kräftiger Salzbrise zwischen den Tafeln der vielen Tausend erschossener, zerfetzter, erstickter, verbrannter und ertrunkener Matrosen einher, interessierte mich für die Flugkünste der Möwen und überlegte, ob mir zu dem alternativlosen Reimpaar Möwe – Löwe ein sonnet einfiel. Aber über die Verse
„Wo sich der Hungerschrei der Silbermöwe
mischt mit dem Tosen ungestümer Brecher,
wo auf dem Felsen sich des Meeres Löwe
genüsslich wälzt …“
kam ich nicht hinaus.
Die Abende verbrachte ich auf meinem Zimmer am Radio. Durch eine Sendereihe des NWDR entdeckte ich den Komponisten Maurice Ravel und kaufte mir Platten mit dessen Kompositionen. Am besten gefiel mir die Sonatine, von Ravel komponiert, als er noch am Anfang seiner Laufbahn stand. In dem treuherzig-schlichten Thema des ersten Satzes fühlte ich mich selbst und mein innerstes Empfinden gespiegelt. Ich besorgte mir die Noten und suchte mit ihnen den Musiklehrer auf. Ich hoffte, dass der mir erklären konnte, warum ich gerade in dieser Musik mich selbst zu finden meinte. Aber dem Musiklehrer war die Sonatine zu schwer, er mochte sie nicht, sprach von Tonarten, Chromatik und von Ravels Dekadenz. Bald darauf entdeckte ich Ravels Ballettmusik La Valse, die ich als Abrechnung des Komponisten mit der guten alten Zeit interpretierte: Mit schneidenden, modernen Klängen hatte er die süßliche und verlogene Walzerseligkeit der Vorkriegszeit in Fetzen gerissen. Als meine Eltern mich beim Hören dieser Musik ertappten, waren sie entsetzt: „Stell das sofort ab, es verdirbt deinen Geschmack!“ Ich stellte es ab. Als sie draußen waren, stellte ich es wieder an. Diese Musik wollte ich einmal mit Helche hören! Sicherlich würde sie ebenso begeistert sein wie ich!
Ich erlebte mit, wie Harald beim Sommersportfest angeberisch zum Hochsprung erst antrat, als die Latte bereits auf 1,80 Meter lag. Natürlich riss er, aber 1,80 Meter gerissen zu haben war eindrucksvoller, als 1,50 Meter zu schaffen. Ich beschloss, ihn zu übertreffen, bastelte mir im Keller Hochsprungständer und trainierte mit ihnen auf dem Rasenplatz, wo Vilma die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Ich zog mir jedoch eine Zerrung zu und gab entmutigt auf. „Helche ist kaum das Mädchen, das sich durch physische Höchstleistungen beeindrucken lässt,“ schrieb ich in das blaue Heft, in dem ich zwischen meinen Versen und den Reimlisten auch Tagebuch führte.
Ich las Unter Korallen und Haien von Hans Hass, ein Lieblingsbuch Vilmas, und beschloss, Taucher zu werden. Noch vor dem Krieg hatte Hass in der Karibik mit zwei Freunden getaucht und sensationelle Unterwasserfotos geschossen. Außerdem hatten sie Barrakudas, Kugelfische und Moränen harpuniert, und das alles ohne Sauerstoffflasche mit bloßem Luftanhalten als sog. Apnoetaucher. Als in einem Geschäft für Gummiwaren Tauchflossen angeboten wurden, wünschte ich sie mir zum Geburtstag und bekam sie. Aber sie saßen nicht fest am Fuß und drückten schmerzhaft meine großen Zehen. Ich legte sie zu den Hochsprungständern und fand den Gedanken, Taucher zu werden, lächerlich. ‚Helche würde sich kaputtlachen!’ „Nicht Flossen braucht die Liebe, sondern Flügel!“, hieß es dann in sonnet 22.
Ich bekam zum Geburtstag außerdem ein Schmetterlingsbestimmungsbuch, das auch die Anleitung zum Bau eines Raupenzuchtkastens enthielt. Ich beschloss, Biologe zu werden, fand auf einer Fuchsie eine fette grüne Raupe mit Stachel auf dem letzten Glied und verbrachte sie in den Kasten, wo sie sich alsbald zur Puppe versteifte. Im Frühjahr schlüpfte ein wunderschöner rotsilberner Weinschwärmer hervor, der schwirren konnte wie ein Kolibri. Ich zeigte ihn meinem Biologielehrer, der ihn mitleidig ansah und aus dem Fenster fliegen ließ. „Wenn er der Sehnsucht folgt, fliegt er zu dir!“, dichtete ich daraufhin.
Es folgte ein Mikroskop, dessen Bauteile ich aussägte. In den Fuß goss ich flüssiges Blei, die Grob- und die Feineinstellung funktionierten hervorragend. Ich untersuchte die Schuppen vom Flügel eines Mondvogels (eines Nachtschmetterlings, der aussah wie ein abgebrochenes Stück Holz), Zwiebelhäutchen, Buchläuse und die kleinen roten Spinnen, die im Sommer auf warmen Steinen so geschäftig einherlaufen. Dann aber konnte ich nicht widerstehen, onanierte in die Hand und legte einen Samentropfen unter das Objektiv. Als ich die wimmelnden Spermatozoen erblickte, wurde mir schlecht. Nicht aus Ekel, sondern weil mir war, als hätte ich in ein verbotenes Geheimzimmer der Schöpfung geblickt. Solche Kaulquappen hatte mein Vater produziert, um mich, solche würde ich produzieren, um ein noch unbekanntes Kind mit einer noch unbekannten Frau zu erzeugen. Sie konnte nur Helche heißen. „Wie gern ich liebte! Alles ist bereit,/die Herrin meines Lebens zu empfangen,“ hub ich melodramatisch an. Aber Helche schenkte mir nicht einmal einen Blick.
Emil war Filmfan seit seiner Jugend, Greta Garbo war sein ganz großer Schwarm gewesen. Er war Mitglied eines Filmclubs, und nahm mich mit in eine Vorstellung von „Lohn der Angst“, in die ich als zu jung wohl im normalen Kino nicht hineingekommen wäre. Ein schrecklicher Film, denn er bezog seine Spannung wie der Titel schon sagt, aus der Angst und nur aus der Angst vor der Explosion des Sprengstoffs, der nicht erschüttert werden darf. Aber ich kann mir kein Urteil erlauben, denn ich habe ihn, als einer der Transporter in einem Teich von Rohöl stecken zu bleiben droht, unter dem Vorwand, aufs Klo zu müssen, verlassen und bin nicht wieder hineingegangen. Das Bild des Beifahrers, der im Rohöl zu versinken droht und den Fahrer, der aber vorankommen muss, anfleht, ihn nicht zu überfahren, hatte mich überfordert. Emil entschuldigte sich bei mir; er hätte nie gedacht, dass ein Film mit so angesehenen Schauspielern wie Peter van Eyck und Yves Montand so düster sein könne.
*
In der Schule gastierte ein russischer Pianist. Helche saß eine Reihe vor mir, und ich sah, wie gebannt sie lauschte, als er Ravels Gaspard de la nuit spielte, wie frenetisch sie Beifall klatschte, als der hypervirtuose letzte Satz verklungen war. War es Eifersucht? Ich plagte meine Eltern so lange, bis sie mir ein Klavier und Klavierstunden bewilligten. Aber bereits bei Der Weiße Hirsch und Flieg, Bienlein, flieg! gab ich auf. Ich erkannte, dass der Weg bis zur Sonatine von Ravel, dargeboten in russischer Perfektion, weit, sehr weit war – ‚und lieber will ich gar kein Pianist werden als ein schlechter!’ Auch diese Erfahrung schlug sich in Versen nieder:
„Wenn in Musik gefror’ner Sinn zerfließt
und eine Liebe malt, die nimmer endet,
wenn du im Traum die lispelnde genießt,
die auch gesättigt nimmer ab sich wendet …“
*
Eine Tanzstunde wurde angekündigt, die Teilnahme war freiwillig. Ich zögerte. ‚Warum sollte ich mich an einem Unterricht beteiligen, der mich zwang, mit Mädchen zu tanzen, die mir völlig fremd waren und die keinerlei Anziehungskraft auf mich ausübten? Ja, wäre Helche in meiner Klasse gewesen, dann hätte ich das durchstehen müssen – auf die Gefahr hin, auch dort von ihr völlig unbeachtet zu bleiben – was aus der Ferne leichter erträglich ist als aus einer Nähe, in der Schweiß- und Mundgeruch, sämtliche Peinlichkeiten der körperlichen Existenz unausweichlich spürbar werden. Nein, auch wenn sie in meiner Klasse wäre, ja, vielleicht gerade dann müsste ich diese altbackene Dressur verweigern. Wozu hatte ich mich an Ravel ergötzt, wenn er in La Valse den Walzer in Stücke reißt?’ Ich nahm also nicht teil; für die Überlegung, dass Tanzenkönnen zur Grundausstattung eines jungen Mannes gehört wie der Führerschein, war ich entweder zu jung oder nicht realistisch genug.
Die Folge war, dass ich, wenn ein Klassenfest stattfand, das man jetzt Fete nannte, vereinsamt an meinem Tisch sitzen blieb, während alle anderen sich paarweise ins Getümmel stürzten … ‚Ich bin nicht ausgeschlossen, ich habe mich ausgeschlossen!’, dachte ich und suchte Zuflucht in meinem Stolz. Ich besuchte mit Emil eine Ballettvorstellung des Nussknackers in der Oper; ja, das war Tanz, während dieser sogenannte Gesellschaftstanz doch nichts war als eine rudimentäre und verkümmerte Veranstaltung, ein bloßer, mit schlechter Konservenmusik grundierter Vorwand, um mit dem anderen Geschlecht körperlich in Kontakt zu kommen. Und diese meine Einstellung wandelte sich auch später nicht, als die Mode die Tanzenden immer stärker vereinzelte, ja, die Paarbindung schließlich völlig auflöste. Sobald in einer Runde Tanzmusik erscholl, stand ich auf und ging. Der meist überbetonte Rhythmus verletzte mein ästhetisches Empfinden und vermittelte mir das Gefühl, einer Masse angehören zu sollen, die sich hirnlos einem Bewegungsdiktat überantwortete – gerade so, wie es Soldaten taten, wenn sie nach staatlich verordneter Marschmusik in ebenso sinnlose wie mörderische Gefechte zogen.
Ein neuer Direktor wurde ans Lornsen-Gymnasium berufen, nachdem der alte in Pension gegangen war. Eine der ersten Amtshandlungen des forschen Neulings bestand darin, dass er alle Schüler aufforderte, sich im SAVOY den von Alain Resnais zur Hälfte gedrehten, zur Hälfte aus Originalaufnahmen kompilierten Dokumentarfilm Nacht und Nebel anzusehen. „Ich geh da nicht rein,“ erklärte Henning, „mein Onkel sagt, es sei ein deutschfeindliches propagandistisches Machwerk, das man nicht gesehen haben müsse.“ Aber dann ging er doch mit, und als er herauskam, weinte er. Es wäre falsch zu sagen, dass alle Schülerinnen und Schüler betroffen gewesen wären. Es war mehr eine graue und lethargische Fassungslosigkeit, die nach dem Sehen dieses Films wie Mehltau alles überzog. Viele freilich verschlossen sich auch seiner bei aller Dezenz der Vermittlung unfassbaren Botschaft, machten Witze und stellten in Frage, was vom Film als wahr vorausgesetzt wurde. Befragungen der Eltern blieben ergebnislos und endeten bei den immer gleichen Ausflüchten: Die Nazis hätten den vielen Arbeitslosen wieder Arbeit und Brot gegeben, hätten die Autobahnen gebaut, KdF-Reisen ermöglicht und die Grundversorgung der von Krieg, Hunger und Inflation verunsicherten Bevölkerung gewährleistet; Antisemitismus habe es zudem immer gegeben, gebe es auch heute noch vor allem in den Ländern, die ihn Deutschland vorwürfen, und die Amerikaner vor allem sollten sich nicht so aufspielen, sie hätten Völkermord an den Indianern begangen, und ihr Ku-Klux-Klan sei eine Schande. Zynismus und Sarkasmus griffen um sich. Ich erinnerte mich an Emils Ausspruch, er sei damals auch nicht klüger gewesen, und beschloss, mit ihm nicht mehr zu sprechen. Ich begriff, dass sie alle aus dem schwarzen Teich stiegen und dass die huldvolle Geste, mit der ich mich der Tochter eines offensichtlich Verstrickten zugewandt hatte, mir nicht gut zu Gesicht stand. Ich entfachte ein Feuer in der Aschkuhle des Hauses und verbrannte darin alles, was ich zusammengedichtet hatte als privaten, um nicht zu sagen barbarischen Plunder aus der Zeit vor Nacht und Nebel, aber nach Auschwitz.
Es begann nun ein Großreinemachen. Uns war klar geworden, dass wir uns blamiert hatten. Wir hatten geschwiegen, wenn der Geschichtslehrer die slawischen Völker in einem Nebensatz rassisch minderwertig und unfähig zur Staatsbildung genannt hatte, wir hatten geschwiegen und uns gefügt, wenn der Turnlehrer uns paramilitärische Antrete- und Richtübungen aufzwang, wir hatten geschwiegen, wenn der Physiklehrer für die deutsche Physik geworben hatte gegen die jüdische eines Einstein, der mit seinem Relativismus den angeblich gesunden Menschenverstand in Frage stelle, wir hatten geschwiegen, wenn der Kunstlehrer die Werke eines Liebermann als dekadent, eines Barlach und einer Käthe Kollwitz en passant als entartet diffamierte, wir hatten geschwiegen, wenn der Musiklehrer die Negermusik des Jazz als primitiv belächelte und wenn der Religionslehrer es als „eine durchsichtige Verleumdung Jesu“ bezeichnete, wenn behauptet werde, er sei jüdischer Herkunft gewesen …
Wut baute sich als Druck in unseren Bäuchen auf; viele sprachen zu Hause nicht mehr mit ihren Vätern. Henning brach den Kontakt zu seinem Onkel ab, der als Offizier im Führerhauptquartier am 20. Juli „auf der falschen Seite“ gestanden hatte, obgleich er auf der richtigen hätte stehen können. Ich war gleichsam gelähmt, ich funktionierte weiter, als ob nichts wäre, es hatte sich jedoch in mir eine furchtbare Leere ausgebreitet, in der die Worte widerhallten: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends,/wir trinken sie mittags und morgens, wir trinken sie nachts.“ Jetzt wusste ich endlich, was Poesie ist: Sprache, die sich der Wahrheit öffnet, mag sie auch entsetzlich sein. Ich hatte Alpträume von Lawinen von Brillen, von Schuhen, von Zahnprothesen, von Frauenhaar, die über mich herabstürzten und mich zu ersticken drohten, so dass ich, in Angstschweiß gebadet, aufwachte, nur damit sich in meinen Vorstellungen sogleich wieder ein Himalaya des Grauens auftürmte, vor dem ich mich meines Daseins schämte.
Die Wut entlud sich in einem Anschlag, der in einer der oberen Klassen auf einen besonders verhassten Geschichts- und Englischlehrer verübt wurde. Dieser nutzte jede Gelegenheit, um deutlich zu machen, dass der pseudowissenschaftliche Rassedünkel, der in den Abgrund geführt hatte, von ihm immer noch geteilt wurde. Die Poesie Heinrich Heines nannte er „dekadent“ und „verdorben“, die Musik eines Mendelssohn „epigonal“, die Philosophie von Karl Marx ein einziges Dokument „krankhaften Neides“, die Psychoanalyse Freuds war für ihn eine „Unterhosenwissenschaft“, und Shakespeares größte Leistung war es nach seinen Worten, dass er mit der Gestalt des Shylock frühzeitig auf den „größten Feind des Menschengeschlechts“ hingewiesen habe. All das hätte man vielleicht als das Halbirresein eines Unverbesserlichen ignorieren können, wäre da nicht ein kaum verhohlener Hang zum Sadismus gewesen.
In meiner Klasse gab es ein Mädchen mit Namen Alice Ohlsen. Ich hatte sie bei Krocket-Partien auf dem gepflegten englischen Rasen einer Villa am Kanal näher kennen gelernt, wo die Eltern alles dafür taten, ihre zahlreichen Töchter beizeiten mit vielversprechenden jungen Männern der Stadt zusammen zu bringen. Alice war alles andere als reizvoll; große glasige Augen rollten in einem kugelrunden Kopf, den eine strähnige Ponyfrisur schmückte, sie galt als hochintelligent, schrieb aber elende Zensuren, ihre Sprechweise war sorgfältig und zögernd, als habe sie immer Angst, Fehler zu machen, und oft waren ihre Beine blutig zerkratzt, weil sie an Neurodermitis litt. „Na, Alice, wieder in den Brombeeren gewesen?“, pflegte Dr. Kruse sie dann mit Blick auf ihre Waden anzureden, die sie nicht verhüllte, weil die Kombination Schottenrock mit weißer Bluse und Söckchen sommers bei Ohlsens Gesetz war. Und wenn Dr. Kruse ihr englisches Th nicht gefiel – Alice genierte sich, die Zunge zwischen die Zähne zu stecken – musste sie auf sein Geheiß vor die Klasse treten und so lange „this thick thing“ sagen, bis sie sich, rot übergossen, vor Scham wand.
Diesem Kruse nun fiel eines Morgens, als er Haralds Klasse betreten wollte, die Tür entgegen und begrub ihn unter sich. Mit gebrochenem Joch- und Nasenbein, weiteren erheblichen Gesichtsverletzungen und zerschmetterter rechter Clavicula wurde er ins Spital eingeliefert. Es wurde festgestellt, dass die Tür vorher aus den Angeln gehoben worden war, die Polizei wurde eingeschaltet, Fingerabdrücke überführten die sechs Schuldigen, die in feierlicher Relegation aus der Schulgemeinschaft ausgeschlossen wurden. Unter den Relegierten war überraschender Weise auch Harald Hirsebeck. ‚Donnerwetter’, dachte ich, ‚das hätte ich ihm gar nicht zugetraut! Aber wer weiß, was ihn dahin gebracht hat? Von seinem Vater heißt es, er sei auch nicht immer gewesen, was er heute ist.’ Vor ihrer Verstoßung wurden die Relegierten gefragt, ob sie sich bei Dr. Kruse, der mit verbundenem Gesicht und hochgelagertem Arm in der ersten Reihe saß, entschuldigen wollten. Zwei entschuldigten sich. Die anderen vier, unter ihnen Harald, lehnten es ab und murmelten, während sie im Gänsemarsch die Aula verließen, Verwünschungen zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Viertes Kapitel
Ich besuchte meinen Freund Henning auf Testorff, dem Gut seiner Familie. Henning war Halbwaise, vergötterte seine kleine, verhutzelte Mutter, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und jeden Abend aus dem „Grünen Heinrich“ vor. Eine seiner Weimaraner-Hündinnen hatte geworfen, die Welpen mit den honiggelben Augen krochen auf Hennings Armen herum und leckten ihm das Gesicht. Henning hatte sie Wotan und Loge, Freya und Fricka genannt – das fast unmerkliche Grinsen, mit dem er mir diese Namen mitteilte, ließ offen, ob er damit den alten Germanengöttern huldigen oder sich über den mit ihnen in den glorreichen zwölf Jahren getriebenen neuheidnischen Kult lustig machen wollte. Wir hörten neue Aufnahmen der famosen Griechin, insbesondere „Casta diva“, die Arie aus Bellinis Norma, die sich mit hypnotischer Feierlichkeit in unfassbare Höhe schraubt. „Diese Musik, der Gesang dieser Frau – das ist mein einziger Trost!“, sagte Henning. „Alles andere ist besudelt und heruntergekommen durch den gigantischen Verbrechensstrudel, der in all seiner quantitativen Größe qualitativ klein, kleinlich und spießig ist. Komm, lass uns Schach spielen!“
Ich setzte zu Aljechins Eröffnung an, aber Henning schüttelte den Kopf und sagte: „Nicht die. Aljechin hat auch kollaboriert.“ Wir spielten Damengambit, Henning bemerkte: „Meine Vorfahren, weißt du, haben Hunderte von Jahren immer wieder Krieg geführt, mein Vater ist im letzten auf dem Feld der Ehre gefallen, das zu einem Feld der Schande geworden ist. Auch Krieg hat seine Fragwürdigkeit, ja, seine Absurdität, insbesondere seit den Bomben auf Dresden, auf Hiroshima und Nagasaki, aber die Schande, wehrlose Menschen, Kinder, Frauen, Alte unter lügenhafter Vorgaukelei zu Tausenden, ja, Millionen mit Hilfe ihrer eigenen eingeschüchterten Institutionen in den Tod durch Erschießen oder Vergasen getrieben zu haben, diese Schande wäscht nichts und niemand je wieder von uns ab!“
*
Ebenso stilles wie schauerliches Beweisstück der Wahrheit all dessen, was Nacht und Nebel dokumentiert hatte, war die Tatsache, dass es von den Menschen, die dem Rassismus der Eltern zum Opfer gefallen waren, keine mehr gab, mit denen man ein Wort über alles hätte wechseln können. Um Spuren von ihnen zu finden, durchwanderten Henning und ich unsere Stadt, in der es in guten dänischen Zeiten, als „judenfrei“ noch „für Juden frei“ bedeutete, aber auch noch danach eine lebendige jüdische Gemeinde gegeben hatte. Auf Zehenspitzen schlichen wir an dem Grundstück vorbei, auf dem dem Vernehmen nach einst der Hebräertempel gestanden hatte. Er war zerstört, gesprengt und abgetragen, vom Erdboden ebenso verschwunden wie diejenigen, die ihn einst besucht hatten. Der Friedhof lag hinter einer hohen Mauer und war durch ein eisernes Tor versperrt – gerade als ob man noch die Toten von den Lebenden fernhalten und in ein Ghetto sperren müsse. „Nein, es ist umgekehrt,“ erklärte Henning. „Man muss die Lebenden fernhalten, damit die Totenruhe gesichert ist. Es gibt ja immer noch viel zu viele von diesen Hirnkranken.“ Wir drückten die Stirnen an die kaltmetallenen Trallen, in die der Davidstern eingeschmiedet war, und sahen graue, grünlich veralgte Grabsteine, viele von ihnen geneigt, manche umgefallen – oder umgestoßen? – unter halbhohen Eichen und Buchen stehen. Einer war so nah, dass wir die Beschriftung hätten lesen können – aber sie war bis auf einen Namen hebräisch. Der Name lautete Abraham Blümlein.
„Was würde wohl passieren, wenn wir uns mit einem Schild ‚Suchen einen überlebenden Juden!’ auf die Schlossstraße stellten? Da kommen so viele Menschen vorbei – es müsste doch noch der eine oder andere dabei sein.“ Henning hatte diese Idee.
Ich war Feuer und Flamme. Wir besorgten ein Stück Pappe, schrieben unser Sprüchlein drauf, hefteten es an einen Holzstock und postierten uns vor einem gutbesuchten Modegeschäft.
Schon nach wenigen Minuten kam der Besitzer heraus und sagte: „Verschwinden Sie hier! Was soll der Quatsch?“
Wir stellten uns vor eine Eisdiele. Die Leute lasen neugierig das Schild und gingen starren Blicks vorüber.
Ein Fotograf des Volksfreunds nahm uns auf und stellte ein paar Fragen. Er verlor schnell das Interesse und bekam nicht mit, wie ein Mann stehen blieb, das Schild und Henning, der es hielt, stahlgrau und allwissend in die Augen sah. Henning hielt seinem Blick lächelnd stand. Der Mann trug einen Lodenmantel und ebensolchen Hut, den er mit einer Fasanen- und einer Häherfeder geschmückt hatte. Ich stand daneben, und der Blick des Fremden traf nun mich. „Dich hat er wohl schon gefunden, was?“, fragte er – und rotzte mich an, dass es mir von der Jacke troff. Der Lodenmantelträger wurde von einer Frau fortgezogen, die aus einem Geschäft kam und den Jungen halb entschuldigende, halb entrüstete Blicke zuwarf, als ob sie sagen wollte: „Er ist nicht ganz bei Trost.“
Dann geschah nichts mehr. Nach zwei Stunden war unsere Geduld erschöpft, wir bekamen kalte Füße. Wir wollten gerade gehen, da blieb eine alte Frau mit einem karierten Kopftuch stehen, sah uns an, blickte dann zum Schild auf und sagte: „Warum sucht ihr nur jüdische Überlebende? Überlebende sind wir alle! Deutschland war ein einziges großes KZ, auf das die Alliierten ihre Bomben warfen! Ich war zweimal verschüttet. Wollt ihr meine Narben sehen?“ Sie machte Anstalten, ihre Bluse aus dem Rock zu ziehen, aber andere Passanten drängten sie ab, und sie verschwand im Gewühl.
*
Die Aktion hatte ein Nachspiel: Wir wurden zu Petri gerufen wurden, der uns den Zeitungsartikel im Volksfreund vorlegte. Dort wurde hervorgehoben, dass es sich um zwei Schüler des Lornsen-Gymnasiums gehandelt habe, die diese Aktion veranstalteten, „um ein trauriges Kapitel der deutschen Geschichte sinnfällig vor Augen zu rücken“. Dort war auch zu lesen, dass das Modegeschäft, vor dem wir zuerst gestanden hatten, bis 1935 in jüdischem Besitz gewesen war. Petri bat uns, in Zukunft solche Aktionen mit ihm abzusprechen, damit er nicht aus der Zeitung davon erfahre. Als ich erzählte, dass ich angespien worden sei, erwiderte Petri: „Freuen Sie sich, dass es dabei geblieben ist und dass Sie nicht Ärgeres haben einstecken müssen. Es wird noch lange dauern, bis die Menschen hierzulande der Wahrheit werden ins Gesicht sehen können. Das ist wie mit der Medusa. Erinnert ihr euch?“ Er schüttelte in komischer Verzweiflung den dunklen Lockenkopf, als er die Fragezeichen in unseren Augen sah. „Man konnte sie nicht ansehen, ohne zu versteinern. Deshalb lenkte Perseus, als er ihr den Kopf abschnitt, seine Hand, indem er in den spiegelnden Schild sah. Nacht und Nebel war ein solcher spiegelnder Schild.“
Einige Tage später traf bei Petri ein Brief ein, den dieser an uns weitergab. Er lautete:
Sehr geehrter Herr Petri,
bitte verzeihen Sie, dass ich mich an Sie wende, da mir die Anschrift der beiden Schüler, die in der Schlossstraße nach einem Überlebenden gesucht haben, nicht bekannt ist. Da sich offenbar niemand bei ihnen gemeldet hat, möchte ich das tun, obgleich ich keine Jüdin bin. Ich war aber mit einem Mann verheiratet, der, Christ, jüdischer Herkunft war und deshalb verfolgt wurde. Als er gezwungen wurde, den gelben Stern zu tragen, machte er seinem Leben ein Ende. Ich könnte den beiden jungen Männern nicht viel, aber vielleicht ein wenig über das jüdische Leben hier in meiner Heimatstadt erzählen. Sie dürfen mich jederzeit gern anrufen. Hochachtungsvoll
Erna Würzburger
Wir reisten in den nächsten Wochen mehrfach in die Nachbarstadt und trafen dort mit Frau Würzburger zusammen, der Witwe des verstorbenen Rechtsanwalts Max Würzburger. Henning machte sich Notizen von allem, was sie erzählte; ich merkte, dass sein Interesse vom Schuldgefühl erdrückt wurde. Unvergesslich blieb ihm ein Besichtigungsgang, zu dem Frau Würzburger uns einlud und für den sie sich einen Schlüssel in einem Fischgeschäft holte. Sie schloss die Tür eines aus rotem Klinker errichteten Gebäudes auf. Schon im Flur drang uns schwer und fettig riechender Qualm entgegen, der die Augen beizte; ich erinnerte mich, wie Vilma kurz nach der Währungsreform mit einem in Zeitungspapier gewickelten Etwas heimgekommen war, es ausgewickelt und einen goldbraun schimmernden Fisch enthüllt hatte, einen Bückling, von dessen apartem Fleisch und Rogen ich gar nicht hatte genug bekommen können …
Wir traten in einen würfelförmigen Raum; die Wände troffen von gelblich-bräunlichem Niederschlag, überall standen Kisten und Kasten, Fässer und Tonnen, und auch hier roch es intensiv nach Holzrauch und Fisch. „Dies war bis zum 9. November 1938 der Betsaal der Synagoge,“ erläuterte Frau Würzburger. „Ihr seht noch an der kassettierten Decke, dass der Raum einmal anderen, weniger prosaischen Zwecken diente. Die Fächer waren ornamental ausgemalt, aber das hat der Sott alles überlagert und abblättern lassen. Dort oben die Fenster – dort saßen die Frauen. Und hier befand sich der Thoraschrein, in den sie eine Handgranate warfen. Auch ich habe dort oben auf der Empore gesessen. Bevor mein Mann sein Leben beendete, ist er zum Judentum zurückgekehrt, was ich ihm nicht verdenken kann; denn die Christen unterstützten in ihrer weit überwiegenden Mehrheit seine Verfolgung und Entrechtung nur wegen einer Herkunft, die er doch mit ihrem Heiland und Gott gemeinsam hat. Wobei ich ‚unterstützen’ auch das verlegene und beklommene Wegschauen derer nenne, die sich dessen heute oft genug schämen. Aber es gab auch viele, die den Wahnsinn so weit trieben, dass sie Jesus Ariertum andichteten. Und ohne die Kooperation der Kirchenämter wäre die jüdische Herkunft vieler Verfolgter nicht nachweisbar gewesen und unbekannt geblieben. So traurig es ist, aber der Fanatismus, unter dem wir – auch wir Ehefrauen jüdischer Männer – zu leiden hatten, wurde nicht nur von den pervertierten staatlichen, sondern auch von gewissenlosen und opportunistischen kirchlichen Institutionen mitgetragen.“
„Ich sitze in der Küche am Tisch,“ schrieb ich in mein blaues Heft, „die weißen Punkte auf dem roten Wachstuch springen mir in die Augen. Ein durchfettendes Zeitungspapier rollt sich von selbst auseinander und enthüllt einen Bückling. Aber das sonst so zarte Fleisch will zwischen den Zähnen nicht nachgeben, es ist zäh und fasrig. Etwas Fremdes hat sich dazwischen geschlichen, ich ziehe es aus dem Mund, ziehe und zerre, und als ich das lumpige Fetzchen auf den Tisch lege – hat es die Form von zwei verkehrt aufeinander gelegten Dreiecken.“
*
Henning kam zu mir auf Gegenbesuch. Vilma, die an Migräne litt, war zur Kur nach Bad Wildungen, Emil verbrachte wie üblich den Abend mit Zeitunglesen, Sumatrarauchen und Portweintrinken im Wohnzimmer. Direkt daneben, nur durch eine verglaste Schiebetür und einen Art-Déco-Vorhang getrennt, lag das Zimmer, in dem mein Gast und ich uns über Nacht aufhalten sollten. Wir hatten bis spät in der Nacht die Grünfeld-Variante studiert und ausprobiert, waren dann müde ins Bett gefallen und gleich eingeschlafen. Nach Mitternacht legte sich etwas auf Maltes Arm. Es war Hennings kalte Hand, sein Gesicht näherte sich im Halblicht dem meinen, und für einen Moment durchzuckte mich die Angst, mein Freund wolle mich küssen. Aber dann hörte ich Emils Stimme aus dem Wohnzimmer, der gedämpft, aber insistierend darauf bestand, dass alles nur ein „Missverständnis“ sei. Aber wem sagte er das? Telefonierte er? Der Tisch wurde gerückt, ein Stuhl fiel um, die Prothese des Vaters trat dumpf aufs Parkett.
„Das geht schon seit mindestens zehn Minuten so!“, flüsterte Henning. „Es ist eine Frau bei ihm!“ Es wurde ein Weilchen still.
„Nein, es ist gut! Es ist gut!“, hörte man plötzlich die Frauenstimme mehr zischen als sprechen, und kurz darauf wurde der Vorhang beiseite gerissen, die Schiebetür aufgeschoben, eine hochgewachsene Gestalt stürmte durch unser Schlafzimmer, warf das Rouleau empor, riss das Fenster auf, setzte ein Knie auf die Fensterbank, schwang das andere Bein hinaus, das Rouleau fiel herab, man hörte Schritte sich schnell entfernen.
„Wer war das?“, fragte Henning.
„Keine Ahnung,“ murmelte ich. Henning zog sich die Decke über die Schultern.
„Ist ja richtig lebendig hier! Bitte mach das Fenster zu, es wird kalt.“
Ich spähte hinaus, als ich das Fenster schloss, aber die Straße lag still und verlassen im kalten Neonlicht der Röhren an den Peitschenmasten.
Emil kam aus dem Bad hereingekrückt, bereits im Nachthemd, aus dem der Stumpf kläglich herabbaumelte, und sagte: „Tut mir leid. Aber es war nichts von Bedeutung. Völlig bedeutungslos. Macht euch keine Gedanken. Schlaft weiter!“
Tags darauf kam ich von der Schule ins leere Haus. Scheu sah ich ins Wohnzimmer mit dem Schreibtisch, den Bücherschränken und dem Clubsessel auf dem grauschwarz gerauteten Teppich, ob es Spuren des nächtlichen Zerwürfnisses gäbe, das mir so unwirklich vorkam, dass ich versucht gewesen wäre, es für einen Alptraum zu halten, wenn Henning es nicht in der Schule kopfschüttelnd bestätigt hätte. Aber es war alles aufgeräumt und wie sonst, die Portweinflasche stand neben der Kiste mit Sumatra-Zigarren auf dem rollbaren, mit Solnhofener Schieferkacheln eingelegten Rauchtisch. Doch dann schaute mich aus dem Papierkorb ein mehrfach geknifftes, jetzt entfaltetes Blatt an, das mir bekannt vorkam. Ich zog es heraus. Es stand ein Gedicht darauf, dessen letzte Zeilen lauteten:
„Schlohweiß entsteigst du, Nixe, schwarzem Teich,
behängt mit Algen nur und Krötenlaich.“
*
In den folgenden Wochen war ich häufiger auf dem gepflegten englischen Rasen der Ohlsen-Villa am Kanal anzutreffen. Alice erwies sich als eine amüsante und amüsierte Spielpartnerin, die nichts mehr liebte, als wegzuschlagen und weggeschlagen zu werden. Dieses zentrale Recht des Krocketspielers, eine gegnerische Kugel, die er angeschossen hat, in die fernere Umgebung hinauszuschmettern, indem er gegen die eigene, davor gelagerte und mit dem Fuß gehaltene, schlägt, nannte Alice croquieren, ich hingegen krockettieren. Hierüber stritten wir uns so lange zuerst im Spaß, dann im Ernst, bis wir unter einer Trauerweide beschlossen, unseren Streit mit einem Kuss zu beenden; und dieses von Alice erstaunlich feucht und langwierig ausgeführte Mundmanöver, bei dem sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, die Zunge zwischen den Zähnen hervorzustrecken, besiegelte unsere von Tag zu Tag zärtlicher werdende Freundschaft, die freilich die Grenze des sittlich Gebotenen nie überschritt. „Lass sie uns meiden, die Wonnen der Gewöhnlichkeit!“, hatten wir einander, aus Tonio Kröger zitierend, den wir gerade gelesen hatten, eines Nachts versprochen, als unsere Münder gar nicht wieder auseinander fanden unter der Trauerweide, während die Lichterketten eines großen russischen Frachters lautlos vorüberglitten.
Wir lasen den Briefwechsel von Abälard und Héloise, fragten uns schaudernd, was Héloise wohl gemeint hatte, als sie ihren Geliebten bat: „Lass mich deine Hure sein!“ Wir lasen Stolz und Vorurteil von Englands weiblichem Shakespeare und Sturmhöhe von der dämonischen Emily Bronté, lasen Krieg und Frieden von Tolstoi, ich wurde Bolkonsky und Alice wurde Natascha und sagte: „O, was für ein Glück, den Geliebten so aufopferungsvoll pflegen zu dürfen!“ – und für uns war es eine wohltuende Erfahrung, dass zwischen Junge und Mädchen, Mann und Frau geistiger Austausch und gegenseitige Anregung möglich war. Ich hatte die Liebe nur als einseitige Anbetung kennengelernt, hatte mich verausgabt, ohne je eine Reaktion zu erhalten, ich war völlig ausgedörrt, und nun erfüllte sich mein Seelenleben wieder mit Neuem und Bedeutendem. Alice schrieb bessere Zensuren und trat selbstbewusster auf, sogar ihre Neurodermitis ging zurück, ihre oft so glasigen Augen konnten jetzt richtig funkeln, sie zwirbelte sich Löckchen in ihr unansehnliches Haar und wurde Klassensprecherin. Ich ging zwar immer noch mit Henning im Pausenkreis, aber es war Alice, der ich begegnen wollte, während die fischige Helche mich völlig kalt ließ. Ihr Vater war trotz des milden staatsanwaltlichen Plädoyers verurteilt worden und in die nächste Instanz gegangen. Was ihm zur Last gelegt wurde, interessierte mich nicht mehr; in der Nacht des Henningbesuchs war ich doppelt verraten worden: Von Helche und von meinem Vater. Beide fielen meiner hasserfüllten Verachtung anheim.
Petri, der neue Schuldirektor, war ein wahrer Menschenfischer. Er las mit uns Strindbergs Traumspiel, Brechts Kaukasischen Kreidekreis, Sartres Fliegen und Osbornes Blick zurück im Zorn, und wir lasen diese Werke nicht nur, wir führten sie auch auf, was zu einem Sturm der Entrüstung unter den Eltern führte. In meiner Klasse unterrichtete er leider nicht, sie blieb Studienrat Möller überlassen, einem grauen Verfechter der Inneren Emigration, wir mussten uns mit Texten von Wiechert, Carossa und Bergengruen begnügen und den langweiligen Begründungen dafür lauschen, warum Thomas Mann Deutschland „verraten“ habe, als er ins Ausland ging. „Was – bis auf ein paar Widerstandskämpfer – gab es in diesem Deutschland denn, das nicht förmlich danach schrie, verraten zu werden?“, fragte ihn Henning und kassierte dafür eine Fünf im nächsten Aufsatz. In den Pausengesprächen kursierte der Ausspruch, „auch Möller könnte eine Tür vertragen“; eine Auffassung, die ich nicht teilte. Studienrat Dr. Kruse war durch das auf ihn verübte Attentat in seinen Vorurteilen eher gefestigt worden. So wurde berichtet, er habe die Relegierten als „bolschewistische Halunken“ bezeichnet.
Am langweiligsten waren jedoch die Stadttheaterbesuche, die Möller uns verordnete – als Ausgleich dafür, dass er mit uns keine Stücke aufführte. Einmal mussten wir uns eine plüschige und von Blechhelmen rasselnde Johanna von Orléans anschauen (Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe, die Petri in seiner Klasse las, wäre uns lieber gewesen). In der Pause schlug Henning vor, einen Ausflug an den Hafen zu unternehmen, um sich so dem langweiligen Absitzen der restlichen Akte zu entziehen. Vier Jungen, auch ich, waren sofort bereit, und erstaunlicherweise schloss sich auch Alice an. Wir landeten in einem Etablissement mit dem vielversprechenden Namen Peppermint-Bar. Henning machte uns darauf aufmerksam, dass auf dem Schild am Eingang zwar honette Preise standen, aber mit der winzigen Anmerkung: „Ohne Musik“. Musik jedoch war immer, das hörte man schon von draußen.
Als ich mich ans Halbdunkel, den Tabakrauch und das aufreizend jaulende Genäsel einer Hammondorgel gewöhnt hatte, nahm ich vor allem eines wahr: Alice beobachtete mit unverhohlener, förmlich gieriger Neugier, wie die Mädchen, die hier arbeiteten, mit Gästen anbandelten, indem sie mit ihnen tanzten, sich auf ihre Knie setzten, ihr Gesicht in ihrem Schoß vergruben, mit ihnen aus einem Glas tranken und eine gemeinsame Zigarette rauchten – bis sie sie so weit hatten, dass sie mitkamen – die Treppe an der grün lasierten Wand hinauf, wo eine Tür ins Hausinnere führte. Das erinnerte mich daran, wie ich als dummer kleiner Kalendertaschenträger von Harald bei einer Brause im Wintergarten sitzen gelassen wurde. War ich inzwischen klüger geworden? Alice machte mir Mut, mit ihr zu tanzen – es war ohnehin nur ein Herumgeschiebe auf der winzigen Tanzfläche – ich tanzte mit ihr oder vielmehr ahmte nach, was ich für Tanzen hielt, Alice wurde vom Personal misstrauisch, von einigen Gästen höhnisch beäugt, was sie verlegen machte, aber ihre Wangen glühten. Als wir an unseren Platz zurückkehrten, kam ein bulliger Werftarbeiter in Blauzeug, der hier wohl gerade seinen Wochenlohn verjubelte, schlug Alice mit der flachen Hand auf den Hintern und resümierte: „So rech nix drin inne Büx!“
„Ich bitte Sie!“, protestierte ich, aber der Kumpel erwiderte: „Bitt mich lieber um nix. Bist du nich der Sohn von Staatsanwalt Ossenblom? Der bist du doch! Mit dem hab ich noch ne Rechnung offen! Sag ihm n schönen Gruß von mir!“
„Dafür müssten Sie mir Ihren Namen sagen,“ erwiderte ich kalt. Der Kumpel grinste höhnisch.
„Trallenkieker! Grüß ihn vom Trallenkieker!“
„Lass uns gehen!“, raunte Alice und bezahlte ungerührt die überhöhte Rechnung. Wir verdrückten uns aus dem Schuppen, die anderen schlossen sich an, weil es an der Zeit war, zu Schillers rasselnden Blechhelmen zurückzukehren. Unser Fernbleiben war Möller, der während der Aufführung von Klassikern, die er auswendig kannte, regelmäßig einschlief, nicht aufgefallen.
„Ich bring dich nach Hause, schönes Fräulein!“, bot ich Alice an, die noch mit der Nachtlinie der Straßenbahn an den Kanal hinausfahren musste. Sie erwiderte:
„Bin weder Fräulein, weder schön,/ kann ungeleitet nach Hause gehn!“
Aber dann lag sie doch so weich in meinem Arm, der alte Straßenbahnkasten rumpelte über Weichen und rüttelte uns noch enger zusammen, wir wurden stumm vor Zärtlichkeit füreinander. Ich begleitete sie zur Villa, wo sie aber nicht gleich hinein- und schlafen gehen mochte. Die letzte Bahn zurück war jetzt sowieso weg, was ihr einen Grund lieferte, bei mir auszuharren. „Weißt du, woran ich immer habe denken müssen in der Peppermint-Bar? An das Wort von Héloise ‚Lass mich deine Hure sein’ …“
„Ich habe nie verstanden, warum sie sich so erniedrigt,“ erwiderte ich. „Ich habe an etwas ganz anderes denken müssen, an die Worte des einzigen inneren Emigranten, den ich zu achten vermag: ‚Zwei Welten steh’n in Spiel und Widerstreben,/allein der Mensch ist nieder, wenn er schwankt,/er kann vom Widerspruch nicht leben,/obwohl er sich dem Widerspruch verdankt.’“
Wir standen unter der Trauerweide, unter der wir uns zum ersten Mal geküsst hatten, Alice hatte sich rücklings an mich gelehnt, wir schauten über den dunklen Kanal. „Lass mich deine Hure sein!“, raunte Alice inbrünstig und presste sich an mich. Nun brach auch bei mir der Damm, und schon nach wenigen Minuten hauchte Alice zu meinem Entzücken und mit zärtlich glucksender Begeisterung die Worte, mit denen sie von Dr. Kruse so oft gequält worden war.
*
„Weißt du eigentlich, dass du genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen bist?“, fragte Alice, als wir einmal miteinander am Kanal entlang radelten. Ich wartete, was sie mir erzählen wollte. „Ich sollte eigentlich wegen meiner Neurodermitis verschickt werden. Dann hätten wir uns wohl kaum oder erst sehr viel später kennen gelernt. Ich sollte ein Vierteljahr in Kur fahren.“
„Und wohin?“
„Ans Tote Meer!“
„Das soll gut sein?“
„Ja. Die Sonne, der hohe Salzgehalt des Wassers … Hast du nie davon gehört? Das Wasser ist so dickflüssig von Salz, dass man darin auf dem Rücken schwimmend Zeitung lesen kann!“
„Und warum bist du nicht gefahren?“
„Du warst mein Totes Meer!“
Wir legten eine Wolldecke aus, Alice hatte einen Picknickkorb vorbereitet mit wunderhübschen Schüsselchen, Tellerchen und Tässchen aus blaugrundigem Wedgwood mit Laubdekor. „Von meiner Großmutter,“ sagte sie. „Sie war Engländerin, und ich heiße nach ihr.“ Riesige Frachter glitten vorüber. Wir sahen einander an. Wir hatten die Backen voll. „Schluck schnell runter,“ sagte Alice. „Ich will, dass du mich küsst.“
*
Herr Möller erkrankte an der Leber, Herr Petri vertrat ihn und las mit meiner Klasse Büchners Woyzeck, wir beschäftigten uns mit dessen Leben und dann mit dem des Namenspatrons der Schule, des Sylters Uwe Jens Lornsen, der ein knappes Jahr nach Büchner ebenfalls in der Schweiz gestorben war, allerdings durch Selbstmord im Genfer See und nicht an Typhus in Zürich. „Stellt euch vor,“ zündelte Petri, „man hätte Lornsen, der nach Brasilien geflohen war vor den Häschern der Reaktion, man hätte ihm den Hessischen Landboten Büchners zukommen lassen – wie begeistert wäre er gewesen! Er, der den Deutschen immer wieder vorwarf, in Erbsenzählerei zu versinken, hier hätte er den Atem des wahren Revolutionärs verspürt, wäre bereits 1836 von Brasilien zu Schiff los – und hätte sich mit ihm, der ebenfalls von der deutschen Polizei gesucht wurde, in Zürich getroffen! Natürlich klammheimlich! Was wäre wohl aus dieser Begegnung entstanden? Wie hätte Büchner das Schicksal des mehr als zwanzig Jahre Älteren in Szenen zu fassen gewusst – seine Krankheit, seinen Wahnsinn, seinen hoffnungslosen Patriotismus, die Liebe zu seiner Schwester – was für ein Material! Warum nur bin ich beamteter Pädagoge geworden und nicht freier Schriftsteller? Jetzt habe ich ein festes Gehalt und eine gesicherte Zukunft – aber was ist das wert, wenn diese Zukunft eine leere Einbahnstraße in die Pensionierung, ins Verschwinden in der Namenlosigkeit ist?“ Er warf die Tafelkreide hasserfüllt auf den Boden und sank vernichtet auf einen Schemel.
Georg Büchner schreibt ein Stück über Uwe Jens Lornsen, unter diesem Arbeitstitel begann die Klasse mit Feuereifer Szenen zu entwerfen, die auf der Bühne in der Aula, über der das Negativ einer längst entfernten Swastika auf der Wand noch menetekelte, geprobt und verbessert wurden. Wie Erkel, Lornsens Schwester, bereits von Wahnsinn gezeichnet, am Spülsaum bei List ein Kleiderbündel findet und es für ihren ertrunkenen Bruder hält … Wie Lornsen den Homöopathen Pêchier aufsucht und ihn anfleht, ihm zu helfen … Wie er in einer Kirche den Kelch nimmt – und dann kriecht die Angst in ihm hoch, dass er alle mit seiner Flechtenkrankheit infiziert hat … Wie er sich zuerst die Pulse aufritzt, dann ins eiskalte Wasser geht und sich mit der Pistole ins Herz schießt … Wie der Vater von seinem Tod hört und ihm den Nachruf widmet:
„Selbstherrlich warf er ab des Lebens Joch –
was er litt, möcht’ ich keinem gönnen.
Schade ist es doch –
es hätte immer noch
was Ordentliches aus ihm werden können.“
Die Reime hatte ich eingearbeitet und hatte dafür das Heft ausgegraben, in dem ich über die in meinen sonnets an Helche benutzten Reime Buch geführt hatte; es war dem Autodafé meiner gesammelten Dichtungen entgangen. Petri war der Meinung, man müsse gerade das Empörerische auf eine Weise fassen, dass es wie in Erz gegossen wirke. Henning von Testorff spielte den Vater, der sich einmal als dänischer König verkleidet, ich spielte den Lornsen, und Alice Ohlsen als Erkel war so erschütternd, dass der Zuschauerraum weiß von Tempos war wie ein Margeritenfeld.
Fünftes Kapitel
Emil hatte die Planstelle durch den Federstrich eines Beamten der Justizverwaltung ergattert, seine eigentliche Heimat war das Ruhrgebiet. Durch einen Bergschaden hatte sich die Notwendigkeit ergeben, im Wohn- und im Schlafzimmer seines Elternhauses eine Treppe einzufügen, und die Unterhöhltheit des Bodes, das stille, ferne und gefährdete Wirken der Männer, auch seines Vaters, tief unten in Schacht und Stollen der Zeche Friederika hatte sein Lebensgefühl geprägt, die meeroffene Stadt erschien ihm flach und zweidimensional. Vilma hingegen war in einer Hansehafenstadt aufgewachsen, in der es nach senatorenhafter Behaglichkeit, nach Tradition, Fisch, Bordeaux in Eichenfässern und kaufmännischem Stolz roch. Ihre Heimatstadt erschien ihr aber eher von der gründerzeitlichen Hektik und Fiebrigkeit erfüllt, durch die sie groß geworden war, ihr war die Poesie des langsam und verlässlich Gewachsenen abhanden gekommen, trotzdem sehnte sie sich Zeit Lebens nach Hause zurück, obgleich der Krieg in der Hansestadt kaum einen Stein auf dem anderen gelassen hatte.
‚Eigentlich gehöre ich gar nicht hierher,’ dachte ich oft. ‚Ich bin vom Herkommen her ein Ruhrpott-Hansestadt-Zwitter, ein bloßer bürokratischer Zufall hat mich wie einen schiffbrüchigen Robinson in dieser gesichtslosen Garnisonsstadt an Land geworfen. Aber wo sind meine Wurzeln?’ Um so erfreuter, ja, fast andächtig nahm ich die viel tiefere Verankerung von Alice zur Kenntnis. Ihre englische Großmutter hatte einen altansässigen von Ahlefeld geehelicht, nach dem sogar eine Straße hieß; er hatte sich mit der Wiederbelebung des Umschlags einen Namen gemacht, eines Termins im Januar, zu dem sich alljährlich unverabredet Kaufleute und Magnaten in der Stadt vornehmlich zu Kreditgeschäften getroffen hatten und der sich alsbald zum Volksfest mit Karussells und Schmalzgebackenem auswuchs. Das in edelstem, fast fadem Klassizismus aufgeführte Gutshaus dieses Großvaters erschien mir als vergangenheitsgesättigtes manor-house aus einem Roman von Jane Austen. Ich besuchte es mit Alice, die dort ihren Cousin Ludbert begrüßte, im Familienkreis „der Sofahocker“ genannt auf Grund der faulen Unbeweglichkeit, mit der er, vorm Fernseher kauernd und Chips in Unmengen vertilgend, darauf wartete, endlich über ein Erbe verfügen zu dürfen, das er umgehend am Travemünder Roulettetisch zu verdoppeln gedachte.
„Du solltest hier Hausherrin sein!“, sagte ich schmeichelnd, „du könntest diese Herrlichkeit mit einer Seele füllen und als erstes die widerlichen Trophäen herausreißen, mottenzerfressene Löwenköpfe und Staubfänger von Elchgeweihen …“ Alice aber glaubte nicht, dass sie sich dafür eignen würde:
„Das Erbgut meiner ritterlichen Vorfahren ist an mir vorbeigeflutscht!“, sagte sie mit komischem Bedauern. „Repräsentieren liegt mir nicht, über den Posten der Klassensprecherin werde ich nie hinausgelangen. Lieber als in diesem Manderley möchte ich in einer der Soldatenwohnungen leben mit Klo auf halber Treppe, von denen es Tausende gibt. Vielleicht würde man dort noch den Pulverdampf der Novemberrevolution schnuppern, mit der hier wackere Matrosen die Männerabschlachtorgie, genannt Erster Weltkrieg, zu Ende gebracht haben!“
Dennoch führte mich Alice auch dorthin, wo einst das Stadtschloss gestanden hatte, in dem ein später ruchlos Ermordeter seinen ersten Schrei getan hatte, jener unglaubliche Zar, der Frieden mit Friedrich II. geschlossen und dadurch Preußen vor dem Untergang bewahrt hatte. „Es ist gut, dass wir uns immer vorsehen, wenn wir zusammen sind,“ sagte Alice. „Aber wenn ich doch einmal schwanger werden sollte, glaub nur nicht, dass ich es wegmache.“ Das sagte sie mit so ruhiger Überzeugtheit, dass ich mich unwillkürlich ein wenig beugte, als gälte es, eine unerwartete Last zu schultern. Alice lächelte und stupste mich mit der Schulter. „Nur keine Sorge,“ sagte sie, „ich mach es auch alleine groß!“
Der alte Zentralbau der Stadt war Luftminen zum Opfer gefallen, die eigentlich der Werft Mennig & Kliet und den auf Reede liegenden Kriegsschiffen gegolten hatten. Ähnlich war es der alten Universität ergangen, so dass nach dem Krieg in den Gebäuden einer ehemaligen Pulverfabrik gelehrt, geforscht und studiert werden musste. Alice und ich standen vor dem Trümmerhaufen, der von einem Adelshof aus dem 18. Jahrhundert geblieben war und der gerade weggeräumt und mit schweren Lkw abgefahren wurde, und betrauerten den Verlust der würdevollen Häuser am Alten Markt mit ihren dichten Fensterzeilen, die der Stadt, stünden sie noch, wenigstens einen Hauch von Fernhandelseleganz verliehen hätten. So aber waren an die Stelle des ohnehin wenigen Alten überall die Klötze und Betonboulevards des Wirtschaftswunders getreten und hatten eine Stadt geformt, die nur im Sommer, wenn auf der Förde Segel wie Lilien erblühten und bunte Spinnaker wie Papageien sich blähten, ein wenig Schönheit zurückgewann. Freilich tauchten auch die grauen und kaum wahrnehmbaren Ungetüme wieder auf, die der Krieg mit der See erzeugt, lagen unscheinbar wie gestrandete Wale in Docks oder zeigten die aggressiven Penisse ihrer Lafetten.
„Warum ist eigentlich der Krieg als Mittel der Politik ein, wie es scheint, völlig unausrottbarer Missstand?“, wollte Alice von mir wissen, als wir ein solches Monstrum ausmachten, das mit lauernder Friedfertigkeit am Kai wippte.
„Ich fürchte, aus einem ganz einfachen Grund,“ erwiderte ich. „Krieg macht Spaß. Seine Vorbereitung bringt Geld und schafft Arbeitsplätze. Wenn er dann ausbricht – wie ein Vulkan!, gerade als ob es nicht Menschen wären, die ihn machten! – dann produziert er zwar unendliches Leid, aber zugleich sättigt er auch den Schicksalshunger der Menschen, die sich in Friedenszeiten bei der Erledigung immer gleicher Alltagsroutinen langweilen und es genießen, wenn Angst und Schrecken, Hunger, Frieren und Sterben an ihre Stelle treten – und nicht nur Leid, sondern auch Gesprächsthemen schaffen! Der trojanische Krieg hat drei Jahrtausende mit Gesprächsstoff versorgt – vom folgenden Frieden hingegen redet niemand. Hast nicht sogar du Friedliebende schon bedauert, nicht die Natascha eines schwerkriegsverletzten Bolkonsky zu sein? Ganz abgesehen mal von den Architekten, die nichts toller finden als Flächenbombardements! Endlich werden wieder zentral gelegene Bauplätze für wichtige und auch großformatige Projekte frei!“
„Du hast auf meine Frage geantwortet, aber beantwortet hast du sie nicht. Zynismus ist nie eine Antwort, sondern immer nur deren Vortäuschung. Aber wahrscheinlich hast du recht damit, dass die Natur des Menschen allein für den Frieden nicht gemacht ist. Auch ich streite mich ja gern mit meinen Schwestern, sie nennen mich schon Penthesilea, was sie freilich meist zu Penti verkürzen, worüber ich mich dann ärgere.“
Wir wanderten gemeinsam durch die liebliche Probstei, tranken selbstgepressten Apfelmost unter der Eiche eines Fachwerkhofes und lauschten respektvoll den Erläuterungen des Altbauern über den Verfall der Getreidepreise. Über dem Eingang hing eine tönerne Plakette, welche das Anwesen als Erbhof nach dem Reichserbhofgesetz auswies, und an einer Stelle war etwas weggemeißelt und weggekratzt.
Dann besuchten wir das Ehrenmal für die gefallenen oder ertrunkenen Matrosen, dessen respektlose Bezeichnung durch die Pennäler ich meiner Freundin mitzuteilen zögerte. Ein Onkel von ihr hatte als Kaleu ein U-Boot befehligt, das vor Grönland von amerikanischen Torpedos versenkt worden war – nachdem es seinerseits einige tausend Bruttoregistertonnen aufgebracht und im Zusammenhang damit wahrscheinlich Hunderte von Menschen dem nassen Tod überantwortet hatte. Onkel Vinzenz, sagte sie, habe die Haut um seine Augen wie eine Blende zusammenziehen können und habe das auf ihren Wunsch gerne immer wieder virtuos runzelnd vorgeführt. Der nach oben in gewaltiger Rundung sich verjüngende Turm des Mals sollte beim Betrachter positive Empfindungen, ja, vielleicht Hoffnungen religiöser Art auslösen, hatte der Architekt nach Auskunft eines Prospektes geplant. Ich empfand das Bauwerk in seiner leeren Monumentalität als den bedrückenden Versuch, das sinnlose Sterben vieler wackerer Männer zu heroisieren. Aber ich genoss den Rundblick von oben weit hinaus bis zu den dänischen Inseln, freilich musste man die Augen nahe genug an das Stahlgitter, das den todessüchtigen Sprung in die Tiefe verhindern sollte, heranbringen, um durch seine Maschen im Sichtgenuss nicht behindert zu werden. „Das war nun also der Gedenkständer,“ sagte Alice trocken, als wir wieder auf festem Boden standen. Ich umarmte sie kopfschüttelnd und lachend.
„Und ich hatte es für zu starken Tobak gehalten, dir diesen Ausdruck mitzuteilen.“
„Wohin würdest du deine Hochzeitsreise machen, wenn du sie mit mir machtest?“
„Keine Ahnung. Muss denn sowas sein?“
„Nein.“ Alice lachte. „Die Hochzeitsreise meiner Eltern führte ganz brav in Mutters Heimatstadt Birmingham, wo sie es genoss, in Männerkleidern meinen Vater durchs Rotlichtviertel zu begleiten. Ich würde gern mit dir ganz konventionell nach Venedig fahren.“
„Warum?“
„Es soll dort einen völlig unwirklichen Reichtum gegeben haben, der so extrem war, dass er sich selbst verachtete. Das gefällt mir. Nach einer Party im Palazzo Vendramin soll der Gastgeber, um das Abwaschen zu sparen, das massiv goldene Besteck in den Canale Grande haben kippen lassen … Es hat was Grandioses, oder?“
„Ich werde nicht schlau aus dir,“ sagte ich resigniert. „Einmal schwärmst du für die Armut roter Revoluzzer, dann berauschst du dich an solchen dekadenten Scherzen …“
„Liebst du mich?“
„Ja.“
„Das genügt. Schlau werden kannst du aus anderen!“
Sechstes Kapitel
Petri ließ es sich nicht nehmen, eine weitere Pionierleistung in puncto Erinnerungskultur zu vollbringen: Er bestimmte am traditionellen Wandertag einen Ort zu dessen Ziel, der von anderen eher gemieden und mit Schweigen umgeben wurde, einen jener vielen Orte des Grauens und der Schande, mit denen die Landkarte Deutschlands gesprenkelt ist. Birken und Kiefern hatten sich versät und in ein anmutiges Wäldchen verwandelt, was einmal ein Zwangsarbeiterlager war, in dem Hunderte von Russen, Polen, Franzosen, Belgiern und Holländern noch im letzten Kriegsjahr unter Bedingungen eine Rollbahn bauen mussten, mit denen verglichen die Arbeitsbedingungen der Arbeiter, die die Pyramiden Ägyptens zusammenkarrten, paradiesisch genannt werden dürfen. Nur die Fundamente der Baracken hatten sich erhalten, erkennbar war auch eine lange Reihe von Latrinen und eine Konstruktion, die einem schmaleren Fußballtor ähnelte: ein Galgen.
Petri rang nach Worten, stammelte zunächst Unverständliches und wurde dann deutlich: „Ungenügend oder gar nicht verpflegt, ungenügend bekleidet, ärztlich unbetreut, den Schikanen und sadistischen Launen von Männern preisgegeben, die zu Hause brave Familienväter sein mochten, hier aber unter dem Gesetz ihrer unumschränkten Herrschaft eine Grausamkeit zeigten, die ihre tiefinnere Unsicherheit und moralische Verwahrlosung enthüllte, wrackten sich an diesem Ort Hunderte unter unsäglichen Qualen zu Tode, wenn sie nicht durch bewussten Ungehorsam, Angriffe auf die Wachmannschaften oder Fluchtversuche die erlösende Kugel suchten. Und zur gleichen Zeit versuchte ich mit einem Fähnlein Hitlerjungen einen Krieg noch zu wenden, den zu gewinnen eine Katastrophe gewesen wäre, und schickte Vierzehnjährige in den Tod!“ Tränen traten ihm in die Augen, Mund und Kinnpartie zuckten.
‚Und wo bleiben meine Tränen?’, fragte ich mich. ‚Millionen von Toten, nicht zu reden vom Elend der Versteckten, Geflohenen, Entwurzelten, Entrechteten, nicht zu reden vom allerfurchtbarsten Überleben der Lager als halbentseeltes Bündel aus Haut und Knochen, das in aller Augen den vernichtenden Vorwurf las: Du musst Mitschuld auf dich geladen haben, sonst hättest du nicht überlebt! – nicht eine einzige Träne presst es meinen fühllosen Augen ab, nur Entsetzen, Fassungslosigkeit, Wut – und ich muss überlegen, was ich tun kann, um mich von diesem Alpdruck zu befreien. Mehrere Möglichkeiten bieten sich an: Ich kann einfach ins Horn der Uneinsichtigen und Ewiggestrigen tuten und das alles für einen Versuch der Alliierten halten, uns Deutsche nun auch moralisch zu vernichten. Ich kann den Plan fassen, auszuwandern, könnte in einer anderen nationalen Identität unterkriechen, mein Deutschtum ablegen, verdrängen, ja, leugnen, und um das vorzubereiten, könnte ich schon hier im Lande anglo-, franko- oder russophil werden. Ich kann jegliche Mitverantwortung ablehnen, alle Schuld der Elterngeneration zuschieben und sie aufs Klarste und Eindeutigste verurteilen. Ich kann meine Zuflucht in Entschuldigungen und Rechtfertigungen suchen, indem ich z.B. Verständnis für Antisemitismus entwickle und die Hauptschuld für ihren Untergang den Juden selbst anlaste. Ich kann die Wertordnung einfach umstülpen und mir sagen: Wir Deutschen waren schon immer die Größten – in der Philosophie (Kant, Hegel, Marx), in der Musik (Bach, Mozart, Beethoven), in der Kunst (Dürer, Caspar David Friedrich) – jetzt sind wir eben auch im Bösen die Größten geworden und haben den Rest der Welt mit einer alle Masse und Maßstäbe sprengenden Gräueltat für immer weit hinter und unter uns zurückgelassen! Und ich kann mich in einen Nihilismus flüchten, dem der Massenmord nur ein weiteres Indiz für die Bestialität des Menschen und die vollständige Sinnlosigkeit und Amoralität der menschlichen Existenz ist und etwa die These vertreten, der Massenmord an Juden, Zigeunern und Slawen müsse durch die Ermordung der gesamten Menschheit getoppt und zu Ende geführt werden – Endlösung der Menschenfrage und Erlösung des Planeten von einer Pestilenz, die ihn zu ersticken droht!
Die letzte Möglichkeit gefiel mir zeitweise am besten. Sie stritt nichts ab, sondern trat gleichsam die Flucht nach vorn an, musste nicht aufgeschoben werden wie die Auswanderung und reflektierte die sich mehrenden Äußerungen und Befürchtungen, die Übervölkerung der Erde betreffend. Zugleich entsprach sie in ihrer tiefschwarzen Glorifikation der Selbstvernichtung meiner Stimmungslage; ich errichtete in meiner Phantasie eine Gaskammer für Milliarden und ein Krematorium gleicher Kapazität, hockte wie ein Geier auf meinem rauchenden Werk, und, wenn die letzte Füllung verbrannt war, schoss ich mir eine Kugel durch den Kopf. Die Gräuel der Nazis schmolzen in dieser Vorstellungswelt auf dilettantisches Vorläufertum zusammen, das den Gedanken der Erlösung des Planeten von seinem bedrohlichsten Schädling noch nicht zu denken gewagt hatte.
„Ich betrete ein Hotel,“ schrieb ich in das blaue Heft, „man wird vorne prachtvoll und höflich empfangen, aber die Zimmer sind kläglich, ja, es gibt keine Zimmer, nur einen langen Saal, in dem Holzpritschen aufgeschlagen sind, in die die Gäste zu zweit, ja, zu dritt hineingepfercht werden. Ich muss mich damit anfreunden, in mittlerer Höhe untergebracht zu sein, neben einem Mann, der nur aus Haut und Knochen besteht. Aber als ich zu ihm unter die Decke krieche, ist er ganz glatt und rund und fasst sich wollüstig an, meine Hand gleitet über seinen Rücken und seine Glutäen. Aber er ist eiskalt, und ein Grauen beschleicht mich. Ich sehe in das Bett unter mir hinab – und dort liegen zwei schneeweiße Frauengestalten, die Augen leer und ohne Augenstern, die Münder sinnlich geschwollen, und pressen ihre gipsenen Brüste aneinander… ‚Bitte herhören! Bitte herhören!’ tönt es mit dröhnender Stimme aus einem Lautsprecher, ‚suchen Sie sich die Lage aus, in der Sie verbleiben möchten! Die Umwandlung beginnt in wenigen Minuten.’ Ich liege auf dem Rücken und betrachte meine Hände. Zu meinem unsäglichen Grauen verwandeln sie sich von den Fingerspitzen her in schneeweißen Gips! Ich versuche zu schreien, aber mein Mund bleibt stumm, es schreit in mir, aber kein Laut dringt aus mir heraus…“
Ich überlegte, wie es zu diesem Traum hatte kommen können. Wir hatten Platons „Phaidon“ gelesen und darin die Stelle: „Er aber ging umher, und als er merkte, dass ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken: denn so hatte es ihn der Mensch geheißen. Darauf berührte ihn eben dieser, der ihm das Gift gegeben hatte, von Zeit zu Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann drückte er ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle; er sagte: ‚Nein.’ Und darauf die Knie, und so ging er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn noch einmal und sagte, wenn ihm das bis ans Herz käme, dann würde er hin sein.“
Aber ich hatte auf dem Dachboden auch Hefte gefunden, in denen Gips- und Marmorplastiken abgebildet waren, sie hießen „Der Rächer“, „Berufung“, „Flora“, „Hoffnung“, „Vergeltung“, „Bereitschaft“ oder „Aurora“. Das war die Kunst der glorreichen zwölf Jahre gewesen: Ein leichenhafter, strotzend-moribunder Akademismuskitsch.
Siebentes Kapitel
Das Lornsen-Gymnasium bestand aus dem Haupt- und dem Nebengebäude sowie der Turnhalle. Während sich im Hauptgebäude die Klassenräume, das Lehrerzimmer, der Zeichensaal und die Aula befanden, waren die naturwissenschaftlichen Räume in einem später errichteten Nebengebäude untergebracht. Physik-, Chemie- und Biologiesaal verfügten über stark ansteigende Sitzreihen vergleichbar den Anatomietheatern, die es an alten medizinischen Fakultäten noch gibt. Den Chemiesaal schmückte die periodische Tafel der Elemente, unter denen ich mich, warum auch immer, von den seltenen Erden immer am meisten angezogen fühlte. Im Physikraum gab es einen großen Glasschrank mit stabilen Versuchsanordnungen z.B. für das Messen von Beschleunigungen oder die Erzeugung von Vacuen. Zierde des Biologiesaals aber war das Skelett eines zierlichen Menschen, unerkennbar ob Mann oder Frau, vom Schülerhumor aber schon vor Jahrzehnten als Skelett des geheimnisvoll verschollenen Schulpatrons Uwe Jens Lornsen gedeutet, der dem historischen Vernehmen nach jedoch ein hochgewachsener Friese war, während es sich bei dem zierlichen Knochengerüst wahrscheinlich um das eines unidentifizierten Toten, also unbekannten Soldaten aus dem Koreakrieg handelte. Im Hauptgebäude gab es einen Kartenraum, wo die Geografielehrer sich für ihre Stunden ausrüsteten – unter tunlichster Vermeidung des noch reichlich vorhandenen kartografischen Materials aus den glorreichen zwölf Jahren, die Deutschland zu einer perversen, es verzehrenden kurzfristigen allerhöchsten Machtentfaltung verholfen hatten. Ältere biologische Präparate in Formalin wie z.B. ein Fötus mit zwei Köpfen waren unter das Walmdach verbannt und bildeten dort eine Art von Gruselkabinett, das nur die wenigsten beim Transport von Gerümpel einmal kennengelernt hatten.
Ich sollte mich in der Biologiearbeit zur Osmose äußern, zur Zellteilung und zur Entwicklung bestimmter Einzeller. Mein hilfesuchender Blick zu Alice hinüber wurde bemerkt; sie schrieb mir ein Briefchen voll nützlicher Tipps und Hinweise, die sie mit Herzen und Kusskreuzchen ummalt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich mir eingestehen, dass ich wohl eine Eroberung gemacht hatte und dass Alice bis über die Ohren in mich verliebt war – ohne dass mir klar war, was sie an mir eigentlich liebenswert fand; ich fand mich bis auf die Knochen banal und hoffte nur, dass Alice meine Banalität nicht so bald erkannte. Während ich noch darüber und über die Tatsache nachgrübelte, dass ja auch der maskuline homo sapiens beim Liebesakt Tausende der Einzeller produziert, bei deren Anblick unterm Mikroskop mir schlecht geworden war, ertönte aus dem Chemiesaal plötzlich ein lauter Knall, dem tiefe Stille folgte. Dann erhob sich ein schrilles und blökendes Durcheinandergekreisch und –gebrüll vieler Stimmen, die Tür des Chemiesaals flog krachend auf und Rauch drang über den Flur schnell auch in den Biologiesaal ein.
„Schließt eure Hefte und verlasst den Raum, zügig, aber ohne Gedrängel, die Mädchen zuerst!“, befahl der Biologielehrer, derselbe, der einst den Weinschwärmer hatte fliegen lassen. Aus der offenstehenden Tür des Chemiesaals drang gelblichdichter Qualm, offenbar hatten ihn alle Schüler schon verlassen, und von draußen wurde das Heulen der Sirene hörbar. Da war mir, als ich die Tür passieren wollte, als hörte ich von drinnen ein Keuchen und kotzendes Husten. Ich hielt die Luft an, durchdrang die gelbe Rauchwand, fand drinnen in der ersten Reihe einen röchelnden Körper am Boden, zog ihn zwischen den Bänken hervor, hob ihn auf die hantelgestärkten Arme und trug ihn, nun selbst verzweifelt keuchend, hinaus. Draußen verlor ich das Bewusstsein und wurde samt meiner Beute von Rettungskräften aufgefangen.
Im Spital erfuhr ich, dass ich Helche Fohrmann aus dem Rauch geholt hatte. Als ich mich etwas erholt hatte, erwog ich, sie zu besuchen – sie lag nur ein paar Zimmer weiter. Aber ich verwarf diesen Plan, weil ich mich von ihr verraten fühlte. Als ich das Spital verließ, stand sie rauchend in der Eingangsschleuse. Blass und mitgenommen, wie sie noch war, sah sie wunderschön aus, sie trug einen graublauen Frotteemantel und hielt die Arme fröstelnd unterm Busen verschränkt, aber ich riss meine Augen von ihr los und eilte zu dem Taxi, das meine Eltern bestellt hatten. Am Abend rief sie mich an und sagte nach langem Zögern, sie wolle mir danken.
„Da nicht für,“ erwiderte ich landesüblich. Sie dankte mir auch für die „vielen schönen Gedichte“, die ich ihr geschrieben hätte.
„Und warum hast du sie neulich Nacht meinem Vater gezeigt?“
„Das habe ich nicht getan.“
„Ich habe doch eines im Papierkorb gefunden.“
„Es war stark zusammengefaltet, oder? Warum wohl? Denk doch mal nach!“ Sie begann zu weinen. „Ich habe es wie einen Talisman in meinem BH getragen. Aus dem ist es herausgefallen, als …“ Sie konnte nicht weitersprechen und legte auf.
Ich besuchte sie im Spital. Ihr Zimmer hieß Innsbruck, das war mein Geburtsort. Ich war auf die Welt gekommen, als es noch gar nicht an der Zeit war, meine Mutter war auf Reisen gewesen, und nun lag Helche, die ich gerettet hatte, im Zimmer Innsbruck. Obgleich ich nicht abergläubisch war, wunderte ich mich über diesen Zufall. Der andere war der, dass sie genau das eine Jahr älter war, um das auch meine stillborn Schwester älter gewesen wäre, wenn sie überlebt hätte. Ja, es war eine Geschwisterlichkeit zwischen uns, die dadurch, dass sie keine wirkliche war, nur noch gesteigert wurde. Ich saß an ihrem Bett, sie bat mich, ihre Hand zu ergreifen, und da lag sie nun in meiner, diese lange Hand mit den Grübchen über den Fingergrundgelenken, die mich einmal so entzückt hatten. „Und weißt du auch noch, warum ich die Hand gestreckt habe? Ich wollte meiner Freundin den neuen Ring mit dem Karneol zeigen, den ich von meinem Vater bekommen hatte.“
„Was – ach ja – nein! War da ein Ring?“
Helche lächelte gerührt. Die Grübchen über ihren Fingergrundgelenken hatten den Ring in den Schatten gestellt. Mir fiel jetzt wieder ein, wie betreten wir auseinander gegangen waren, nachdem es bei den Artisten auf dem Hochseil fast zu einem Unfall gekommen war. Aber in mir hatte Helches Hand geherrscht und sonst nichts. Ich erzählte ihr, wie ich damals davon geträumt hatte, ihre Hand einmal zu küssen. „Tu es doch!“, murmelte sie tonlos, „küss dich satt daran!“ Die Hand roch süßlich nach glycerinhaltiger Hautcrème, aber das störte mich nicht. Und es störte mich nicht, dass neben den Fingernägeln blutige Stellen waren von abgerissenen Niednägeln. Ich war krank vor Zärtlichkeit für diese geknickte und beschädigte Lilie, die ich einem vorzeitigen Tod entrissen hatte. „Warum hast du das getan?“, wollte sie wissen. Ich überlegte, ob ich ihr die Wahrheit zumuten sollte. Ich fasste mir ein Herz.
„Ich habe dich nicht erkannt,“ sagte ich. Sie entzog mir die Hand und wandte sich ab. „Damit wirst du leben müssen,“ sagte ich und stand auf. „Ich habe dir Dutzende von sonnets geschickt, und du hast nicht einmal reagiert. Willst du mir etwa vorwerfen, ich hätte dich leichtfertig für hochnäsig gehalten?“
„Ich habe keins von ihnen vergessen.“
„Ich will doch nichts, als dass du mein gedenkst …“ zitierte ich mich selbst, um sie zu testen. Ich hatte die sonnets zwar verbrannt, aber keines von ihnen vergessen.
„Gelegentlich, wenn du nach innen schaust, /Die Schritte deiner Seele zu mir lenkst, /Und dich an meiner Lieb’ und Treu’ erbaust …“ Es zeigte sich, dass sie das gesamte sonnet auswendig konnte. Ich war so gerührt, dass ich ihr den Mund mit einem Kuss schloss. Trotzdem gelang es ihr fortzufahren:
„Ich will doch nichts, als dass dein durst’ger Sinn /Am Wohllaut meines Verses sich erquickt /Und dass sich an den Worten, die ich bin, /Dein ausgehungertes Gefühl entzückt.“
Eine Krankenschwester kam herein, weshalb wir unseren Kuss als flüchtiges Abschiedsküsschen tarnten, ich ging hinaus, kaum meiner Sinne mächtig, sprang in die Luft, als ich unter den abblätternden Kastanien einherging, rollte auf einer der lackbraunen Früchte aus, saß lachend mit schmerzenden Handgelenken am Boden, sog den Duft des welken Laubes ein und hatte das Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein.
*
„Woher wusstest du, dass mein Gefühl ausgehungert war?“, fragte Helche mich am Abend telefonisch. „Ich fand das, offen gestanden, ein bisschen selbstherrlich. Hätte ich nicht durchaus einen Freund haben können?“
„Harald?“, krächzte ich mit belegter Stimme ins Telefon.
„Was für ein Harald? Ach, Harald Hirsebeck, dieser Lackaffe … Meinst du, so einer gefällt mir? Er ist ein halbes Jahr hinter mir hergedackelt und hat mich mit seinen Schmalzaugen angeschmachtet, dann hab ich ihm gesagt, ich sei schon versichert – da hat er’s aufgegeben.“
„Er hat immerhin zu denen gehört, die Dr. Kruse eine Lektion erteilt haben.“
„Fandest du das etwa gut? Wenn wir Türen auf alle Dummköpfe werfen wollten, hätten wir viel zu tun. Aber ganz etwas anderes. Ich werde morgen entlassen. Wo sehen wir uns dann?“
„Bei mir. Oder bei dir.“
„Du bist vielleicht naiv! Bei mir geht nicht. Mein Vater will nicht, dass ich Besuch empfange, und schon gar nicht den Sohn eines Mannes, der ihn angeklagt und als Verbrecher gegen die Menschlichkeit gebrandmarkt hat. Und bei dir … Ich hoffe, du verstehst, dass ich nach dem Zwischenfall mit deinem Vater euer Haus nicht wieder betreten möchte.“
Ich gab Helche innerlich recht: Ich war naiv. Was war in jener Nacht passiert? Dass Helche zu Emil gekommen war, um für ihren Vater zu bitten, war sonnenklar. Dass Emil diese Situation ausgenutzt hatte, um, ein anderer Scarpia, Gunstbeweise von ihr zu erpressen, war ebenfalls klar. Wie weit war sie, wie weit war er gegangen? „Es ist gut, es ist gut!“, hatte Helche mehrmals mehr gezischt als gesagt, das klang nach „Genug, mehr gibt’s nicht!“ Ich kam mir kleinlich vor, als ich merkte, wie genau ich es gern gewusst hätte. Immerhin hatte sie das zusammengefaltete sonnet von mir aus dem BH verloren. Beschämt gestand ich mir ein, dass ich so viel, wie sie für ihren Vater zu riskieren bereit gewesen war, weder für Emil noch für Vilma riskiert hätte. Aber dann wurde mir klar, der Vergleich war schief; ein Mann, der bitten ging, lief sehr viel weniger Gefahr, Objekt der Begierde zu werden als eine Frau, und kam wohl auch kaum in Versuchung, sich selbst als solches anzubieten.
Wir verabredeten uns im Café Siedler an der Schlossstraße, feierten im ersten Stock ihre Gesundung und besiegelten unsere Freundschaft mit einem gemeinsamen Stück Trümmertorte. Wir taten unbefangen, aber ich merkte an Helches gespannter Aufmerksamkeit, dass sie nur ungern bekannte Gesichter gesehen hätte. Beim Annehmen des Tortentellers bewegte sie sich so fahrig, dass sie die Tischkerze umstieß und aufschrie. „Ein Bunsenbrenner fiel um, es gab eine Verpuffung und der ganze Chemietisch stand in Flammen.“ Die Erinnerung ließ sie erzittern. „Weißt du übrigens, dass sie wegen Brandstiftung ermitteln?“ Ich wusste es nicht. „Und weißt du auch, wen sie verdächtigen? Man kann es sich an fünf Fingern abzählen.“ Sie machte es vor, und es sah makaber aus mit ihren abgerissenen Niednägeln. „Die sechs Relegierten natürlich, unter ihnen als Drahtzieher Harald Hirsebeck. Sie sollen den Tisch präpariert haben.“ Ich versuchte, ihr zuzuhören. Aber ihr Fuß lag zwischen meinen Beinen und machte sich dort zu schaffen. Ihre Frivolität am öffentlichen Ort betörte mich, und es war mir herzlich egal, ob der Tisch des Chemiesaals präpariert gewesen war oder nicht.
Achtes Kapitel
„Was ist mit dir? Nie mehr hast du Zeit für mich!“, sagte Alice traurig, als ich sie einmal zur Straßenbahn brachte. „Erzähl mir nichts von Cicero und Stochastik! Du bist mir vielleicht eine treulose Tomate! Du hast dich in Helche Lohmann verliebt, als du sie aus dem Rauch trugst. Ich kann das verstehen, stell dir vor, ich kann es verstehen! Aber nimm dich in Acht! Ich glaube nicht, dass sie es ehrlich mit dir meint!“ Tränen quollen aus Alices glasigen Kulleraugen, stolz und zornig wandte sie sich ab. Wir standen noch eine Weile stumm da und wussten nichts mehr zu sagen. Dann kam die Bahn. Freilich konnten wir einander nicht aus dem Weg gehen, da wir derselben Klasse angehörten. Betrübt, aber hilflos beobachtete ich, dass Alice wieder wurde wie früher – scheu, gehemmt und mit blutig gekratzten Waden.
‚Was kann ich dafür, dass ich Helche liebe?’, rechtfertigte ich mich vor mir selbst, als ich eines Nachmittags im Liliencronpark vor den Tennisplätzen stand und nur wenig interessiert einen Ballwechsel zwischen Petri, der einen verschlissenen Trainingsanzug trug, und einem jungen Schnösel in blitzweißem Tennisdress verfolgte. ‚Ist meine Liebe für Helche nicht älter als die für Alice? War sie nicht nur – auf Grund eines Missverständnisses – einige Monate, ja, fast ein Jahr auf Eis gelegt? Und ich habe wirklich nicht gewusst, wen ich rettete, als ich in den Chemiesaal eindrang! Wer weiß, ob ich’s getan hätte, hätte ich Helches Stimme erkannt! Aber wenn sie dann jetzt tot wäre – ich würde meines Lebens nicht mehr froh. Selbst wenn ihr Vater ein Verbrecher ist und sie sich, um ihm zu helfen, Emil gegenüber allzu freizügig verhalten hat – sie wäre keine Verbrecherin, sondern nur eine opfermütige Tochter! Was können wir für das Grauen, das unsere Väter und Mütter angerichtet, geduldet, mitgetragen, verteidigt und nach allen Richtungen in Europa und über Europa hinaus ausgebreitet haben? Und was weiß ich über Alices Herkunft? Die Ohlsens haben viel Geld, weil der Vater Chemiker ist. Wagt man denn überhaupt nachzufragen, was er womöglich in den glorreichen zwölf Jahren produziert hat?’ Erfreut sah ich, dass Petri dabei war, dem jungen Schnösel, der ihn völlig unterschätzt hatte, eine Tennislektion zu erteilen.
‚Bin ich denn als Mann,’ überlegte ich weiter, ein Stück Bitterschokolade lutschend, ‚zur Untreue überhaupt fähig? Treulos wäre es, sich gleichzeitig zwei Mädchen zuzuwenden und das eine mit dem anderen zu betrügen. Aber ich betrüge Alice nicht mit Helche, sondern wende mich dieser mit allen Sinnen und Fasern zu und von Alice ab – so wie ich mich damals von Helche ab- und Alice zuwandte. Die Natur hat es so eingerichtet, dass Mann und Frau sich jeweils nur mit einem Partner zur Zeit vereinigen – also hat sie im Grunde der Untreue von vornherein das Fundament entzogen. Den Augenblick des Genusses teile ich mit keiner anderen als mit der sich mir hingebenden Frau. Im Moment meiner höchsten Zuwendung bin ich immer nur einer zugewandt.’ Fröhlicher Zynismus erfüllte mich, als ich diese rabulistischen Betrachtungen anstellte.
Hingabe – was für ein merkwürdiges Wort, wenn es um die Liebe von Mann und Frau ging! Ich hatte es mehrfach aus dem Munde meiner Mutter vernommen, wenn sie, was selten vorkam, sich ein Herz fasste, um mir Einblicke ins Erwachsenenleben zu geben. „Wenn eine Frau sich einem Mann hingibt, dann denken beide in diesem Moment an nichts weniger als an Kinder,“ hatte sie einmal gesagt. Warum konnte nicht auch ein Mann sich einer Frau hingeben? Hatte er nicht sogar eher noch mehr zu geben als sie? Ich dachte an Helches kecken Fuß und wie gut mir der gefallen hatte. Mein Höchstes war es nicht, eine Frau zu erobern, sondern von ihr umgarnt zu werden. Schon wieder so ein merkwürdiges Wort! Kaum überließ man der Frau ein wenig die Initiative, schon verfiel das Deutsche in die Terminologie der Handarbeitsstunde – oder der Vogelstellerei.
Und über noch etwas musste ich nachdenken. Hatte Alice sich geirrt, als sie von Helche Lohmann sprach? Sicherlich war es ein Irrtum. Helche ging in eine der höheren Klassen, zu denen bestand so gut wie kein Kontakt. Vom Verfahren gegen einen Lohmann hatte der Volksfreund mehrfach, wenn auch nur knapp und widerwillig berichtet. Hatte er seinen Namen geändert, um sich der Verfolgung zu entziehen? Aber welcher Lohmann würde zur Tarnung einen so ähnlich klingenden Namen wie Fohrmann benutzen? Gerade das aber machte ihn als Decknamen vielleicht besonders unverdächtig und dadurch geeignet … Nannte die Presse seinen wirklichen Namen, während an seiner Haustür noch der angenommene stand?
Ich beschloss, Helche beim nächsten Treffen danach zu fragen. Ich begann jetzt, abendliche Radtouren zu unternehmen. Sie führten mich an die Förde und dann in den Liliencronpark, wo die Kanada-Gänse laut schwurbelnd beiseite watschelten, wenn ich sie dabei störte, an den Bänken nach Essensresten zu suchen. Auf einer dieser Bänke – sie war vom Vorschussverein gestiftet – pflegte ich zu warten, bis eine junge Dame vorbeikam, die, wenn die Luft rein war, höflich und distanziert neben mir Platz nahm. Wir redeten miteinander, wie wir es in Filmen von Agenten gesehen hatten – mit parallel geradeaus gerichteten Blicken – gerade als ob wir uns für den Campanile des Rathauses mehr interessierten als füreinander. Als es immer früher dunkel wurde, wurde es zwar auch immer kälter, aber ich brachte eine Wolldecke in der Satteltasche mit, wir saßen im Dunkeln und streichelten einander mit fröstelnden Fingern. „So geht das nicht“, sagte Helche eines Abends. „Fällt dir nichts Besseres ein?“
Ich war ganz in meine klamme Erregung verloren gewesen und empfand Helches Frage als kalte Dusche. Sie konnte so grausam vernünftig sein. „Heißt du eigentlich Fohrmann oder Lohmann?“, fragte ich sie, um diesen Merkposten endlich abzuhaken.
„Nun fang du nicht auch noch damit an! Solange sie meinem Vater nicht rechtskräftig nachgewiesen haben, dass er dieser Max Lohmann ist, der in Frankreich gewütet haben soll, heißt er weiter Fohrmann, und damit auch ich, ja? Außerdem geht das nur unsere Väter was an.“
„Neulich Nacht warst du anderer Meinung.“
„Da glaubte ich etwas tun zu können und zu müssen. Aber das war ein Fehler. Bitte finde heraus, wo wir ungestört zusammen sein können! Ich sehne mich sehr danach!“ Mit kalten Lippen und Händen nahmen wir voneinander Abschied.
*
Auf dem Schulhof würdigten wir einander keines Blickes. Ich gestand Henning, ich wolle mich mit einer Freundin treffen und wisse nicht wo. Der Junker lachte und sagte: „Ihr könnt euch gerne bei uns im Gutshaus treffen! Meine Mutter wird zwar den Kuppeleiparagraphen ins Feld führen, wenn ich ihr davon erzähle – und das muss ich schon aus Gründen der Sohnesloyalität tun – aber es gibt so viele unsinnige Vorschriften im Strafgesetzbuch, die sie mit mir verachtet, dass sie sich auch über diese, wenn auch unter Bedenken, hinwegsetzen wird. Wer ist denn die Glückliche?“ Als ich zu Boden sah, fuhr Henning lächelnd fort: „Ach, so natürlich … Wozu rettet man ein Mädchen aus dem Feuer? Ich hoffe, du verbrennst dir an ihrem Dank nicht die Finger!“
Die Weimaranerwelpen waren zu einer Meute athletischer Jagdhunde herangewachsen, die Helche gierig beschnoberten, als Malte sie der Hausherrin und ihrem Sohn präsentierte. „Willkommen auf Testorff,“ sagte die verhutzelte kleine Baronin. „Ich habe euch zwei Betten im Giebelzimmer gemacht und habe sie auseinandergeschoben. Ich würde mich freuen, wenn ihr mit dieser Lösung einverstanden wärt.“ Wir versicherten ihr, dass wir das seien, und nahmen an der Tafel im Rittersaal Platz. An der Wand war das Fresko eines Falkners zu sehen, über ihm flatterte ein Fähnchen mit der Inschrift VELLE AT NON POSSE DOLENDUM EST.
Ein scheues Bauernmädchen mit roten Apfelbacken trug Röstkartoffeln und Sülze auf, dazu gab es Rauenthaler Wülfen. Die Höflichkeit gebot es, der Baronin zuzuhören, als sie in den reichen Fundus ihrer Familiengeschichte griff und berichtete, wie ein Vorfahr, als er Louis Seize bei seiner Flucht vor den Jakobinern helfen sollte, die Pferde falsch angeschirrt habe, wodurch viel Zeit verloren ging. „Letztlich hat mein Ururururgroßvater also den Tod dieses Monarchen zu verantworten. Denn ohne seinen Fehler wäre die Flucht geglückt und Louis Seize wäre nicht bereits in Varennes wieder eingefangen worden! Aber ich kann damit leben, denn Louis Seize war ein fast so unfähiger Monarch wie Wilhelm II. Hätten die Deutschen diesen Dummkopf, als er Bismarck entließ, wegen Hochverrats aufs Schafott gebracht, uns wären zwei Weltkriege und die Hitlerei erspart geblieben.“ Das sagte sie im Ton so abgrundtiefer Verachtung, dass ich es einfach so stehen lassen musste. Außerdem spielte Helche unter dem Tisch anzüglich mit meinen Fingern. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
Lag es am steifkühlen Leinen, mit dem die Betten bezogen waren? Ich hielt die wunderschöne, gertenschlanke und voll zur Frau erblühte Helche im Arm und fühlte mich so verzagt! ‚Wie soll ich dieser Frau je gerecht werden?’, fragte ich mich. ‚Sie könnte doch ganz andere Liebhaber haben als den blutarmen, plattfüßigen Malte … Es ist unmöglich, dass sie mich wirklich liebt. Alice hat mich gewarnt – aber welches Ziel könnte sie verfolgen mit gespielter Zuneigung? Gegen ihren Vater wird nicht mehr von Emil ermittelt, und selbst wenn mein Verhältnis zu ihm besser wäre, ich könnte nichts mehr für sie – und für ihn – tun. Nein, sie liebt mich aus Dankbarkeit – aber ist Dankbarkeit ein Fundament für Liebe? Lässt sich Dankbarkeit im Bett begleichen? Möchte sie mir gegenüber keine Verpflichtung mehr spüren?’ Und noch etwas beunruhigte mich. Hatte nicht mein Vater doch mit ihr „Liebe gemacht“? War es nicht – unästhetisch, eine Frau zu lieben, die auch der eigene Vater schon – geküsst, ja, vielleicht – begattet hatte? Es war ähnlich unzulässig und peinsam, wie es das leibliche Lieben der eigenen Mutter gewesen wäre … Ich war so verlegen, dass ich ein Gespräch anzuknüpfen versuchte. „Was ich an großen Hunden hasse“, sagte ich, „ist, dass sie den Menschen immer zwischen die Beine gehen.“ Helche lachte.
„Was stört dich daran?“, fragte sie. „Es sind Tiere, dazu noch Nasentiere, und auch wir Menschen haben dort nun einmal den stärksten Eigengeruch.“
„Ich fand es peinlich, wie Wotan dir die Nase förmlich in den Schoß bohrte.“
„Ich wünschte, du tätest es auch!“
Diese Worte brachten meinen Hochmut zum Einsturz, und ich fand mich nicht nur damit ab, nicht besser als ein Tier zu sein, sondern lernte auch, es zu genießen. „Wie schützen wir uns?“, fragte Helche, und es zeigte sich, dass ihre Frage eine rhetorische gewesen war, denn sie hatte das Schutzmittel dabei, applizierte es zu meiner geschmeichelten Überraschung eigenhändig mit den wunden und doch so geschickten schlanken Fingern und warf mir dabei schelmische Blicke zu.
„Das wichtigste erotische Organ ist der Kopf“, philosophierte Helche, als wir zur Ruhe gekommen waren. „Du hast mir erzählt, dass du dich immer nach der älteren Schwester gesehnt hast, die dir das Schicksal vorenthielt. Nun überträgst du diese ungenutzten Gefühle auf mich. Da es aber das Inzestverbot gibt, hast du zunächst Angst gehabt, mich sexuell zu lieben, dann aber hast du diese Angst überwunden, und das mitschwingende Inzestverbot hat dich nur noch begehrlicher gemacht und deine Lust, wenn ich es recht beobachtet habe, nicht unerheblich gesteigert …“
„Wie klug du über die Liebe reden kannst. Wer hat dir das alles beigebracht?“
„Mein erster Liebhaber.“
Ich schwieg. Es genügte mir zu wissen, dass das Harald nicht gewesen war. Aber Helche war in Plauderstimmung. „Siehst du dort das Bild an der Wand?“ Ich schaute ins Halbdunkel, richtete das Licht der Nachttischlampe darauf. „Was zeigt es? Es zeigt einen alten Mann, der an der Brust einer jungen Frau trinkt. Ein sehr schönes Motiv, nicht wahr? Wir haben nach dem Krieg in Paraguay gelebt. Dort ist meine Mutter gestorben, und mein Vater ist nach Deutschland zurückgekehrt im Glauben, hier könne er wieder leben und eine neue Frau finden. Wir wären besser in Lateinamerika geblieben … Es war so herrlich dort! Ich war dreizehn, und mein Vater hatte einen alten italienischen Freund, Don Nicanor Paredes, der wunderschön Gitarre spielte und sang … Er war faltig und grauhaarig wie der Mann dort auf dem Bild! Trotzdem verliebte ich mich in ihn und er sich in mich, und eines Nachts, mein Vater war schon schlafen gegangen, Don Nicanor saß noch im Patio und entlockte seinem Instrument unirdische Töne, setzte hin und wieder ab, um mit seiner Bombilla Mate aus dem Kürbis zu saugen, und sang ein Tangolied … Da setzte ich mich, halbes Kind, das ich noch war, auf seine Knie und bat ihn, das Geschenk meiner Jungfräulichkeit von mir anzunehmen. Wir waren dann oft zusammen, und ich habe die Lebens- und Liebeserfahrung eines sehr viel älteren Mannes – er hätte mein Vater sein können – unersättlich in mich aufgesogen! Deshalb macht es mir auch nichts aus, dass du noch recht liebesunkundig bist und nicht die Geduld und Kenntnis aufbringst, um mich glücklich zu machen. Ich spüre, dass du mich begehrst, und werde dich zu einem guten Liebhaber ausbilden!“
Das war keine sehr tröstliche Perspektive; es wehte mich etwas Fremdes und allzu Weltläufiges aus Helches Worten an. ‚Wahrscheinlich’, dachte ich, ‚hält sie mich in Wirklichkeit für ein beschränktes Landei und wird mich so schnell wie möglich gegen einen erfahreneren Freund austauschen. Oder sie verfolgt irgendwelche verschwiegenen Ziele. Hätte ich ihr nicht andere Gedichte geschrieben als diese anglisierenden sonnets, wenn ich mehr von ihrer Vergangenheit gewusst hätte? Hätten ihr spanische Formen wie Habanera oder Seguidilla, hätten Verse im manieristischen Stil Gongoras ihr nicht mehr zugesagt? Und dieser grauhaarige Don Nicanor Paredes ist mir unheimlich. Oder hätte es auch mir gutgetan, mich einmal in eine ältere, liebeserfahrene Frau zu verlieben? Dann wäre ich jetzt nicht der Anfänger, der sich ausbilden lassen muss!’
Helche bemerkte mein missvergnügt-nachdenkliches Gesicht, begann zu weinen und schluchzte: „Wenn du mich nicht liebst, liebt mich hier keiner! Es war ein Fehler, dass ich so offen war, ihr Männer wollt immer die ersten und die besten sein! Wenn mein Vater auch in zweiter Instanz verurteilt wird, verliert er bestimmt seine Zulassung als Anwalt – und wohin sollen wir dann gehen? Schon jetzt haben wir manchmal nicht genug Geld, mir die Schulbücher zu kaufen …“ Ich konnte ihrem Tränenfluss nicht widerstehen und tröstete sie mit der gewachsenen Ausdauer des Erschöpften so zärtlich und nachdrücklich, dass ihr Schluchzen sich in dankbares Seufzen verwandelte.
Henning hatte zum Frühstück Isoldes Liebestod aufgelegt, raunzend dargeboten vom geschmeidigen Sopran einer Schwedin, und sagte hintersinnig: „Es war mir ein Vergnügen, eure Brangäne zu sein!“ Ich erwähnte, dass meine Mutter für Wagner schwärme, mein Vater hingegen für Verdi, weshalb sie die Oper selten gemeinsam aufsuchten. Einig seien sie sich nur in ihrer gemeinsamen Wertschätzung für Richard Strauss.
„Großartige Einfälle. Aber ein politischer Ignorant. Alles ist beschmutzt“. Henning pellte sein Ei sorgsam aus der Schale; sein Mund bewegte sich, aber er ersparte sich weitere Erläuterungen. Seine Mutter köpfte ihr Ei mit einem wohlgezielten Messerhieb. Helche blieb vor Verwunderung der Mund offen stehen.
„Sie entstammen wirklich einer Familie von Haudegen!“, sagte sie. „Wie ich hörte, war Ihr Bruder in der Wolfsschanze, als dieses heimtückische Attentat …“
„Dieses Attentat war großartig und notwendig“, schnitt die Baronin ihr das Wort ab. „Mein Bruder will es bis heute nicht wahrhaben, weil er mit der Tatsache, dass er die zwölf besten Jahres seines Lebens an einen besessenen Lumpen verschwendet hat, nicht leben will und kann. Wir waren doch alle völlig verblendet, unser Verstand war außer Kraft gesetzt, und den Rest an Menschlichkeit erledigten Angst und das trotzige Gefühl, es könne nicht sein, dass Deutschland im Namen Deutschlands ruiniert würde.“
„Ruiniert haben es die Alliierten“, erwiderte Helche mit einem eisigen Lächeln. „Aber wir sollten es machen wie Audrey Hepburn, die auf die Frage, wie sie es anstelle, dass Leute aller Art sich darum rissen, bei ihr zu Gast zu sein, geantwortet haben soll: ‚Indem ich ein Gesprächsthema ausschließe: Politik.’ Auch wir sollten sie von diesem so gemütlichen Frühstückstisch verbannen.“ Die anmutige Amerikanerin holländischer Herkunft erwies sich jedoch als matte Schutzheilige; ein sehr ungemütliches Schweigen machte sich breit, und ich war froh, als Helche und ich uns unter zahlreichen Dankesworten verabschiedet hatten, auf den Rädern saßen und heimwärts fuhren.
Neuntes Kapital
Ein einsames Jahr stand mir bevor. Helche hatte Abitur gemacht und schrieb sich an einer süddeutschen Universität ein, um Journalistik zu studieren. Ich hatte nie wieder ein Gedicht für sie geschrieben; war aber so heftig in sie verliebt und an ihren zärtlichen Umgang gewöhnt, der in der Leidenschaft kein Gesetz als das der höchsten Lust anerkannte, dass ich mich fragte, wie ich das Alleinsein, mehr aber noch die Vorstellung ertragen sollte, was Helche mit ihrer Freiheit in Würzburg anfing. Zwar hielt ich sie nicht für treulos, aber doch auch für viel zu liebeserfahren, als dass sie leichthin „etwas anbrennen ließ“ – eine Redensart, die sie in diesem Zusammenhang benutzt hatte. Alice hatte die Schule verlassen und war in ein Internat am Bodensee eingetreten, wo es ihr dem Vernehmen nach gut ging, was mich sehr erleichterte – ich machte mir Vorwürfe, dieses so schutzlos ehrliche Mädchen verlassen zu haben. Es blieb mir nun gar nichts anderes übrig, als mich für Tacitus zu interessieren, mich für die Feinheiten der Stochastik zu begeistern und Sartre zu lesen, dessen gauloise-geschwängerter Existenzialismus sich an der Schule verbreitete als eine willkommene, unbesudelte Alternative zu dem, was die braun verschmutzte ältere Generation der Lehrer anzubieten hatte.
Nach langem Nachdenken hatte sich die Oberstaatsanwaltschaft dazu durchgerungen, die Ermittlungen gegen Fohrmann einzustellen; die Verantwortung an den begangenen Verbrechen treffe seinen Vorgesetzten, der jedoch gefallen sei. „Ich freue mich sehr,“ sagte Emil auf einem gemeinsamen Spaziergang am Fördeufer zu mir, „dass meine Einschätzung des Falles von der Oberstaatsanwaltschaft geteilt wurde.“ Emil pausierte erschöpft; sein Stumpf war entzündet, und er bewegte sich auf Unterarmkrücken. „Vielleicht bin ich ja doch nicht ein so schlechter Jurist.“ Von der anderen Seite der Förde grüßte der riesige rote Gedenkständer herüber. Ich zögerte, mich auf ein Gespräch mit Emil einzulassen. Würden nicht wieder nur Rechtfertigungen kommen von der Art: ‚Die Nazis haben die Autobahnen gebaut’? Nicht einmal die waren ja auf ihrem Mist gewachsen; die erste Teilstrecke hatte der damalige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, im August 1932 eröffnet.
„Warum solltest du ein schlechter Jurist sein?“, fragte ich dann.
Emil runzelte die gewölbte Stirn, in deren Mitte die Delle an die Zange erinnerte, mit der er geholt worden war. Er setzte sich wieder in Bewegung. „Weißt du, nirgends wird so viel gelogen wie in gerichtlichen und Ermittlungsverfahren. Aufgabe des Juristen ist es, das Gespinst aus Lügen zu durchdringen und die Wahrheit herauszufinden. Aber da ich nicht imstande war, das Lügengespinst der Nazis zu durchschauen, bin ich in Wahrheitsfindung offenbar nicht gut.“ Emils Mund wurde noch schmaler und verzog sich angewidert. Er tat mir leid – aber ohne Herablassung. Vielmehr fragte ich mich, ob ich einmal eine bessere Bilanz meines Lebens würde ziehen können als mein Vater, und mir wurde klar, dass das von den Herausforderungen abhing, mit denen ich konfrontiert werden würde.
„Ist es dir eigentlich schwer gefallen, gegen Fohrmann zu ermitteln?“
„Sehr.“
„Warum?“
„Wir kannten uns gut und waren – damals im Referendarlager in Jüterbog – Freunde geworden.“
„Wie das?“
„Nun ja – im Referendarlager, durch das damals alle angehenden Juristen geschleust wurden, hatte ich Quatsch gemacht.“
„Quatsch?“
„Wir kriegten wohl hundertmal täglich Gemeinschaftsgeist gepredigt. Mir und einigen anderen hing das zum Halse heraus. Ständig musste man sich anpassen. Jeder Individualismus ging dabei verloren. Ich hatte ja bis dahin brav und bürgerlich studiert, und die Verhältnisse in der Weimarer Republik waren so zerklüftet, dass einem gar nichts anderes übrig blieb, als sein eigenes und besonderes Wesen zu kultivieren; mein Freund Rudi und ich trugen nur Schwarz und suhlten uns in schopenhauerschem Pessimismus … Nichts gefiel uns besser, als bei einer guten Havanna über den Jammer des Daseins und das dumme und kurzbeinige Weibergeschlecht zu räsonnieren … Da kannst du dir vorstellen, wie sehr uns dieser verdammte Gemeinschaftsgeist nervte … Also haben wir, Max und ich und noch ein paar Kameraden, uns einen Streich ausgedacht.“
„Wann war das?“
„Im Sommer 34.“
Ich schaute meinen Vater erwartungsvoll an. Der fuhr fort: „Wir dachten: Man muss das einmal karikieren, damit sie begreifen, wie kindisch es ist, immer alles gemeinsam zu tun … Aufstehen, Putzen, Duschen, Essen, Trinken, Pinkeln, Gerätereinigen, sogar Naseputzen … Mit Max und drei anderen bin ich auf allen Vieren über den Hof gekrochen. Wir haben uns Klopapier um den Hals gehängt und zusammen skandiert: ‚Es ist ein Zeichen für Gemeinschaftsgeist, wenn die Kompanie gemeinsam scheißt!’“ Emil lachte erwartungsvoll, ich aber hob die Schultern, fand es nicht überwältigend.
„Und was war die Folge?“
„Wir hatten Glück. Der Propagandaminister war anwesend. Er war Zeuge unseres Aufzugs geworden, seine Suite und vor allem die Lagerleitung schaute ihn gespannt an. Aber er sagte mit gesalbter Herablassung: ‚Junger Wein muss brausen!’ Das ersparte uns eine offizielle Abstrafung.
„Und warum hast du es nicht abgelehnt, gegen Fohrmann zu ermitteln? Du warst doch befangen!“
„Das wäre kein Freundschaftsdienst gewesen. Das sah er genauso. Die Gefahr bestand, dass er in die Hände des jungen Jacobsen fiel, eines Karrieristen, der keinerlei Verständnis für die damalige Zeit aufbrachte.“
„Was hat Fohrmann getan?“
„Er hat – im Rahmen eines Vergeltungsbefehls – Erschießungen nicht nur von Kombattanten, sondern auch von Zivilisten angeordnet.“
„Was war ihr Verbrechen?“
„Sie hatten zwei von unseren Soldaten aus dem Hinterhalt erschossen.“
„War das bei Oradour?“
„Nein, Montagnac.“
„Hättest du das auch angeordnet?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin ja glücklicherweise nicht Offizier geworden.“
„Warum eigentlich nicht?“ Emil zog die Augenbrauen hoch.
„Zur Offiziersprüfung gehörte auch ein Gewaltmarsch. Ich neigte zu Blasen, lief auf Vollballon und quälte mich unsäglich … Da kam ein Bauer mit seinem Dieselross vorbei. Er kam vom Markt, sein Anhänger war leer. Ich habe meiner Gruppe und mir selbst erlaubt, aufzusitzen …“ Er lachte bei der Erinnerung. „Aber das war natürlich eines künftigen Offiziers nicht würdig. Ich wurde Feldwebel – und wahrscheinlich hat mir das die Selbstachtung gerettet, die Kastenmine, auf die ich mit Lotte ritt, das Leben.“
Ich kannte das Bild, auf dem winzig klein ein Soldat auf einen ebenfalls winzigen Kaltblüter steigt. „Was für ein gutes Tier sie war!“, sagte Emil wehmütig. Dann fuhr er fort: „Das Problem war: Ich musste diese Freundschaft – und auch das Mitleid, das ich für Fohrmann fühlte – bei den Ermittlungen ignorieren, durfte aber auch nicht in den Fehler verfallen, überstreng gegen ihn vorzugehen, nur um den Verdacht einer eventuellen Befangenheit vorbauend zu widerlegen. Den Begriff des gesetzlichen Unrechts hatte es ja in unserer Ausbildung nicht gegeben. Da musste erst Radbruch kommen, um uns die Augen zu öffnen. Wir waren zu der Auffassung erzogen worden, dass Recht und Gesetz identisch seien. Und auch Radbruch ist erst 1946 so klug geworden, zu erkennen, dass unerträgliches Unrecht nicht dadurch Recht wird, dass es Gesetzesform annimmt.“
„Es ist also alles ausgegangen wie das Hornberger Schießen.“
„Nicht ganz. Es wurde rechtskräftig festgestellt, dass er Max Lohmann und nicht Max Fohrmann ist. Daraufhin hat er versucht, sich das Leben zu nehmen.“
„Die arme Helche,“ entfuhr es mir halblaut.
„Sprichst du von seiner Tochter?“ Ich nickte. „Bist du mit ihr befreundet?“ Ich nickte. „Habt ihr was miteinander?“ Ich schüttelte erschrocken den Kopf. Es erschien mir unmöglich, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. Hatte nicht mein Vater sich in jener Nacht auch in Helche verliebt? Die Vorstellung, mit dem eigenen Vater um dasselbe Mädchen zu rivalisieren, war mir unerträglich. Deshalb lenkte ich ab mit der Frage:
„Wenn du dich für einen schlechten Juristen hältst – warum hast du daraus nicht die Konsequenz gezogen und deinen Beruf aufgegeben?“
„Ich hatte Familie, Vilma – und dich. Ich hatte doch sonst nichts gelernt! Aber ich habe eine Konsequenz gezogen. Ich wurde mehrfach an höhere Gerichte berufen. Ich habe immer abgelehnt. Auf diese Weise habe ich mich bestraft.“
„Und warum bist du nicht wieder in die Kirche eingetreten?“
„Das ist ein weites Feld … Religionen, in denen Götter mit Menschenfrauen Kinder bekommen, sind heidnisch. Das Christentum ist eine solche Religion. An einen göttlichen Schöpfer vermag ich zu glauben, aber nicht daran, dass der Schöpfer einen Sohn zeugt, diesen hinrichten lässt und dann wieder von den Toten auferweckt. Das ist für mich eine wunderliche Moritat, mit der ich nichts anfangen kann. Der strenge Monotheismus von Judentum und Islam sagt mir mehr zu.“
„Und wie konntest du dann in eine dermaßen antisemitische Partei eintreten?“
„Antisemitisch waren schon viele gewesen – aber letztlich hatten sie dann alle mit den Juden zusammengearbeitet. Bismarck war Antisemit. Aber in Geldsachen verließ er sich auf seinen Bankier Bleichröder. Kaiser Wilhelm war Antisemit – und sein Bankier war Ballin. Ich hielt den Antisemitismus der Nazis für ein taktisches Manöver, um mit Hilfe antisemitischer Stimmen an die Macht zu kommen. Dass sie dermaßen blutigen Ernst machen würden, lag jenseits meiner Vorstellungskraft. Ich sage ja: Ich habe mich täuschen lassen, und ein guter Jurist lässt sich nicht täuschen.“
Wir kehrten nach Hause zurück. Mir war, als hätte ich ein Stückchen meines Vaters wiedergefunden. Es war groß genug, um ihn besser zu verstehen, aber nicht groß genug, um ihm zu verzeihen. Klein und läppisch war all das vor dem erdrückenden Gigantismus des schwarzen Teichs.
(weitere Kapitel in Arbeit)