
Die Themen dieser Aufsätze stammen praktisch alle aus den 50er Jahren – oder hätten uns in den 50er Jahren gestellt werden können. Gefordert waren „Besinnungsaufsätze“, also kleine Abhandlungen, Erörterungen oder Essays, die ich vor 50 Jahren, angeregt von „Fritz Kochers Aufsätzen“, neu geschrieben und dabei manches formuliert habe, was ich als 15Jähriger im „besonderen Gewaltverhältnis Schule“ nicht auszusprechen gewagt, aber gedacht habe. Kein schöneres als das folgende Zitat meines Fastlandsmannes Sören Kierkegaard kann ich ihnen voranstellen:
Lebhaft erinnere ich mich aus meinen Schuljahren, wie ein von mir geschriebener Aufsatz über die Unsterblichkeit der Seele von dem Lehrer ausserordentlich gerühmt und vorgelesen wurde, und zwar ebenso sehr der Vortrefflichkeit des Inhalts wie der Sprache wegen. Ach! ach! ach! Diesen Aufsatz habe ich schon längst fortgeworfen. Welch ein Unglück! Vielleicht würde meine zweifelnde Seele durch denselben zur Festigkeit gebracht worden sein, sowohl durch die vortreffliche Sprache als auch durch den Inhalt. Daher ist es eben mein wohlgemeinter Rat an Eltern, Vorgesetzte und Lehrer, den ihnen anvertrauten Jungen einzuschärfen, die im fünfzehnten Jahre abgefassten Aufsätze ja aufzubewahren. Diesen Rat zu erteilen, ist das Einzige, was ich zum Besten der Menschheit zu tun vermag.
Ein unvergesslicher Wettkampf
Wer so unsportlich ist wie ich, schaut gern einmal in die Arena der Sporthelden und -heldinnen, um sich an Leistungen zu berauschen, die ihm selbst mehr oder weniger versagt sind. Als ich laufen lernte, war das Essen schlecht. Mit Mühe ergatterte meine Mutter eine Extraration Milch. Ich kam aus dem Krankenhaus, war übers Laufen schon hinaus, die schwachen Füsse knickten und sanken ein, der Kalkmangel tat das seinige, und so bin ich ein einlagenbehafteter Attestinhaber geworden, ein vielleicht nur Verzärtelter, aber de facto von all den schönen Schweissdingen Ausgeschlossener. Einmal aber, das ist mir klar, werde ich aus meiner Hässlichkeit und Unsportlichkeit glänzend heraustreten und die versammelte Welt durch einen enormen Hochsprung verdutzen. Meine Beine sind lang, ein bisschen Training und eine verblüffende Technik werden genügen, um es den Sportassen zu zeigen: Hohe Sprünge können auch aus dem Kopf kommen! Vorläufig ist das nur Träumerei, und ich kehre zur Wirklichkeit zurück, in der vor kurzem die olympischen Spiele stattfanden, und zwar in Helsinki, der Hauptstadt des tapferen Finnenvolkes, das aus den Weiten Asiens herbeigelaufen kam und im Lande der Seen und Stechmücken heimisch geworden ist. Dort nun trat zum Fünftausendmeterlauf ein Tscheche an, der seinen Namen der olympischen Ehrentafel auf immer eingemeisselt hat: Emil Zatopek. Dieser gewaltige Läufer hat nicht nur meine Bewunderung, sondern förmlich meine Liebe erobert. Er läuft so, wie ich laufen würde, wenn ich den Willen fände, meinem schwächlichen Körper diese Leistung abzutrotzen. Er verzieht scheinbar vor Schmerzen das Gesicht zu einer furchtbaren Grimasse, die Haut am Hals strafft sich zu hässlichen Falten wie bei einer alten Dame, die deshalb ein Samtband trägt, sein Atem soll, so sagen die Reporter, stossweise gehen – er keucht, hechelt, röchelt – und läuft schneller als alle anderen – über die langen Strecken, versteht sich, nicht über die kurzen, auf denen die amerikanischen Schwarzen dominieren mit ihrer explosiven Kraft. Die Lokomotive hat man Zatopek wegen seines ungewöhnlichen Laufstils getauft, der eigentlich das genaue Gegenteil eines Stils ist, nämlich nützliche und erholsame Stillosigkeit. Warum, so fragt dieser Philosoph von einem Läufer sich, soll ich zur Anstrengung des Laufens noch die der Beherrschung meines Mienenspiels hinzufügen? Bekomme ich die Medaille für mein stoisches Gesicht oder für mein Tempo? So hat er in wunderbarer Zweckmässigkeit die Schönheit auf dem Altar der Leistung geopfert, wo es doch letztlich weder um Schönheit noch um Leistung geht. Was da läuft, sich abschindet und ächzt, ist keines von beidem, es ist die unerfreuliche, aber zugleich freiwillige und starke, zu Tränen rührende Wahrheit. Nur drei Läufer konnten Zatopek, wie man sagt, über fünftausend Meter gefährlich werden: der Deutsche Schade, der Engländer Chataway und ein zierlicher, dunkler Mann namens Mimoun, von den Zeitungen als Kolonialfranzose apostrophiert, also ein Bruder des Oraners Camus, ein nerviges kleines Kerlchen, dem ich den goldenen Lorbeer gut gegönnt hätte – aber gegen die Wahrheit kam er nicht auf. Wie bei Langstreckenläufen üblich, kristallisierte sich schon früh eine sog. Führungsgruppe heraus, der die vier genannten Läufer bei jeweils wechselnder Führung angehörten. Zur Taktik des Langstreckenlaufes, den zu sehen für jeden Fan ein hohes intellektuelles Vergnügen ist, gehört es, den Gegner durch raffiniert ausgeklügelte Zwischenspurts zu zermürben und in der letzten Runde noch die berühmten und oftmals wie ein herrlicher Lichtschein aufgehenden Energiereserven, auch zweite Luft genannt, zu besitzen. In diesem Lauf nun geschah etwas ganz Unerwartetes. Chataway führte souverän – o diese Sportjournalistenworte! – und lief einem unangefochtenen Sieg entgegen – da stürzte er über die Aschenbahneinfassung, lag jämmerlich am Boden, wo er sich vor Schmerz krümmte, während die anderen drei, das noch immer nicht ganz nahe Ziel in Blick und Kopf, gleichmütig an ihm vorbeizogen. Es war etwas Schneidendes, was in diesem Augenblick vor sich ging – das Unglück des einen, der Gleichmut der anderen … Was mag Zatopek gedacht, empfunden haben? Verzog sich nicht sein Gesicht zu einem noch tieferen, gramvolleren Entsetzen? Hätte er, der Zarte, Freundliche, dem gestürzten Laufkameraden nicht am liebsten wieder auf die Beine geholfen, sah sich aber dem unerbittlichen Gesetz des Wettkampfs: siegen oder untergehen – verpflichtet und nahm es schnaufend und ächzend weiter auf sich? Schades Brille beschlug, selbst der ausdruckslos spurtende Mimoun zog schmerzlich die Brauen empor – ich glaube, in diesem Augenblick haben die drei Giganten der Langstrecke Liebe gefühlt, Liebe zueinander, zum Sport, zum gefallenen Kameraden, zum Publikum, das die Hand vor den Mund schlug.
Was ich von meinen Vorfahren weiß
Indiskrete Frage. Könnte man sagen! Aber ich habe nichts zu verbergen, denn ich habe weder Kriminelle, noch Homosexuelle, noch Erbkranke unter meinen Vorfahren. Man verzeihe mir die Taktlosigkeit dieser Zusammenstellung. Aber es ist noch nicht lange her, da wurde Ahnenforschung vor allem unter negativem Aspekt betrieben. Wehe, wenn da ein Cohn oder Levy unter den Altvorderen auftauchte, dann war es aus mit der Beamtenkarriere, allenfalls brachte man es noch zum Emigranten. Aber ich schweife ab. Thema! schreibt der Herr Pädagoge an den hierfür zu lassenden Rand. Ränder sollte man abschaffen. Diese Tummelplätze eines ungebetenen Rotstifts! Lehrer bin ich stolz nicht unter meinen Vorfahren aufweisen zu können. Ebenso keine Pastoren. Halt! Da ist eine Einschränkung am Platze. Es gibt eine Zuckerzange in unserer Familie aus der Zeit, wo der Zucker noch weggeschlossen wurde, weil er so wertvoll war. Diese Zuckerzange ist mit zwei pausbackigen Engeln geschmückt, die um den Hals Wagenradkragen tragen, wie man sie an den Pastoren einer gewissen freien Hansestadt kennt. Es geht das Gerücht, es handle sich um ein Erbstück aus geistlichem Haushalt. Das will ich gern glauben. Wie aber erkläre ich mir die Buchstaben G.H., die in die Zange eingraviert sind? Es gibt keinen G.H. unter meinen mütterlichen Vorfahren, und nur diese kommen in Frage. Deshalb würde ich mich nicht wundern, wenn mein Banknachbar, der aus der wohlbeleumundeten Pastorenfamilie H. stammt, in seinem Aufsatz einen Vorfahr erwähnte, dem auf rätselhafte Weise eine besonders schöne Zuckerzange mit zwei pausbackigen Engeln abhanden kam. Wer wäre auch darauf gekommen, meine kreuzbrave Ururgrossmutter, die in seinem Haushalt Hilfsmädchen war, zu verdächtigen? Vielleicht aber wagte man es auch nicht, weil sie den Herrn Kanzelredner mit so lala Geschichten in der Hand hatte. Falls ich hier eine ehrbare Vorfahrin beleidigt haben sollte, bitte ich sie herzlich, sich beim Deutschlehrer ihres Ururenkels zu beschweren, dem kein besseres Aufsatzthema eingefallen ist. Was ich gewiss weiss, ist, dass diese Ahnin dann einen Schiffskapitän geehelicht hat, wozu ich ihr nachträglich noch herzlich gratuliere. Auf die Weise blieb unserer Familie die Verflechtung mit der Theologie erspart.

Ein redlicher Seebär war’s, der auf „Kleiner Fahrt“, d.h. auf der Nordsee nach England hinüberfuhr, was mit der grossen, der Atlantikfahrt, nicht zu vergleichen, aber letztlich, ausgenommen Kap Hoorn, nicht weniger gefahrvoll war. Besonders die Doggerbank soll es in sich gehabt haben, wenn ich der fernher raunenden Familienmär glauben darf. Da kam er einmal in Seenot und band Frau und Tochter, die er mitgenommen hatte, an den Mast, damit Sturm und Wogen sie nicht über Bord spülten. Er hatte Basaltsteine geladen für den Neubau des Bahnhofs von York, die Ladung verrutschte, und das Schiff drohte zu kentern. Da konnten Mutter und Tochter, während sie kräftig Salzwasser schluckten, mitansehen, wie ihr Mann und Erzeuger, im Landleben ein jähzorniger Trinker und Tunichtgut, mit der Kraft eines rasenden Zwergs die Steine Stück um Stück in die kochende See warf. Ist das nicht eine hübsche Geschichte? Sie allein ist den ganzen Aufsatz wert, und mit besseren kann ich nicht aufwarten. Einen anderen Seemann habe ich unter meinen Vorfahren, der war Maschinist. Das Dampfschiffzeitalter war angebrochen und mit ihm eine Ära, in der man als Maschinist nichts anderes als einen schnalzenden, stampfenden, schmatzenden und zischenden Maschinenraum zu sehen bekam, aus dem man den Kopf bisweilen an die Luft streckte, die dann abwechselnd eine äquatoriale oder polare war. Einmal bin ich auf einem alten Dampfschiff gefahren und habe gesehen, wie die Ölgefässe vom Gestänge in Riesenkreisen durch die Luft gewirbelt wurden. Das leise, fettige Gleiten des vielen Stahls machte mich ganz krank, ich konnte die Augen nicht abwenden. Ich bin sicher, dass dieser Vorfahr, als er sich entschied, an Land zu bleiben, den Beruf des Feuerwehrmanns wählte, weil er sich nach der Hölle seines Maschinenraums sehnte. Wenn es brannte, hechteten er und seine Leute an die dicke Messingstange und rutschen durch die Stockwerke hinab in die Garagen, wo feurige Pferde sich an Hafer mästeten, um für den Einsatz stark und mutig zu sein. Vierspännig, mit Ledereimern und Pumpe ausgerüstet, raste der Wagen zur Brandstelle, die mangels elektrischen Lichts der hellste Fleck der Stadt war, wenigtens nachts, und ich stelle mir Brände immer nachts vor, weil sie dann effektvoller sind. Behaart wie ein Affe soll dieser Grossvater meiner Mutter gewesen sein, was mich darauf bringt, den Zoo aufzusuchen, der von ferne mit dem gestellten Thema zu tun hat. Mit Erschrecken sehe ich die Finger des Schimpansen ganz genauso gegliedert und gefältelt wie meine Finger, und die Melancholie, mit der er eine zerfaserte Bananenschale mützenartig auf den Kopf stülpt, erscheint mir nur allzu begreiflich. „Alter Freund und Kupferstecher!“ möchte ich ihn anreden, aber ich lasse es und kehre zum ersten Familienmitglied zurück, das sich in die Luft erhob. Der Sage nach war es einer meiner Grossväter, welcher, werde ich aus Diskretionsgründen verschweigen dürfen. Er erfreute sich gelinder Wohlhabenheit auf Grund eines Berufes, der zu Unrecht in geringem Ansehen steht. Was gibt es Schöneres, als Gäste zu haben, ihnen die Wünsche von der Nase abzulesen und sie mit Promptheit und Gewandtheit zu erfüllen? Wer jetzt auf Kellner tippt, liegt nicht ganz falsch, aber welcher Kellner wird schon reich? Dieser besagte Grossvater war Hotelier. Das beste Alpaka-Silber aus seinem Hotel ziert heute noch unseren Tisch, wodurch wir bisweilen Verdacht erregen, fleissige Andenkensammler zu sein. Dieser Grossvater, der übrigens wie der elegante Maler schöner Frauen Egon Schiele an der Spanischen Grippe 1919 starb, bestieg eines Tages die Gondel eines Ballons, Anlass für ein Gedicht mit dem Kehrreim „Hoch in den Lüften, rassassa.“ Dieser Kehrreim ist ein bisschen naiv, was sich unschwer aus der Tatsache erklärt, dass das Gedicht von der Kalten Mamsell des Hotels verfasst worden war, die den kühnen Ballonfahrer, falls er von seinem Flug inzwischen zurückgekehrt ist, geheiratet haben dürfte. Von dieser Sorte Anekdötchen könnte ich noch mehr aus mir herauslassen und -leiern. Ich will aber auf den Schandfleck meines Stammbaums zu sprechen kommen. Er wurde enthüllt, als mein Vater zum Zweck des Nachweises reinen Ariertums zwangsweise Ahnenforschung betrieb, und betrifft eine gewisse junge Dame, die sich nicht des Vorzugs erfreute, einen Vater zu besitzen, zumindest keinen amtlichen. Sie wurde 1813 im Schwerter Wald geboren, neun Monate nach dem Durchzug napoleonischer Truppen, und wurde auf den Namen Victoria getauft. Welche Frage also, dass ich von einem der tapferen Soldaten des kleinen Korsen abstamme – wenn nicht von Murat, seinem tollkühnen und prachtliebenden General – oder gar von ihm selbst. Mein Vater hat ganz die pyknische, etwas zur Dicklichkeit und Weisshäutigkeit neigende Statur Bonapartes. Aber mit diesen Betrachtungen, das ist mir klar, stehe ich mit einem Bein in der Psychiatrie.
Würde ich jemals auswandern?
Auswandern – was für ein Donnerwort! Wer auswandert, gehört zu denen, die in aller Armut die Hoffnung nicht verloren haben. „Irgendwo auf Erden muss es doch einen Platz geben, wo wir von unsrer Hände Arbeit leben können!“ So oder ähnlich spricht der verzweifelte und von Hunger und Armut niedergebrochene Mann zu seiner Frau, Mutter schon viel zu vieler Kinder. Mit Sack und Pack ziehen sie zum Hafen, wo ein Auswandererschiff ihrer wartet. Ja, es wartet – auf sie! Zum ersten Mal in ihrem Leben werden sie erwartet, und frohgemut besteigen sie das enge Holzgehäuse, durchleiden tapfer die lange Überfahrt – und kommen an in der Neuen Welt! Denn Amerika ist es, das am Ende einer Auswanderung steht, und zwar Nordamerika mit seinem gemässigten Klima. Welch ein bewegender Moment, wenn die Freiheitsstatue mit ihrer Dornenkrone am Horizont heraufsteigt! Die Daheimgebliebenen erhalten den ersten Brief: „Wir sitzen auf Ellis Island und lassen die Einwanderungsprozeduren über uns ergehen. Wir sind guten Mutes, für die Kinder wird gesorgt, sie haben satt zu essen und können den ganzen Tag mit anderen Einwandererkindern spielen.“ Aus den Auswanderern sind Einwanderer geworden. Die grossen, vornehmen Vereinigten Staaten prüfen genau, wen sie hereinlassen. Es müssen zuversichtliche, arbeitswillige Menschen von gesunder Lebensauffassung sein. Zottelhaarige Landstreicher, geschlechtskranke Tagediebe, kurz: arbeitsscheues Gesindel wird zurückgewiesen. Soll es doch im alten Europa bleiben und dort zur weiteren Verluderung der Sitten beitragen! Eines Tages dann stehen unsere Einwanderer in New York. Haben sie eine Adresse, an die sie sich wenden können? Ja, in einem Hochhaus im siebzehnten Stock wohnt eine gütige alte Tante, die hilft ihnen. Sie hat Verwandte draussen im Mittelwesten, wo meilenweit der fetteste Weizen wächst, dorthin schickt sie unsere Familie, die auf der Farm eines gewissen Mr. Kellogg so fleissig arbeitet, dass er sie ihnen vererbt. Werde ich auf diese Art und Weise jemals auswandern? Nie! Denn ich bin kein Bauer oder Bauernkind, und selbst als Bauernkind würde ich einen Beruf ergreifen wollen, der mit Lesen und Schreiben mehr zu tun hat als der moderne Bauernberuf, in dem es freilich auch schon recht wissenschaftlich hergeht. Gesetzt den Fall, ich werde Lehrer – welche Chancen habe ich dann in den USA? Ich werde wohl oder übel in New York bleiben müssen, weil ich dort noch am ehesten Gelegenheit finde, einen privaten Deutschkurs oder etwas Änliches zu geben. Was für ein Hungerleiderleben käme auf mich zu! Meine Familie, falls ich eine hätte, würde bald nichts mehr zu beissen haben. Aus grossen Augen würde der Hunger mich anschauen, wenn ich nach Hause käme, und um das nicht sehen zu müssen, würde ich zur Flasche greifen und mich einreihen in die Armee von Elendstrinkern. Da wir nur noch ein billiges Loch statt einer Wohnung uns würden leisten können, würde ich in einem Armenviertel unter Afroamerikanern leben. Die eigene Frau müsste ich auf den Strich schicken, und meine heissgeliebte Tochter würde dem Vorbild ihrer Mutter schon mit vierzehn Jahren folgen. Wo hätte das ein Ende? In einer chinesischen Opiumhöhle? Nein, ich fürchte, meine Endstation wäre noch niedriger, noch schlimmer. Ihr Name wäre Sekte. Geheilt von unseren Lastern, würden wir dort in ekstatischen Gebeten unsere Verzweiflung betäuben und einem Tod in Lüge und Heuchelei entgegenvegetieren. Ist nicht die Sekte oft die letzte Ausrede der Hoffnungslosen? O, vielleicht würde ich als Lehrer dort sogar glänzende Beredsamkeit entwickeln und als hochbezahlter Erwecker durchs Land reisen! Karrieren aller Art und Güte sind in Amerika ebenso möglich wie wahrscheinlich. Deshalb, wenn ich es in Restdeutschland mit seinem gespaltenen Hirn eines Tages nicht mehr aushalte, o ja, dann werde ich auswandern ins Vaterland Poes, Whitmans, Emersons und Thoreaus. Aber ich werde New York so schnell wie möglich hinter mir zurücklassen und die Westküste des Landes aufsuchen. Dort, wo die Golden-Gate-Bridge sich elegant und zukunftsfroh ins Morgenrot schwingt, blüht mein Glück. Ich werde als begabtester Hauslehrer aller Zeiten in einer vornehmen Zeitung inserieren: „Nur ernstgemeinte Angebote bei bester Dotierung unter Chiffre soundso…“ Während ich auf die Angebote warte, trinke ich in einer herrlich blitzenden und glänzenden Bar ein paar Cocktails. Der Barkeeper zwinkert mir zu, während er routiniert den Shaker durch die Luft wirbeln lässt – da bewegt sich der rote Vorhang hinter ihm, sein Gesicht verzerrt sich, der Shaker entfällt seiner Hand, der Barkeeper sinkt zu Boden und reisst den Vorhang mit sich herab, denn der ist mit einem Messer an seinen Rücken geheftet. Ich bin Zeuge, und auf Grund meiner Beschreibung des Täters, den ich im Spiegel gesehen habe, wird er gefasst. Auf meinen Wunsch stellt mir die Polizei ein Zeugnis aus: „Mr. Ironplight ist zur privatdetektivlichen Betätigung bestens geeignet.“ Unter den Angeboten befindet sich das eines Pressezaren. Er will mir für monatlich tausend Dollar seine Kinder anvertrauen, darunter Emily, das reizende Töchterchen. Heisst das den Bock zum Gärtner machen? Bin ich ein Abälard? Ist sie eine Héloise? Wir wollen es nicht hoffen. Bei der Vorstellung gefällt besonders mein unüberbietbar hochmütiges Auftreten, das die sofortige Verdoppelung des Salärs bewirkt. „Ach, Mr. Ironplight, Sie gefallen mir ausgezeichnet!“ seufzt der gramgebeugte Vater, „aber, aber, aber…“ „Ich gehe.“ „Aber nein doch, ich will Sie ja anstellen, aber…“ „Was kann ich noch für Sie tun?“ „Sehen Sie, in unserem Lande steht nichts so sehr in Blüte wie das Verbrechen! Wussten Sie das schon? Nein, Sie wussten es noch nicht, ich sehe es Ihnen an, Sie sind ein Mensch, der ans Gute im Menschen glaubt, wie es sich für einen Pädagogen geziemt. Bei uns aber kommt aus Gründen, die man unter dem Begriff American Way of Life zusammenfasst, das Böse im Menschen mit besonderer Wirksamkeit zur Geltung, was zur Folge hat, dass ein reicher Mann wie ich schlaflose Nächte verbringt aus Angst, eins seiner Kinder könne gekidnappt und zum Hebel bösartigster Erpressung werden. Ich brauche deshalb einen Hauslehrer, der nicht nur ein glänzender Erzieher, sondern zugleich ein begabter Privatdetektiv ist.“ Man kann sich denken, dass ich auf diese Einlassung wie zufällig in die Tasche meiner in Pfeffer und Salz gehaltenen Weste greife, das polizeiliche Zeugnis hervorziehe, es zerstreut, als wüsste ich nicht mehr, was er enthält, durchfliege und dem zitternden Vater reiche. Resultat: Mr. Ironplight wird von einem der reichsten Männer Amerikas umarmt, sein Salär in schwindelnde Höhe hinaufgeschraubt, kurz, sein Glück ist gemacht, und er ist heute, wenn ich recht informiert bin, mit Emily glücklich vermählt und wohnt in der Burg Neuschwanstein, die gerade von Bayern auf einen Hügel bei Santa Monica verpflanzt wurde.
Sollte man Schwerkranken die Wahrheit sagen?
Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: Ich bin der Schwerkranke, und der Schwerkranke ist jemand anderes. Wäre ich schwerkrank, ich glaube, ich würde es wissen wollen. Vielleicht gibt es Dinge, die ich, wenn ich weiss, dass ich bald sterben muss, erledigt haben möchte – z.B. Vernichtung meiner Tagebücher u.ä. Verschleierte man mir meine wirkliche Lage, so würde man mich unmerkbar daran hindern, aus ihr die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Lügen heisst immer behindern, darin liegt überhaupt das Infame der Lüge. Ein Geschäftsmann, der seiner Frau den Verfall seiner Finanzen vorenthält, lässt sie in einer Scheinwelt umhertappen, entmündigt sie teilweise und verdient dafür den Strang. Das ist mein Ernst. Die Lüge ist eine so furchtbare Erfindung des Menschengeschlechts, mit ihm aber so untrennbar verknüpft, dass man sein Ende wünschen möchte, um der Lüge den Garaus zu machen. Kein Tier kann lügen, es kann höchstens täuschen, z.B. ein Tiger kann mit seinem gestreiften Fell im Bambuswald das ängstliche Reh täuschen, das sofort Reissaus nehmen würde, wenn es wüsste, dass das atmende Stückchen Bambuswald da hinten in Wirklichkeit ein Tiger ist. Die Lüge kommt aus dem Mund, sie ist ein Werk des Verstandes, und sie ist allgegenwärtig. Warum sollte sie den Tod respektieren und nicht noch den Sterbenden in ihre Watten und Gazeschleier hüllen? Man vergegenwärtige sich einen Mann, der das Steuer seines Lebens immer mit der nötigen Sicherheit in der Hand hatte, der eine Selbstachtung besass, die auf seiner Selbstverantwortung beruhte, und man stelle sich vor, diesen Mann liebte man aus irgendeinem Grund, man liebte diese seine störrische und eigenbrötlerische, aber doch letztlich liebenswürdige Selbstverantwortlichkeit. Mit welchen Gefühlen muss man es beobachten, wie seine Verwandten, kaum dass er auf dem Sterbelager liegt, die Gelegenheit nutzen, ihm, dem Selbständigen und Freien, einen blauen Dunst vorzumachen, der sein Bewusstsein in unmerkbaren Nebel hüllt und das bittere, dunkle Loch Tod, in das er hineinfährt, mit einer gleichgültigen Kulisse verstellt? Seine Augen, in deren Hintergrund die grosse und ernste Frage nach der Wahrheit steht, schweifen unsicher von einem zum anderen, man merkt, wie er auf die Untertöne der Auskünfte lauscht, die er erhält, und sieht den leisen, ironischen Trotz des Belogenen in diesen Augen keimen, der aus Takt nicht mehr fragt, weil es ihm wehtut, seine Liebsten bei ihrer Unehrlichkeit zu ertappen. Als Beobachter befindet man sich ihm gegenüber in derselben Position wie gegenüber dem Helden auf der Bühne, der auch meist weniger zu wissen scheint als der Zuschauer, weshalb wir ihn unendlich und bis zur Erschütterung bemitleiden. So einen Mann von den Angehörigen aufs kindlich Hoffnungsvolle und Veräppelte reduziert zu sehen, das ist schrecklich. Aber nach einiger Zeit entdeckt der Beobachter noch mehr. Er entdeckt, dass der scheinbar Entmündigte alles weiss. Seine Krankheit selbst hat sich ihm in den langen Leidensnächsten offenbart, hat zu ihm gesprochen und gesagt: „Ich bin Krebs. Mach dir keine Hoffnung mehr, aber verschweige mich deiner Frau und deinen Kindern. Sie wissen es nicht, raube ihnen nicht die letzte Hoffnung!“ Mannhaft hält er sich an diese Mahnung seiner Krankheit und deutet die hoffnungsvoll aufpäppelnden Worte seiner Frau um in den Ausdruck wirklicher Hoffnung, die nun ihrerseits von ihm genährt wird. Pyramus und Thisbe haben einander durch einen Spalt in der Mauer entdeckt und geliebt, jetzt aber, wo Pyramus stirbt, schliesst sich dieser Spalt, und die beiden Liebenden verständigen sich nur noch durch Zuruf. Oder gibt es Momente, in denen das angstvoll offene Auge der einen ins ebenso angstvoll offene des anderen die stumme und immer entsetzlicher werdende Wahrheit hinübersagt? Wenn sie einander wahrhaft lieben, so meine ich, gibt es diesen Moment, aber weil es zu kompliziert ist, das Gespinst aus Hoffnung und Lüge abzutragen, in das der Sterbende wie in einen Kokon verwickelt ist, lassen sie es. Da gibt es dann diese müden Handbewegungen, die „na ja“ oder „lass doch“ bedeuten und in denen ein ganzes Leben niedersinkt. Wie hat der Arzt sich zu verhalten in der Sterbesituation? Zunächst einmal möchte ich hervorheben, dass man ihm keinerlei Vorschriften zu machen das Recht hat. Der Tod begrenzt das traurige Reich der Freiheit, auf dessen Verwaltung das Ansehen des Ärztestandes ruht. Ein guter Sterbearzt, und ich kenne einen solchen, dem diese Zeilen gewidmet sind, wird zunächst einmal vor dem Anblick des aus der Kulisse tretenden Todes nicht erschrecken, weil der Tod etwas Natürliches ist, und er wird diese Ruhe und Festigkeit gegen das ebenso natürliche Erschrecken des Patienten setzen. Erst wenn dieser sich gefasst hat, gefasst von der Wahrheit, die der Arzt ihm liebreich, ohne Hochmut, aber sorglich und als guter Freund mitgeteilt hat, wird man an die Frage herantreten, inwieweit die Anverwandten eingeweiht werden sollten. Erfahrungsgemäss erschrecken diejenigen, die zum Überleben verurteilt sind, meist viel mehr über den Tod als derjenige, der ihn erleiden muss und im voraus schon fühlt. Oft heisst es, der schnelle Tod, das sei der schönste, er wird obenhin als „Tod erster Klasse“ bezeichnet, und dabei ist er doch ein grausiges Einbrechen mitten in den Lebenszusammenhang. Nein, wenn ich einmal sterbe, so möchte ich, dass es langsam geht und dass ich die Leiden, die die gütige Natur dem Tod vorausschickt, damit wir uns nach ihm sehnen lernen, in vollem Umfang zu kosten bekomme, denn wie traurig wäre ich, wenn dieser herrliche Becher an mir vorbeiginge oder versüsst würde durch die Morphiumgaben eines pseudohumanen Weisskittels. Alle Medizin kann uns das Leiden nicht ersparen, sondern nur aufschieben, und solange der Tod nicht besiegt ist, bleibt das Leid die notwendige Wohltat, die ihm vorausgeht. Sehend und leidend soll man in den Tod gehen, vielleicht auch seufzend und weinend, aber man soll sein Haus wohlbestellt haben, und kein zerknirschter Angehöriger soll sich hinterher sagen müssen: „Ach, hätten wir ihm doch die Wahrheit gesagt!“
Freundschaft und Liebe
Heikel, sage ich, heikel. Wer will diesen Unterschied so genau schon kennen? Sicher ist er vorhanden, aber ich bin nicht in der Stimmung, ihn wichtig zu finden. Kann man nicht gelegentlich in aller Freundschaft auch ein wenig lieben? Und gibt es nicht den Liebhaber, der zugleich guter Freund seiner Geliebten ist? Jedes Mädchen wünscht sich einen solchen, und ich bin bemüht, diesem Wunsch zu entsprechen. Den Frauen zu gefallen, muss einem Mann hoch und heilig angelegen sein. Deshalb darf er zwischen Liebe und Freundschaft nicht unterscheiden und muss sich gegen eine Erziehung, die ihm diesen Unterschied einreden will, nach Kräften zur Wehr setzen. Ich möchte mich deshalb darauf beschränken, den Unterschied nur in folgendem zu sehen: Für Jungen empfinde ich Freundschaft, für ein Mädchen aber kann ich Liebe und Freundschaft empfinden, und wenn beides auch gelegentlich traurig auseinanderfällt, so ist es doch am schönsten, wenn man dem Mädchen nicht nur in tierischer Brunst nachläuft, sondern ihm zugleich auch alles Gute nicht nur wünscht, sondern mit Tatkraft verschafft. Welches Glück, die Augen der Beschenkten und Geförderten strahlen zu sehen! Wieviel feuchter und langwieriger ist ein Kuss, der aus dem Danke quillt, als der kurze und trockne der heissen, unaufrichtigen Verführung! Aber was weiss ich davon? Ich lese zu viel. Ich will mich auf eigene Erfahrung beschränken und muss Zweifel an meiner These anmelden. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich einen Jungen liebte. Ich wusste es damals nicht, aber ich weiss es, seit ich ein Mädchen liebe. Dieselben Träume, dieselben Wünsche. Errettung aus Brandgefahr! Fäustewirbelnder Schutz vor Feinden und Nachstellern! Seufzendes und heldisches Sterben vor seinen/ihren Augen! Wie schön das ist: Im Bett liegen und in Gedanken an den Geliebten zerschmelzen! Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn aus mir eine Frau geworden wäre. Manchmal frage ich mich, wie dieselbe Substanz, aus der ich bestehe, in weiblicher Façon sich ausnehmen würde. Ich würde meine Liebe nur an Männer verschwenden, die ihrer würdig wären. Ja, ich würde mir meiner grossen Aufgabe, Männer durch Liebe zu Menschen zu machen, viel früher bewusst werden als die dummen Gänse, die man auf dem Schulhof schnattern und mit den Flügeln schlagen sieht. Da hat man oft den Eindruck, sie wären froh, wenn sie überhaupt einen abbekommen. Wie erniedrigend, dies geheuchelte Desinteresse! Dieses Fallenstellen! Das ist nicht das Waidwerk, dem ich nachgehen würde. Ich wäre prinzipiell einmal unnahbar und würde im Verkehr mit meinesgleichen mein Glück suchen. Wie herrlich muss es für ein Mädchen sein, alle die hübschen, zarten, gerade erst erwachenden Geschlechtsgenossinnen täglich und ohne jede Komplikation in den Arm nehmen und abküssen zu können! O ja, schon wegen der Freundinnen, die ich hätte, möchte ich Frau sein. Da könnte man in trautem Gespräch die herzhaften und schmerzhaften Naturalien erörtern, mit denen das Weib sich einrichten muss. Unter Männern gibt es keinerlei Beistand; sie sind, was Frauen betrifft, die geborenen Feinde, bis aufs Blut müssen sie bereit sein, einander abzuschlachten wegen irgendeines Rockes. Lachhaft das. Hätte ich doch nur einen Freund! Jede Frau wollte ich mit ihm teilen! Frage nur, ob sie das wollen würde. Oder ist das eine Frage der Hygiene? Bin ich noch beim Thema? Verdammtes Aufsatzschreiben! Ich sollte mir eine Gliederung machen, dann wüsste ich jetzt, wie es weitergeht. Bin ich nun Mann oder Frau? Eigentlich ist es egal. Lieben können die einen so wenig wie die anderen, es läuft mehr auf Kampf hinaus. Haben Sie schon beobachtet, mit wieviel Unaufrichtigkeit sogenannte Liebende einander zu übertölpeln suchen? Da hat man dann das Resultat, wenn die Freundschaft aus der Liebe verschwindet. Was aber ist Freundschaft ohne Liebe? Papiergeraschel. Oder Biergesaufe. Das eine fesselt mich so wenig wie das andere. Es gibt Männerfreundschaft, aber die kracht und knallt und stinkt nach Tabak. Sie schliesst die Liebe aus, und so schmeckt sie dann auch. Man pflegt sich bewusst nicht, man gibt sich lässig bis nachlässig, man meint sich pausenlos danebenbenehmen zu dürfen und findet es kernig, einander nach Kräften zu beleidigen. Kameradschaft! Typisch, dass der Turnlehrer gern davon spricht, der Antrete- und Richtübungen mit uns veranstaltet wie auf dem Kasernenhof. Diese Furz-, Arsch- und Pinselwelt soll mir gestohlen bleiben. Da fehlen Frauenhände und Frauenmünder, die alles geschickt machen. Wie ich es gern habe, eine Frau rückhaltlos zu verehren! Oft verdient sie es nicht, aber danach darf der rückhaltlos Liebende nicht fragen. Was verdient denn er? Jede Erniedrigung! Neulich verliebte ich mich in eine herrliche blonde Schwedin. Ich sagte nichts, aber meine Augen müssen Bände gesprochen haben, denn sie kam auf mich zu und sagte: „Na, Kleiner, ich gefall dir, was?“ Mir zitterten die Knie. Was gab es da zu antworten? „Hier,“ sagte sie und gab mir ein kleines hellblaues Brieflein, „bring das dem langen Schönling mit der Tolle!“ Ein Liebesbrief! Und ich war der Bote! Solche Gelegenheiten ergeben sich nicht oft. Ich machte meine Sache gut, die beiden sind jetzt ein schulbekanntes Paar. Für mich aber empfindet die Schwedin Freundschaft, und weil sie eine Frau ist, ist auch ein wenig Liebe dabei.
Wer die Macht hat, hat das Recht
Ein schlimmer Satz, fast zu schlimm für Schülerohren. Eine gefährliche Halbwahrheit! Wer die Macht hat, hat das Recht – wenn das wahr wäre, was wäre dann noch das Recht? Es wäre nichts weiter als sein eigener Anschein, als Wachs in den Händen der Mächtigen. Wer an diesen Satz glaubt, wird sicherlich nach ihm leben und ihm dadurch zu einer hässlichen Scheingeltung verhelfen. Aber stimmt er denn nicht vielleicht doch? Haben die Nazis nicht gezeigt, dass sie das Recht hatten, weil sie die Macht hatten? Konnten sie nicht vor ihrem Volksgerichtshof völlig unschuldige Männer zu Verbrechern machen, die in jeder Hinsicht als Verbrecher erschienen und sich, grauenhafte Vorstellung, zeitweise vielleicht sogar als solche fühlten, zumindest für die Dauer des Verfahrens und der es tragenden Machtverhältnisse? Nach dem Krieg hatten die Alliierten die Macht, und dass sie damit auch das Recht hatten, bewiesen sie in Nürnberg, wo sie die erwischten Nazigrössen als Kriegsverbrecher richteten. Wer die Macht hat, hat das Recht – in der Tat, dieser Satz wäre weniger furchtbar, wenn er leichter widerlegbar wäre! Das Recht haben, was meint das? Es meint Verfügung über das Recht haben, und in diesem, nur in diesem Sinne stimmt der Satz. Recht ist nämlich mit Macht insofern verwandt, als es auch etwas Tatsächliches ist oder vielmehr ins Tatsächliche drängt. Recht ist wenig wert ohne seine faktische Durchsetzung, und diese Durchsetzung hat für sich gepachtet, wer die Macht hat. Aber Recht ist nicht allein das, was als Recht durchgesetzt wird. Wäre es so, würde Recht jede Verbindlichkeit verlieren und nur noch vom Willen des jeweils Herrschenden abhängen. Der totalen Willkür wären Tür und Tor geöffnet, wie sie es unter Regimen, die sich dem nackten Machtrecht verschreiben, in der Tat sind. Recht ohne Macht, d.h. ohne Durchsetzungsgewisstheit ist traurig, ja schrecklich. Durchsetzungsgewissheit ohne Recht aber ist noch viel schlimmer, ist Tyrannei reinsten Wassers. Man kehre den Satz um, um seine Barbarei zu spüren: Wer keine Macht hat, ist im Unrecht. Jedermann sieht ein, dass das Recht, das den Schwachen vor dem Starken schützen soll (und das ist seine vornehmste Aufgabe), völlig verdorben wird, wenn man es allein an die Stärke knüpft. Kurzfristig mag der Mächtige seine Unmenschlichkeit in Rechtsform giessen und das Volk mit Schauprozessen betrügen. Am Ende wird man ihm selber den Prozess machen, wenn er sich dem nicht gewaltsam entzieht. Hitler z.B. hat seinem Leben durch feigen Selbstmord ein Ende gesetzt. Er hatte Angst, unmännliche, ekelhafte Angst vor dem Tribunal, das die Sieger über seine Untaten errichten würden. Und noch viel grössere Angst musste er vor der Verachtung haben, mit der seine eigenen Anhänger ihn strafen würden, wenn sie dahinter kamen, welche Verbrechen er in ihrem Namen begangen und angeordnet hatte, Verbrechen, die durch die Macht, die ihre Ausführenden im Augenblick der Ausführung hatten, niemals zu Recht werden, ja, die das Antlitz des deutschen Volkes für immer grässlich entstellt und besudelt haben. „Wer die Macht hat, hat das Recht.“ Dieser Satz sollte auf allen Marktplätzen der Welt an den Pranger gestellt und öffentlich ausgepeitscht werden. Er ist das Böse schlechthin. Nur weil ich stärker bin als mein Nachbar, soll ich ihn zwingen dürfen, mein Unrecht als Recht anzuerkennen? Warum haben wir den verwickelten Instanzenzug der Justiz, die Unabhängigkeit der Richter? Weil in Fragen des Rechts höchste Gewissenhaftigkeit am Platze ist und nicht polterndes Stiefelgestampfe. Die höhere Instanz soll das Urteil der unteren überprüfen dürfen, weil bei der unteren zu besorgen ist, dass sie, dem Sachverhalt zu nahe und möglicherweise mit ihm verquickt, ihn nicht recht beurteilt hat. Je ferner die Richter dem zu beurteilenden Sachverhalt sind, desto weiser und abgeklärter ist möglicher- und zu hoffender Weise ihr Blick. Freilich rücken sie mit der Ferne zum Tatbestand jenen politischen Gremien immer näher, die hierzulande bestimmen, was Sache ist. Daraus ergeben sich Unzuträglichkeiten, deren Tragweite ich hier nicht erschöpfend darstellen kann. Die Gewaltenteilung nämlich, jener geniale Einfall des Monsieur de Montesquieu, wird durch die den Volkswillen mitgestaltenden Parteien vielfach und hintergründig unterlaufen. Immerhin möchte ich auf die Tatsache verweisen, dass die Bundesverfassungsrichter vom Parlament und nicht von der Regierung bestimmt werden. In allen Fragen der Verknüpfung des Rechts mit den wirklichen Institutionen eines Staates muss der Gesetzgeber ein Höchstmass von Fingerspitzengefühl und Vorsicht walten lassen wie bei sonst keiner anderen Materie; denn wenn das Recht in einem Staat verwest, weil es der Tatsächlichkeit der Macht verfällt, sei es auf dem Wege der Rechtsetzung von Unrecht, der Rechtsbeugung durch beeinflusste und bestochene Richter, der allgemeinen Korruption und juristischen Verwahrlosung – dann sind die Stunden dieses Gemeinwesens gezählt, und es ginge besser heute als morgen zugrunde.
The Pursuit of Happiness
Nicht nur die amerikanische Verfassung sagt ihren Bürgern zu, dass sie ihr Glück verfolgen dürfen. Auch dem deutschen Verfassungswerk ist das Glück nicht fremd, wenn denn die Nationalhymne als Bestandteil jenes angesehen werden darf; dort aber ist expressis verbis davon die Rede, dass Einigkeit und Recht und Freiheit des Glückes Unterpfand seien. Also soll – und darf – auch der Deutsche nach dem Glück streben. Was aber ist nun das Glück? Für einen Amerikaner: Einen doppelstöckigen Hamburger sich zwischen die Kiemen zu schieben. Für einen Deutschen: Auf dem Oktoberfest Bier bis zur Kotzgrenze zu trinken. Oder sind das Klischees? Glück kann ja nichts anderes sein als das Erreichen eines sowohl äusserlich vorgegebenen als auch innerlich tiefempfundenen Lebenszieles. Was ist mein Lebensziel? Wonach strebe ich? Ach, wenn ich das in einem Wort zusammenfassen könnte! Ein ganz klein wenig, ich gebe es zu, strebe ich nach Ruhm. Aber womit soll ich in unserer heldenlosen Zeit berühmt werden? Mit Höchstleistungen in der Wissenschaft? Für die Wissenschaft fehlt es mir an Disziplin. Ich denke gern sprunghaft und um die Ecke, die Wissenschaft aber verlangt sorgsames, schrittweises Vorgehen. Wie wäre es andererseits mit einer Höchstleistung in der Kunst? Ich könnte z.B. das längste je geschriebene Gedicht verfassen und käme damit ins Guinness-Buch der Rekorde. Oder das grösste je gemalte Bild… Oder das lauteste je komponierte Orchesterstück! Wiederum ermangele ich des erforderlichen Ernstes. Berühmt werden nicht Luftikusse wie ich, sondern ernsthaft strebende Menschen von faustischem Charakter. Ich bin allenfalls dazu berufen, unterhaltsam zu sein. Schuster bleib bei deinem Leisten! Was aber wird dabei aus dem Glück? Liegt Glück nicht vielmehr darin, sich zu bescheiden und in Ehren alt zu werden? Genau: Ich will das Leben eines ganz normalen Menschen führen, heiraten, Kinder haben, ein Häuschen bauen und unter einem geschmacklosen Grabstein, der sich vergeblich gegen meine Bedeutungslosigkeit aufbäumt, ins Nichts modern. Glück liegt eben im Verzicht, im standhaften Erreichen des Kleinen. Alles andere ist Aufgeblasenheit, ist Grössenwahn und Anmassung. Natürlich gibt es gelegentlich Genies – aber wie furchtbar müssen sie bezahlen für das bisschen an Ruhm, das ihnen nachweht und das doch zu spät kommt, um sie aus ihrer armseligen Existenz zu erlösen. Mozart – jung im Armengrab verscharrt. Ist das Glück? Hölderlin – verrückt. Coleridge, der uns den unglaublichen ancient mariner schenkte – rheumasiech und opiumsüchtig. Vincent van Gogh – ruhm- und erfolglos in ohrabschneidender Depression dahingegangen, und kein Himmel da, aus dem er sich an seinem Nachruhm freuen könnte. Robert Walser – in der Irrenanstalt verholzt. Franz Kafka – an Tuberkulose und im Glauben gestorben, dass seine Werke nur das Feuer verdienten. Gottfried Benn – durch sein Verkennen des Nazismus für immer stigmatisiert. Paul Celan – in die Seine gesprungen. Wo ist da Glück? Ist nicht jeder Staudenzüchter in seiner Eigenheimidylle glücklicher? Oder gehört zum Glück etwa auch die Erkenntnis des Wahren? Dann freilich verschöbe sich alles. Die Werke dieser Künstler waren ja nicht nur schön, sondern auch wahr. Anders ausgedrückt: Sie haben Gott gesehen. Oder waren ihm in ihrer Schöpferkraft zeitweise gleich oder zumindest nah. Welch grösseres Glück kann es geben? Lohnt es sich nicht, dafür krank und arm zu sein und jung und verkannt zu sterben? Pursuit of happiness – ein Wort, ebenso schillernd und rätselhaft wie der Mensch, der es erfand. Der eine findet sein Glück im Gebet; der andere im Aufruhr; der dritte im Bordell; der vierte in sportlicher Leistung; der fünfte in einer rein erbrachten wissenschaftlichen Arbeit; der sechste in einsamer Lektüre eines ihm schön erscheinenden Buchs; der siebte im Sprung vom Kirchturm. Auf all dies sollen wir ein Recht haben, das Recht zum pursuit of happiness. Vielen Dank, Gesetzgeber!
Brauchen wir die Atombombe?
Die Atombombe ist ein sog. Phänomen, d.h. man kann über sie eine Meinung haben, ohne zu wissen, wie sie funktioniert. Mein Bruder hat mir was von zwei „kritischen“ Massen erzählt, die „zusammengeschossen“ werden, woraufhin eine „Kettenreaktion“ in Gang kommt, die dann die bekannten, zum Teil scheusslichen Wirkungen hat. All diese Begriffe, die ich genannt habe, sagen mir wenig. Ich glaube, wenn ich das Funktionieren einer Atombombe richtig begriffe, ich würde erstarren vor Ehrfurcht. Wie hat Menschengeist etwas derartig Geniales schaffen können? War es nicht ein Mann namens Hahn, der zum ersten Mal eine Kernspaltung durchgeführt, ausgelöst oder was immer hat? Ich glaube, die meisten, die gegen die Atombombe sind, wissen gar nicht, was für ein Wunder an Wissenschaft, an Präzision und Ausgeklügeltheit sie einfach so verdammen. Es ist wahr: Dieses Wunder kann nicht vorgeführt werden, ohne dass Pflanzen, Tiere und Menschen in Gefahr geraten oder gar umkommen. Aber in der Wüste oder auf dem Meer, geschützt durch einige Meter Beton und Stahl, möchte ich eine Atombombe schrecklich gern einmal explodieren sehen. Ob Explodieren der richtige Ausdruck ist? Sollte man hier nicht vielleicht von Zerfallen oder Zersetzen reden? Nach Wochenschauaufnahmen zu schliessen, handelt es sich um ein majestätisches Schauspiel. Besonders bemerkenswert ist die edle Langsamkeit, mit der der Atompilz empor-, durch die Wolken hindurch und ins All hinauswächst wie ein gigantischer Geist aus der Flasche. Wahrscheinlich wird man eine schwarze Brille tragen müssen, um seinen Anblick auszuhalten und nicht zu verbrennen wie weiland Semele, eine schöne Frau des alten Griechenland, die ihren Liebhaber Zeus leibhaftig sehen wollte. Ja, ich wage frech die Behauptung, dass die Menschheit dem alten Traum, ein Bild Gottes zu besitzen, mit dem Atompilz einen Schritt näher gekommen ist. Ähnlich furchtbar dürfte er sich ausnehmen, natürlich noch wiederum ganz anders. Wenn man mich nun fragt: Brauchen wir die Atombombe? so antworte ich schon deshalb bedenkenlos mit Ja! weil ich davon ausgehe, dass der Mensch alles braucht, was ihm zu schaffen möglich ist. Sollen wir auf das Bild und Kunstwerk des herrlich sich entfaltenden Pilzes verzichten, nur weil in Hiroshima und Nagasaki schmählicher Missbrauch damit getrieben wurde? Ist das nützliche Dynamit abgeschafft worden, nur weil es auch gegen Menschen eingesetzt werden kann? Alfred Nobel, der das Dynamit bekanntlich erfunden hat, stiftete, um den Gefahren seines Vorhandenseins entgegenzuwirken, den Friedensnobelpreis, der freilich, das muss zugegeben werden, wahrscheinlich noch keinen Krieg verhindern konnte, während das Dynamit nicht untätig geblieben ist. Eine andere Frage: Warum schaffen wir die Autos nicht ab? Sie kosten uns einen jährlichen Blutzoll von über zehntausend Toten und fast hunderttausend Verletzten und Verstümmelten allein in der Bundesrepublik, ein alljährliches Cannae, das von den Zeitungen nur den Zahlen nach erörtert wird. Glücklich, wer tot ist, wenn die Blechlawine über ihm zusammenschlägt. Neulich besuchte ich Berta im Krankenhaus. Sie ist fröhlich und guter Dinge, obgleich ein in der Parktasche zurücksetzendes Auto ihr gerade beide Füsse abgequetscht hat. Eine Kleinigkeit! Aber keiner redet davon, keiner redet auch von den Wunderwerken der Chirurgie. Einer der beiden Füsse hing noch an einem Faden. Das genügte dem Oberschnipsler und Chefannäher unseres Krankenhauses, um ihn in stundenlanger Arbeit wieder dranzubasteln. Der Schrecken ist längst ein Bestandteil unseres Alltags, wir brauchen die Atombombe nicht, um das Fürchten zu lernen. Könnte nicht ein deftiger Atomschlag vielmehr die Erlösung von all den anderen Schrecken darstellen? Wäre nicht mancher Rentner in seiner einsamen Dachkammer entzückt, plötzlich und in Sekundenschnelle zerstrahlt zu werden, statt elend an Krebs dahinzusiechen? Ich weiss nicht, ob man es sich mit der Atombombe so leicht machen sollte, wie ihre Gegner es tun. Ich müsste jetzt auf die Sicherheits- und Kriegsfrage eingehen, aber davon verstehe ich zu wenig, um mir ein Urteil erlauben zu können. Ich war drei Jahre alt, als ringsum die Städte zerbombt wurden und verbrannten; der Nachthimmel war rot, und stündlich dachten wir: Jetzt sind wir dran! War das nicht schlimm? Ist Krieg verhindert, wenn Atombomben fehlen? Und entwickeln nicht auch die konventionellen Sprengmittel sich in immer scheusslichere Dimensionen? Wenn aber die gewagte Rechnung aufgeht und allseitige Angst vor der Atombombe uns den Krieg erspart, dann hat sie ihre Göttlichkeit auf überraschende Art und Weise unter Beweis gestellt und die Wahrheit des Römerwortes bestätigt: „Si vis pacem, para bellum.“
Koedukation: Ja oder nein?
Diesem Thema gegenüber bin ich nicht unbefangen; denn ich kenne nichts anderes als die Koedukation, d.h. die Erziehung von Jungen und Mädchen in gemischten Klassen. Ich bin nicht unzufrieden damit, was aber nicht heisst, dass dieses Verfahren das einzig richtige ist. Jahrhundertelang wäre es undenkbar gewesen, dass Jungen und Mädchen die gleiche Schulbank drücken, und bei Einführung der Schulpflicht traf dieses Schicksal auch nur Kinder aus dem einfachen Volk. Jede bessere Erziehung trennte Knaben und Mädchen säuberlich von einander, um sie auf ihre unterschiedlichen Aufgaben in Familie und Gesellschaft auch unterschiedlich vorzubereiten. Das Mädchen sollte eine gute Frau und Mutter werden. Warum es also mit Latein und Griechisch quälen? Wichtiger war, dass es nähen, sticken und stricken konnte, dass es sich auf Musik verstand und bei Geselligkeiten keinen ganz ungebildeten Eindruck machte. Hierfür aber genügte eine solide Halbbildung, ein bisschen Französisch und die obligate Klavierstunde, vielleicht auch noch Unterricht im Aquarellieren. Der Mann, der die Frau schön finden möchte, hält es für das Sinnvollste, wenn sie sich mit Schönem befasst. Da das Schöne aber letztlich das Überflüssige ist, läuft diese Art von Erziehung darauf hinaus, die Frauen zu einem Geschlecht zu erziehen, das, von seiner Existenzberechtigung nicht überzeugt, migränegeplagt seine Pflichten absolviert und sich was darauf zugute hält, die Mitwelt nach Strich und Faden mit seinen Launen zu drangsalieren. So etwa darf man sich das weibliche Geschlecht um die Jahrhundertwende vorstellen zumindest in der Schicht des Bürgertums. In der Volksschule ging es auch damals schon bunt durcheinander wie ja übrigens auch in der Fabrik, wo Männlein und Weiblein brav nebeneinander schafften, was mitnichten die sittlichen Ausschweifungen zur Folge hatte, die eine unbeschäftigte bürgerliche Phantasie sich ausmalte, sondern eine solide Kameradschaft der beiden Geschlechter, eine solidere, als sie ohne gemeinsame Arbeit je zu erreichen ist. Darum wohl auch traten fortschrittliche Pädagogen damals auf und forderten die Koedukation für alle, auch an den Gymnasien, deren weibliches Pendant damals Lyzeum hiess. Das bedeutete die Öffnung der Gymnasien und der Universitäten für Mädchen – eine Sensation! Die ersten Abiturientinnen und Studentinnen wurden wie Weltwunder bestaunt – aber auch als Blaustrümpfe herabgesetzt – und es gab Professoren, die sie standhaft ignorierten und ihre Vorlesung unbeirrt mit „Meine Herren!“ eröffneten. Unsere Deutschlehrerin hier an der Lornsenschule, Fräulein Quandt, war die erste Holsteinerin, die Germanistik studiert hat! Es waren hartgesottene Emanzen, diese Pionierinnen des Frauenstudiums, und vielleicht habe ich die Lust am Aufsatzschreiben nur Fräulein Quandt zu verdanken; denn sie brachte uns bei, eine Frage von allen Seiten zu beleuchten, sie hin und her zu wenden wie ein Werkstück, bis sie uns alle ihre Aspekte und Möglichkeiten enthüllt hatte. Nach diesem Plädoyer für die Koedukation muss ich nun auch für ihr Gegenteil noch eine Lanze brechen. Mein Vater z.B. ist auf ein reines Jungen-Gymnasium gegangen, und das muss einen bemerkenswerten Sonderreiz gehabt haben, von dem man hier auf unserer toleranten, weltläufigen Provinzschule wenig spürt. Dieses Zusammenpferchen nur von heranwachsender Männlichkeit hüllt die vorenthaltene und abgesonderte Weiblichkeit in den romantischen Zauber der Ferne und Unbekanntheit, des Abenteuers und der Eroberung. Zechgelage ohne Frauen sind fraglos nicht zu vergleichen mit solchen, an denen Mädchen teilnehmen. Im letzteren Fall werden Orgien daraus, oder aber die Stimmung bleibt müde und versittlicht. Eine reine Männerschwelgerei, weil sie sich selbst genügen muss, treibt die Wonnen der Trunkenheit bis zum äussersten und bringt seltsame Blüten hervor: Brunnen und Laternen werden bestiegen, unglaubliche Wettrennen veranstaltet, Gesänge von orgelnder Fürchterlichkeit angestimmt. Selbst die Koedukation kann uns ja nicht daran hindern, gelegentlich unter uns bleiben zu wollen und kräftig einen drauf zu machen. Vielleicht ist auch die Freundschaft ein Gewächs, das unter den Bedingungen der Koedukation nicht recht gedeiht. Wie sehr habe ich einst einen Primaner geliebt – nur um festzustellen, dass er sein Herz an eine Mitschülerin verloren hatte! Die Leichtigkeit der Anknüpfung mit Mädchen lässt Männerfreundschaften gar nicht erst aufkommen; immer sind es die Mädchen, die überall ihre reizenden und ohne Frage schlankeren und eleganteren Finger im Spiel haben. Nichts also gegen Frauen, aber das Untersichsein hat weder Männern noch Frauen je geschadet. Untersichsein und Vermischtsein, beides ist wichtig, hat seinen Sinn und seine Schönheit. Und in der Tat bedeutet ja auch Koedukation gar nicht absolute Gleichbehandlung der Geschlechter. Wenn die Jungen werken gehen, haben die Mädchen Handarbeitsstunde, im Turnen werden Böcke und Schafe sorgsam von einander gesondert: Die einen verrenken sich musisch und keulenschwingend, die anderen rackern sich auf dem frisch gepflügten Sportplatz mit dem Fussball ab, und in der Klasse sitzen die einen rechts, die anderen links, und nur in belächelten und erzwungenen Ausnahmefällen sitzt einmal ein Mädchen neben einem Jungen. Und ist es etwa egal, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin uns unterrichtet? Einem Lehrer können die Mädchen schöne Augen machen, was sie bei einer Lehrerin tunlichst vermeiden. Wie mancher Lehrer lässt seine Frauen-, wie manche Lehrerin ihre Männerverachtung an den bedauernswerten Eleven und Elevinnen aus! Ach, da fliegt so viel Unberechenbares und gelegentlich auch Ungerechtes durch die Luft, dass ich sagen möchte: Auch die Koedukation kann überstanden werden!
Mein Berufswunsch
Kann man mit fünfzehn schon wissen, was man werden will? Diese Frage meldet Kritik an der Themenstellung an, für die ich um Verzeihung bitte. Wünsche habe ich viele, aber ob sie in Erfüllung gehen, weiss der Geier. Redet man so in einem Schulaufsatz? Sicherlich nicht, aber ich kann meine Lustlosigkeit einfach nicht verheimlichen. Ewig wird man nach dem Berufswunsch gefragt, als ob es auf den überhaupt ankäme. Mein Vater hat einen Kollegen, einen feinen Mann. Der wollte Forscher werden und studierte zu diesem Zweck Geographie. Aber er wollte nicht allein forschen, und so war er froh, als er einen Freund fand, den er zum Forschen zu bekehren hoffte. Aber der Freund bekehrte ihn – zum Jurastudium. Daran möge man denken, wenn ich hier die felsenfeste Absicht äussere, Tiefseeforscher zu werden. Mein Vorbild ist Hans Hass, der freilich nur ein Flachseeforscher ist. Neulich kam er zu einem Vortrag in die Stadt. Vielleicht sollte man jemanden, den man aus Büchern kennt, in der Wirklichkeit nicht kennenlernen wollen. Es gibt eine Enttäuschung, und das Buch verliert seinen Zauber. Zum Geburtstag habe ich Flossen gekriegt, grüne Froschfussflossen, die mir den grossen Zeh fast abbrechen. Ich habe sie schon beiseite geworfen. Man muss nicht mit dem Flösseln anfangen, wenn man Tiefseeforscher werden will. Dafür besteigt man eine Tauchkugel, in der es sich gemütlich sitzen und lesen lässt wie daheim auf dem grünen Sessel, falls den jemand kennt. Natürlich kann man hinausschauen und glotzende Kraken betrachten. Interessieren mich die? Ich weiss es nicht. Vielleicht geht es mir mehr um die Tiefe und Abgeschiedenheit dort unten. Zehn Kilometer Wasser über dem Kopf zu haben, verleiht ein Gefühl von Sicherheit. Mit Tonnenschwere lastet diese Sicherheit auf der Tauchkugel, und hat sie auch nur eine schwache Stelle, so wird sie auf Nadelkopfgrösse zusammengestaucht. Oder etwa nicht? Natürlich nicht. Mit der Kraft eines Schusses würde das Wasser durch das winzige Leck spritzen und Kugel und Insassen anfüllen, bis Innen- und Aussendruck ausgeglichen sind. Forschertod! Ich sehne mich nicht danach und nehme von diesem Berufswunsch dankend Abschied. Soll doch die Tiefsee für immer unerforscht bleiben! Da gibt es Schiffsfriedhöfe, die nicht gestört werden wollen. Putzige Leuchtfische umkreisen die Gerippe der ertrunkenen und verschollenen Seeleute, Algen wachsen aus ihren Augenhöhlen, und der junge Tintenfisch spielt mit spanischen Dublonen. Ach, was ich suche, wird es nur geben, solange es keiner sieht! Wie ich mich sehne nach einem Ort, den niemand betreten darf, auch ich nicht! Aber ich als einziger würde wissen, wie schön er ist, ich würde an seinem Eingang weilen und warten, mir die Gefilde, die mir verboten sind, in allen Farben ausmalend. Ich sollte Bittsteller werden. Bittsteller ist ein Beruf für Leute wie mich, die die Sehnsucht mehr lieben als das Ziel. Als Bittsteller wird man mit hübscher Regelmässigkeit abgewiesen, hat Grund, sich zu empören und sich zu sehnen. Worum aber kann man heutzutage mit garantiertem Misserfolg bitten? Wird uns nicht alles erfüllt, ja, nachgeworfen? Es verdriesst mich, wenn ich sehe, mit welcher Leichtigkeit ich gute Zensuren schreibe, besonders im Aufsatz. Mit diesem freilich hoffe ich die verdiente Fünf herausgeschunden zu haben, und wenn dafür noch etwas fehlt, soll es der folgende Satz sein: Haben Sie, lieber Herr Studienrat, etwa in meinem Alter schon irgendeinen ernstzunehmenden Berufswunsch gehabt? Ermessen Sie an der Antwort den Schwachsinn der Themenstellung. Warum vergessen die Erwachsenen, was jung sein heisst? Wäre ich ein Mädchen, hätte ich es leichter in der Berufsfrage. Ich könnte mich auf die Natur, die mir das Kinderkriegen vorschreibt, berufen und wäre fein aus dem Schneider. Bestimmt tun das auch viele der werten Damen, die ich über ihren Heften ganz unfein schwitzen sehe, oder aber sie setzen etwas Krankenschwester- oder Kindergärtnerinnenhaftes in die Welt. Das sind Berufe, die zu ergreifen eine Ehre sein mag, die sich aber kein vernünftiges Mädchen wünscht. Wäre ich Mädchen, ich würde mir wünschen, ein Mann zu sein, denn nur als Mann hat man eine anständige Berufschance. Mädchen können höchstens Schauspielerinnen werden, und ob ihnen das bekommt, ist die Frage. Der erste Liebhaber betet sie an, der zweite verachtet sie schon ein wenig, der dritte stösst sie mit dem Fuss beiseite und überlässt sie dem Alkohol. Frau und Mutter, das ist es, was man als Mädchen anpeilen muss, und das ist noch nicht einmal das Schlechteste. Als Junge aber muss man zusehen, dass man immer stark ist, und es kann Ausdruck von Stärke sein, nicht zur Unzeit mit einem Berufswunsch zu prunken.
Sollten alle Geheimnisse enthüllt werden?
Hierauf antworte ich schlicht und einfach: Enthüllbare Geheimnisse werden enthüllt werden, egal, ob das gut ist oder nicht. Nicht enthüllbare Geheimnisse aber werden nicht enthüllt werden, selbst wenn es wünschenswert wäre, das zu tun. Wer sich dafür einsetzt, dass enthüllbare Geheimnisse verschleiert bleiben, der macht sich der Behinderung der Wissenschaft schuldig. Und wer sich für die Entschleierung unenthüllbarer Geheimnisse einsetzt, ist ein Phantast. Hiermit wäre das Thema für mich erschöpft. Aber was tun in den folgenden zwei Stunden? Also sauge ich mir ein paar Beispiele aus den Fingern. Die Funktionsweise unseres Sonnensystems war ein Geheimnis. Es wurde von vielen als solches nicht erkannt, weil sie sich mit den ptolemäischen Fehlerklärungen zufrieden gaben. Aber nachdenkliche Menschen wussten: Hier gibt es Widersprüche und Unerklärliches! Kopernikus schliesslich kam drauf – er entschleierte das enthüllbare Geheimnis zumindest teilweise. Noch meinte er, die Planeten bewegten sich in Kreisbahnen. Aber diesen Irrtum behob dann Kepler. Und Newton schliesslich fand das alles durchwaltende Prinzip, die Kraft heraus, die das System zusammenhielt und steuerte: die Gravitation. Alle Versuche der Kirche, die Wissenschaft von diesen Entschleierungen abzubringen, sind gescheitert. Bekanntlich hat man dafür sogar Menschen auf den Scheiterhaufen gebracht (Giordano Bruno). Es war alles umsonst. Ein anderes Beispiel ist die Struktur der Materie, die Spaltbarkeit des Atomkerns und die entsetzliche Energiefülle, die dabei frei wird. Vielleicht wäre es gut gewesen, die Menschen von diesen Entschleierungen abzuhalten. Ja, vielleicht hätten die Wissenschaftler selbst ihre Erkenntnisse herunterschlucken, vernichten müssen. Aber die Wahrheit bricht sich mit der ihr eigenen Brutalität Bahn. Die Nazis haben in ihrem rassistischen Dünkel gemeint, die Relativitätstheorie Einsteins als „jüdische Physik“ abtun zu können – und haben sich damit nur lächerlich gemacht. In der Religion wird manches behauptet, was einer Überprüfung nicht standhält. So kann es nach heutigem Erkenntnisstand weder einen Himmel noch eine Hölle als Aufenthaltsort der Seelen geben, ja, eine Existenz der Seele unabhängig vom Körper ist ausserordentlich unwahrscheinlich.

Diese Lehren werden mit dem Schleier angeblicher Geheimnisse umgeben, weil man glaubt, so gewönnen sie den Anschein von Wahrheit. Auch die Seelenwanderung, das Leben in einer früheren und einer nachfolgenden Existenz, gehört zu diesen Scheingeheimnissen, von denen, wenn man genauer hinschaut, nichts übrig bleibt. Mein Ich ist leider durch Zeugung und Tod begrenzt, zumindest ist das für mich eine Tatsache, von der ich mich durch die Flötentöne der Sektierer nicht abbringen lasse. Gerade in dieser Begrenztheit findet das Ich seine Individualität, auch seine Tragik. Wer bei der Verwirklichung eines grossen Plans scheitert, ist eine tragische Figur nur, wenn er nicht anschliessend als Kuh weiterlebt. Geheimnisse enthüllbarer Art gibt es jedoch noch in Hülle und Fülle. Wie z.B. kam Kopernikus auf die Idee, die Sonne in den Mittelpunkt zu verlegen? Ich habe gefunden, dass der alte Leonardo sich intensiv mit dem Strudel auseinandergesetzt hat, jener Bewegung, die in der Danke, KI!
Luft den Hurrikan, im Wasser den Katarakt, im Weltraum den Sternnebel hervorbringt: Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Kopernikus, auf welchem Weg auch immer, von diesen Überlegungen des genialen Greises erfuhr und sie umsetzte. Damit will ich seine Genialität nicht in Frage stellen. Aber unendlich viele Zusammenhänge sind möglich, sind aufklärbar, und das Fragen und Suchen des Menschen hat nie ein Ende.
Weg im Nebel
Ich trete aus der Stadtbücherei. Dicker Nebel! Die Tasche mit den Büchern ist schwer, darunter ein besonders Kostbares: American Photography 1949 mit Fotos der unvergleichlichen Burlesk-Tänzerin Winnie Garrett. Ich habe mir den Lese- und Augenproviant für die Ferien besorgt. Zwar erwarte ich zu Weihnachten ein paar Bücher – aber wer weiss, ob sie halten, was sie versprechen. Zum Glück ist die Stadt klein, der Weg wohl weit, aber leicht zu finden. Hier würde ich auch blind zurechtkommen, deshalb ängstigt der Nebel mich nicht. An die Stelle der Lampen sind verschwommene neonfarben strahlende Ballons getreten. Aha, Geknatter. Dann ist der Marktplatz nicht mehr weit, wo die Motorradhelden sich auf ihren Maschinen lümmeln. Die Armen! In der dicken Suppe werden sie ihr Publikum nicht finden. Deshalb machen sie sich mit Lärm bemerkbar. Der wird durch den Nebel nicht gedämpft, sondern noch weiter getragen und platzt unmittelbar aufs betäubte Ohr. Da gibt es ein Lokal mit plattdeutschem Namen, das wir nicht betreten dürfen. „Kiek in!“ fordert es mich auf. Ich brauche mich nicht besonders zusammenzunehmen, es nicht zu tun. Man würde mich dort nur von oben bis unten mustern mit meiner schweren Büchertasche und mich mit: „Na, Schliemann?!“ willkommen heissen. Ich habe einen Klassenkameraden, der dort regelmässig verkehrt. Das schreibe ich hier in der Hoffnung, dass man nicht so taktlos sein wird, es für eine Meldung zu nehmen und Nachforschungen anzustellen. Selbst auf der Folter würde ich seinen Namen nicht preisgeben; denn obgleich er reichlich früh anfängt mit Rauchen und Trinken, ist er doch ein guter Kamerad. Der „Gute Kamerad“ war zur Kinderzeit meiner Mutter eine Abenteuerbuchreihe für Jungen. Bisweilen erwischt man aus der Reihe noch ein Exemplar, z.B. „Hans Starck, der Elefantenjäger“. Damals ging es in Afrika noch hart und herrlich zu. Löwen und Gorillas waren noch Bestien, denen man zwischen die Augen zielte, statt sie zu fangen und elend in Zoos auszustellen. Auch in Afrika gibt es gelegentlich Nebel, aber von einer anderen Sorte. Dann trägt der Sturm den Wüstensand empor, bis die Sonne sich rötlich verdunkelt und noch durch den geschlossenen Mundspalt Sandkörner dringen – so scharf ist der Wind und so fein sind sie. Beduine mit einem Kamel müsste man sein statt Leihbüchereibücher nach Hause tragender Beamtensohn. Aber es stimmt nicht, mein Vater ist kein Beamter, sondern Richter. Darauf pflegt er voll Stolz hinzuweisen, wenn man ihn mit den Beamten in einen Topf wirft. Richter sind unversetzbar, während ein normaler Beamter sozusagen die Koffer immer gepackt lassen muss. Diplomaten können ein Lied davon singen. Heute müssen sie marokkanisch sprechen und Hammelaugen essen, morgen schon dürfen sie dem Heiligen Vater den Fuss küssen. Enorm, was es an Lebensmöglichkeiten alles gibt. Für welche soll ich mich einmal entscheiden? Diplomat wäre nicht die übelste Laufbahn. Da könnte ich, von ferne geführt und in herrlichster Verantwortungslosigkeit in immer neue Rollen schlüpfen. Bloss nie sich festlegen! Ersticken müsste ich, würde ich fürchten müssen, in einem Nest wie unserem den Rest meiner Tage zu verbringen. Hier ist es schön, Kind zu sein, weil alles klein ist, und Kinder lieben das Kleine. Aber wenn ich gross bin, will ich ins Grosse ziehen, wo niemand mich kennt. Heisse ich etwa Rumpelstilzchen? Mitnichten. Der Nebel wird lästig. Ich gehe zum Rotaugensee hinunter, da sehe ich ihn nicht, weil es dunkel ist. Nacht und Nebel ist eine komische Wortverbindung, denn Nebel sieht man normalerweise doch nur bei Licht. Hier ist es still und nass. Bäume und Büsche scheinen zu schmelzen, alles ist ein Geriesel und Getropfe. Rabrab! Das war ein Blässhuhn. Von der Sorte gibt es hier Hunderte auf dem See, sie machen die billige Masse der Vögel aus. Auch Möwen verdienen aufgrund ihrer Häufigkeit kein besonderes Interesse, während gewisse Leute beim Auftauchen eines Eistauchers aus dem Häuschen geraten. Um ein Tier wertvoll zu machen, muss man es dezimieren. Den Spatzen und den Tauben wird erst Gerechtigkeit widerfahren, wenn sie kurz vor dem Aussterben stehen. Bis dahin wird man sie weiter verachten dürfen. Hoppla! Ich habe übertrieben, als ich sagte, ich käme hier blind zurecht. Dieser Holzbalken war mir entfallen. Oder ist er neu? Himmel, was laufe ich auch bei Nacht im Nebel am Rotaugensee herum? Nichts wie nach Hause und unter warmer Lampe das Buch mit Winnie Garrett aufgeklappt!
Freithema
Nichts kann einen Schüler so verlegen machen wie die Nötigung, sich selbst ein Thema zu stellen. Denn unter dem immerhin hübschen Deckmantel der Freiheit wird ihm hier eine Falle gestellt, in die nur der Unbesonnene schnurstracks hineinläuft und zum Beispiel über das edle Fussballspiel schreibt, obgleich er doch weiss, dass der liebe Herr Deutschlehrer nichts so sehr verachtet wie diesen Proletensport. Und muss er sich dann bei der Lektüre eines solchen Aufsatzes mit Feinheiten wie Doppelpass und Abseitsfalle abplagen, so ist selbst bei ordentlichster Anfertigung der Arbeit kaum damit zu rechnen, dass er seinem Rotstift ein Gut oder auch nur ein Befriedigend abringt. Vielmehr wird er ein mattes Ausreichend ins Tor des Fussballfreundes schlenzen, während derjenige, der etwas von hoher Dichtkunst und zartduftender Poesie herunterschmiert, von vornherein einen Pluspunkt hat, und wenn das Unternehmen auch kläglich misslingt, so wird der Korrektor zwar „Schade!“ seufzen, aber er wird doch, angesichts der Schwierigkeit der Themenstellung und des Mutes, sich ihr zu unterwerfen, ein erfrischendes Befriedigend, vielleicht sogar ein munteres Gut daruntersetzen. Herzlichen Dank! Mit diesen Überlegungen habe ich mir selbst den Rückzug verbaut. Fussball geht nicht aus den erwähnten Gründen, und Poesie, ich bitte doch sehr, Herr Studienrat, würden Sie es wagen, jetzt noch darauf hereinzufallen? Ich beschreite deshalb den allseits empfohlenen goldenen Mittelweg und spreche über die Poesie des Sports. Da habe ich Sie gefangen! Jetzt müssen Sie aufmerken, ob Sie wollen oder nicht, und ich werde Ihnen beweisen, dass Ihre Verachtung des Ballspiels eines geistigen Menschen nicht würdig ist. Zu allen Zeiten und in allen Völkern wurde Sport getrieben. Ich will nicht von den alten Griechen anfangen, sonst wird ein Olympia-Aufsatz daraus mit Fackeln und Fahnenschwingen. Aber haben nicht die besten Dichter Griechenlands auf die Sieger im sportlichen Wettkampf ihre Lieder gesungen? Ich finde das zumindest bemerkenswert. Der Name Pindar fällt mir ein, über den Sie Näheres im literarischen Lexikon nachschlagen können. Was nun das Ballspiel betrifft, so hat es vor den Wettkämpfen voraus, dass Kraft und Geschicklichkeit zueinander in einem besonders guten Verhältnis stehen müssen, das im Idealfall Eleganz erzeugt. Am wenigsten ist das noch im Handball der Fall, einer Sportart, für die ich mich nicht begeistern kann, besonders dann nicht, wenn sie auf dem Feld stattfindet. Mal drängen sich alle vorm einen, mal vorm andern Tor, in der Mitte grasen die Kühe. Das war ein Zitat unseres Sportlehrers, der in diesem Punkt genauso denkt wie ich. Seit alter Zeit hat man darüber nachgedacht, wie man den Zufall im Ballspiel dadurch vergrössern kann, dass man dem Ball die Hand bzw. der Hand den Ball verbietet. Man hat Schläger eingeführt wie im Tennis, Schlagstöcke wie im Schlagball, Baseball, Kricket und Hockey. Die genialste Idee von allen, weil die einfachste und zugleich riskanteste, war die, die Hand völlig auszuschalten und den Ball nur noch mit dem Fuss spielen zu lassen. Nur Kopf und Brust wurden noch zugelassen, weil mit ihnen gezielt den Ball zu regieren eher noch schwerer ist. Der ganz auf die Hand gezüchtete und eingerichtete Mensch muss durch diese Regel sein ungeschicktestes Körperteil kultivieren und geschickt machen. Unberechenbar prallt der Ball vom Schuh bald hier-, bald dorthin, pausenlos wechselt er die Seite oder Partei, so dass im Spiel ein oft atemberaubendes Hin-und-Her der Chancen herrscht, welches das Publikum wie beim Anblick des leibhaftigen Schicksals von den Bänken reisst und ihm beim Beinahetor des Lattenschusses jenen unnachahmlichen und unvergesslichen Massenseufzer entringt, den jeder, der ihn je gehört hat, im Ohr behält, so dass er ein „arbeitendes“ Stadion aus Kilometern Entfernung am blossen Aufseufzen erkennt. Zufall und Notwendigkeit, diese beiden scheinbaren Feinde, die sich hinter den Kulissen immer in den Armen liegen, beherrschen sowohl den Fussball wie die Poesie (z.B. wenn sie sich den Reimzwang verordnet), und wie die Poesie hat der Fussball seine Regeln und Gesetze, ja, er hat sie wie ein verfasstes Gemeinwesen, weshalb ich den Fussball für ein staatspädagogisches Mittelchen ersten Ranges halte. Was hat nicht der Herr Schiedsrichter für eine Macht! Demokratisch wäre es, die Spieler jeweils abstimmen zu lassen, ob ein Elfmeter erfolgen soll oder nicht, aber da sicherlich der Fraktionszwang eingeführt würde, stünde es immer elf gegen elf, so dass ein Zünglein an der Waage geschaffen werden musste, und das eben ist der Unparteiische, der auf die Abstimmungen aus Gründen der Zeitersparnis gleich ganz verzichtet. Sollte man dasselbe nicht auch in unserem gelobten Staatswesen tun? Aber ich vermesse mich, unser Grundgesetz in Frage zu stellen, ein Vorgang, für den ich die Poesie des grünen Rasens keinesfalls verantwortlich machen möchte. Doch möchte ich nicht versäumen, noch eine Lesefrucht anzubringen, die auf den kultischen Ursprung des Ballspiels verweist. Die ersten Bälle sollen die ausgestopften Häute geopferter Tiere gewesen sein – las ich und würde ich gern glauben, weil der Mensch, als er aus dem sicheren Instinktgewahrsam der vormenschlichen Natur entlassen wurde, sogleich in die Obhut der Religion geflüchtet zu sein und so gut wie alles aus ihr abgeleitet, mit ihr legitimiert zu haben scheint. Im amerikanischen Fussball und im Rugby wird in der Tat noch mit einem eiförmigen Ball gespielt, der an ein totes Tier erinnert, so dass Charlie Chaplins Idee, mit der gebratenen Ente, auf die ein Gast wartet, ein Ballspiel zu entfesseln, gar nicht so weit hergeholt ist (in „Modern Times“).
Zur Judenfrage
Gibt es sie noch – ich meine: für uns Deutsche? Ich fürchte, nicht. Leider. Denn solange es sie gab, war sie ein nützlicher Gegenstand des Nachdenkens. Oder war schon, dass man sie stellte, der Anfang ihrer schrecklichen Endlösung? Hätte man sie gar nie stellen dürfen, damit man auf diese Art der Beantwortung nie verfallen wäre? Ich gestatte mir gelinde Verwunderung, dass man sie schulischerseits aufzuwärmen geruht. Vor kurzem wurde hier ein Hotel abgerissen. An der Brandmauer des Nachbarhauses trat eine Inschrift hervor: Siegfried Silberstein, Öle, Fette. Ein Menetekel, steht es noch immer da. Zieh deinen Hut, Pädagoge, wenn du vorübergehst. Denn Siegfried Silberstein und die anderen Krogstedter Juden sind vom Erdboden vertilgt. Niemand macht sich die Mühe, ihnen nachzuforschen, den Anteil der Juden am früheren Krogstedter Leben zu ermitteln. Krogstedt gehörte in dänischer Zeit zu den nicht von, sondern für Juden freien Städten der Region. Im Ersten Weltkrieg übertrafen sie alle anderen Bürger an nationaler Begeisterung und Spendenfreudigkeit. Einer soll Schuster gewesen sein und sein gesamtes Erspartes, rund zehntausend Goldmark, in Kriegsanleihen gezeichnet haben. Er besass, so erfuhr ich auf Nachfrage, drei wunderschöne Töchter. Wo sind sie? Man zittert, es zu fragen. Jude sein, heisst, mit dem Entsetzlichen leben – ob es nun Gott heisst oder Auschwitz. Denn der Gott, der Auschwitz zuliess, ist ein entsetzlicher Gott. Hoch rechne ich der Gymnasialleitung an, dass sie die Vorführung des Dokumentarfilms „Bei Nacht und Nebel“ nicht verhinderte. Es ist dies ein historisches Datum unseres Daseins. Seit diesem Tag rumort und gärt es unter uns und in den bürgerlichen Häusern hinter ihren storebewehrten Fenstern. Wie konntet ihr das zulassen? „Wir haben nichts gewusst.“ „Ich war in Russland an der Front, da wurde nur gemunkelt.“ Das Schreckliche ist: Dieser Massenmord ist ekelhaft. Der Magen drehte sich mir um, ich empfand kein Mitleid, sondern blankes Entsetzen. Die Benutzung eines Insektenvertilgungsmittels lässt noch heute den ruchlosen Mord als Vertilgungs- bzw. Ausmerzungsmassnahme erscheinen. Diese Massen von Brillen, von Prothesen, von Haar! In unserer Waschküche gibt es ein Regenwassersammelbecken, über dem sich im Herbst Tausende von Mücken zum Winterschlaf niederlassen. Wir schliessen die Fenster, die Stahltür, und lassen ein brennendes Insektengift-Stäbchen zurück. Drinnen erhebt sich ein gräuliches Gesumse, und hinterher kehren wir die Mückenleichen mit Handfeger und Schaufel zusammen. Wie kann man Menschen zu Mücken machen! Ich gestehe, dass ich es nicht fasse und dass ich mir wünsche, wenn ich daran denke, ein feuriger Schlund möchte sich auftun unter Deutschland und uns alle verschlingen. Sind wir noch wert zu leben? Ich bezweifle es. Ein Volk das Derartiges tut, zulässt, oder andere anstiftet, es zu tun, hat keinerlei Existenzberechtigung. Freilich ist der Antisemitismus uralt und auch in anderen Ländern zuhause. Aber wir haben handelnd weit übertroffen, was andere gelegentlich nur wünschten. Unser erster Bürgermeister nach dem Krieg war ein Jude. Da frage ich mich dann, wie er es über sich brachte, dieses Amt anzunehmen. Denkmäler gibt es bei uns für den chauvinistischen Turnvater Jahn, für den Kartätschenprinzen und späteren Kaiser Wilhelm I., in Bronze „der Grosse“ genannt, für Hans Hinrich Kröger, der das Kasino gründete, und für die Weltkrieg-eins-und-zwo-Gefallenen auf grossen Tafeln in der Kirche. Aus der früheren Synagoge am Schietgraben schämte man sich nicht einen Lagerschuppen zu machen, den abzureissen dann nur noch Entsorgung war. Auch die Krogstedter haben die Judenfrage gründlich gelöst und lösen sie immer noch, indem sie einfach so tun, als gäbe es sie nicht. Insofern darf ich meine Meinung ändern und die Themenstellung für verdienstlich halten. Ich will jetzt nicht damit anfangen, was für tolle Juden es doch gab – Freud, Einstein, Marx und Mendelssohn-Bartholdy, um nur die bekanntesten zu nennen. Selbst wenn die Juden ein einziges Volk von Gaunern, Strichern, Tagedieben, Beutelschneidern, Wucherern und Parasiten gewesen wären und keinen einzigen Jesus, Heine oder Kafka hervorgebracht hätten, müssten sie gestern, heute und auf alle Zeit unter uns leben, gaunern, strichen und wuchern dürfen – soweit die Gesetze es zulassen. Die guten Juden sind nicht das Argument gegen den Antisemitismus, sondern die schlechten. Ich kenne einen Krogstedter, der die Judenvernichtung gut fand, weil sein Vater, ein Metzger, von einem jüdischen Viehhändler ruiniert wurde. Aber wie viele Bauern haben die Kredite desselben Viehhändlers gut gebrauchen können und dank ihrer überlebt? In Krogstedt ist nach dem Krieg kein einziger nichteinheimischer Kaufmann was geworden. Den Flüchtlingen, die es mit Fleiss, mit Preisbrechen und Spekulation versuchten, hat die einheimische Clique samt und sonders bewiesen, dass für sie hier kein Platz ist – und hat sie kaputtgemacht, wenn sie emporkommen wollten. Sollen die einheimischen Kaufleute deshalb vergast werden? Manchmal bin ich in Gefahr, vor lauter Selbsthass in Vergeltungsorgien zu schwelgen. Es ist die grösste und perverseste Abscheulichkeit der Geschichte (an der die Kirchen samt Luther und Papst ein paar hübsche Maschen mitgestrickt haben), ein ganzes Volk zuerst ins Ghetto zu zwängen, und es dann, wenn es dort leben muss wie die Kellerasseln, in Massen zu erschiessen oder mit Zyklon B zu vergasen. Aber was nützt es, sich aufzuregen? Lieber will ich mich der Frage zuwenden, was mir die Juden bedeuten. Viel, ja, sehr viel. Ich stelle mir vor, ich müsste in einer Welt leben, die weder von Karl Marx, noch von Sigmund Freud, noch von Albert Einstein erklärt worden wäre, der weder Marcel Proust noch Franz Kafka den Spiegel vorgehalten hätten – was für ein stickiges, widerwärtig idyllisches Biedermeier! Zugleich aber weiss ich, dass es mir schwer fallen wird, Juden als ganz normale Menschen zu behandeln. Das Ausmass, in dem sie zu Opfern auch meiner Eltern geworden sind, umgibt sie mit einer Heiligkeit, die mir Angst macht.
Was mir das Theater bedeutet
Meine erste Begegnung mit dem Theater war ein schulisches Krippenspiel. Ich kämpfte mühsam gegen das Einschlafen, weil ja nichts fraglich war. Es war klar, dass Maria und Joseph in einem Stall würden übernachten müssen, es war klar, dass dort Jesus zur Welt kam, es war klar, dass die Engel, dass die Hirten, dass die Könige aus dem Morgenland kommen würden. Eine längst bekannte Geschichte wurde auf der Bühne nachgestellt – Einschlaftheater ist man bei allem Respekt vorm Evangelium diese Art von Bühnenereignis zu nennen berechtigt. Erst als ich einmal „Hamlet“ sah, wurde mir klar, was Theater sein kann. In den Monologen schauen wir Hamlet dabei zu, wie er um eine Entscheidungsfindung ringt. D.h. wir befinden uns mit ihm in absoluter, offener Gegenwart, und selbst, wenn wir den Inhalt des Stückes schon kennen, die Kraft des Darstellers vermag uns in den Moment des Ringens mit hereinzuziehen, wir ringen innerlich mit ihm. Dieses: mit angehaltenem Atem einem Menschen zuzuschauen, wie er handelt – oder um Handeln sich bemüht – diese Lust am offenen Tun ist es, die ich im Theater suche und manchmal auch finde. Dabei ist dann die Angst, nicht alles richtig bedacht zu haben, sehr gross – und in der Tat führt auf der Bühne – wie im Leben – das Handeln oft zu Ergebnissen, die nie beabsichtigt wurden. Der Grund liegt meist im Gegenhandeln anderer, manchmal aber auch im Widerstand der Wirklichkeit, in der Unvollkommenheit des Plans, in einem unfassbaren „Es hat nicht sollen sein“. Dieses Scheitern erleben wir als Tragik, sie löst in der Wirklichkeit Entsetzen und Schmerz, auf der Bühne einen wohligen Schauer, wenn nicht gar Schauder aus. Andere Effekte, die ich am Theater liebe, sind die Erkennungsszenen: Menschen haben einander lange nicht gesehen und erkennen einander nun unter völlig veränderten Bedingungen wieder, z.B. Orestes seine Schwester Iphigenie und diese ihn in dem Moment, in dem sie ihn auf Tauris als Priesterin opfern soll. In alten Zeiten mit ihren Kriegen und Wirren und fehlenden Personalausweisen hat es solche Szenen in der Wirklichkeit sicherlich oft gegeben; heute sind sie seltener geworden – doch vor der Haustür wie vieler frischverheirateter Kriegerwitwen hat nicht ein zerlumpter, halb verhungerter Mann gestanden! Die Tragödie ist für mich auf dem Theater das Grösste; die Komödie ist gleichsam ihre niedliche kleine Schwester. An ihr schätze ich vor allem, wenn sie mit gesalzener Kritik aufwartet. Meine liebste Komödie ist „Der Revisor“ von Gogol. In ihr hat mein Bruder einmal den Polizeimeister gegeben – eine runde und schöne Leistung, auf die ich, glaube ich, stolzer war als er. In dieser Komödie enthüllt Gogol den Opportunismus einer kleinen Stadt und ihrer Amtsträger mittels eines kapitalen Missverständnisses: Ein argloser junger Mann, der im Gasthof des Städtchens nächtigt, wird für den richtigen Revisor gehalten, und da ihm daraus massive Vorteile erwachsen – die Bürger des Städtchens bieten ihm schliesslich sogar ihre Töchter an – spielt er fröhlich mit. Der Zuschauer durchschaut, was die anderen Handelnden scheinbar nicht durchschauen, und aus diesem Mehrwissen ergibt sich die Fülle der Komik. Bei Dürrenmatt heisst die kleine Stadt „Güllen“, was soviel ist wie Jauche, und ein Mädchen kehrt in sie zurück, das hier einmal mittels einer bemeineideten Mehrverkehrseinrede zur Hure gestempelt wurde. Aus ihr ist eine Milliardärin geworden, und nun erzwingt sie mittels eines gigantischen Geldköders Gerechtigkeit. Aus diesem „Besuch der alten Dame“ kamen meine Eltern einmal völlig verstört nach Hause zurück. Mein Vater ist Richter, und ihm war, als sei ihm das Fundament seines Handelns weggesprengt worden; meine Mutter hingegen hatte sich mit dem antikischen Zorn der alten Dame identifiziert, und so gab es auch noch Streit zwischen beiden. Hieraus erhellt, wie unmittelbar das Theater in unser Leben hineinwirken kann, und ich hätte die allergrösste Lust, unser Örtchen ebenfalls einmal in den Mittelpunkt einer Komödie zu stellen, aber nicht eine alte Dame kehrte hierher zurück – sondern der Abkömmling eines hiesigen Juden, dem man hier Haus, Besitz, Amt, Würde und Leben geraubt hat. Aber würde man es wagen, in diesem schrecklichen Zusammenhang zu lachen? Gelacht werden sollte ja über das würdelose Kriechen der Täter und ihrer Kinder. Aber vielleicht ist die Zeit dafür erst in hundert Jahren reif.
Ist die Seele unsterblich?
Manchmal möchte ich es annehmen, manchmal nicht. Annehmen möchte ich es, wenn ein geliebter Mensch stirbt, weil das Vermissen so brennt und die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu tröstlich ist, als dass ich auf sie verzichten kann. Aber beim kühlen Betrachten der Lebenswirklichkeit kommt mir die Annahme nicht nur unwahrscheinlich vor, sondern absurd, wenn nicht gar lügenhaft, und Institutionen, die die Unsterblichkeit der Seele zum Kern ihrer Lehre gemacht haben, sind fragwürdig, und oft genug heucheln sie diesen Glauben nur, weil er ihre Ziele unterstützt. Wir betreten hier das spiegelglatte Parkett der Religion, die oft genug den überlebenden Seelen den Prozess macht und sie einem Gericht unterzieht, das die Schafe von den Böcken scheidet und die einen in die Hölle, die anderen in den Himmel bugsiert. Das sind für mich ebenso märchenhaft imposante, wie abzulehnende Annahmen, auf die ich mich in keiner Weise einlasse. Sie haben eindrucksvolle Gemälde und Dichtungen hervorgebracht, mit deren Verstehen und Deuten ich mich gern einmal befasse – aber dann ziehe ich mich daraus auch wieder zurück und erfreue mich eines Lebens ohne Höllenangst – aber auch ohne die Hoffnung darauf, mir durch Gutestun einen Himmel verdienen zu können. Hat nicht das Erbarmen mit einem oder einer Gestrauchelten seinen Lohn in sich? Und schleppt sich nicht auch der Mörder lebenslang mit einem schlechten Gewissen ab? Er mag es durch weitere Morde betäuben, aber sein Lebensglück ist dahin. Als Kugelschreiber noch eine vielbestaunte Neuerung waren – wir stippten zum Schreiben noch den Federhalter ins Tintenfass – hatte mein Banknachbar ein solches tolles Ding, um das ich ihn höllisch beneidete. Er vergaß einmal, es ins Etui und dann in den Ranzen zu stecken und ließ es auf der Bank liegen. Ich konnte nicht widerstehen und nahm das Teil an mich, nahm es mit nach Hause und schrieb mich auf sofort wieder vernichteten Blättern satt daran. Er vermisste es, tröstete sich aber damit, dass er von seinem Onkel bestimmt ein neues bekomme. Trotzdem plagte mich das schlechte Gewissen und ich legte den Kuli in das Fach unter der Bank. Dort fand er ihn, schlug sich vor die Stirn und rief: „Warum habe ich nicht gleich dahin geschaut?“ Mein Diebstahl, nein, meine Unterschlagung war unentdeckt geblieben. Aber die Erinnerung daran quält mich noch heute. Was ich damit sagen will: Auch ohne Unsterblichkeit der Seele lässt es sich leiden und leben. Und haben denn nur Menschen eine Seele, die unsterblich sein möchte? Unser Wotan hat auch eine, treu und lieb, wie er mich oft anschaut! Wenn es im Jenseits Hunde gibt, lasse ich mit mir reden und wünsche mir wenigstens schon mal eine Unsterblichkeit der Seele!
Ein Lieblingslied, das ich hasse
Auf eine solche Themenstellung können auch nur Sie verfallen, Herr Dr. Fuss! Und ich bin sicher, dass ich der einzige bin, der dieses Thema wählt. Aber wie dem auch sei – dies Thema trifft etwas in mir, worüber ich nachdenken will. Denn es gibt ein solches Lied wirklich. Vielleicht sollte ich beschreiben, wann und wo ich’s kennengelernt und gesungen habe. Das war in der Turnhalle unseres Gymnasiums, das ich damals noch gar nicht besuchte. Ich war mit meinem Bruder für den Turnunterricht eines arbeitslosen Turnlehrers angemeldet, der dort am Donnerstagnachmittag von 16 bis 18 Uhr stattfand. Warum Herr Bolduan arbeitslos war, weiss ich nicht. Es hatte sicherlich etwas mit der Vergangenheit zu tun. Wir bewunderten diesen athletischen Mann, der, wenn er gute Laune hatte, uns halsbrecherische Übungen an den schwingenden Ringen vorturnte. Wegen ihrer grossen Gefährlichkeit sind diese Übungen heute verboten. Aber sie sollen noch auf der Olympiade von 1936 erlaubt gewesen sein, und Herr Bolduan soll an ihr teilgenommen haben. Aber das wurde nur hinter vorgehaltener Hand gemunkelt. An die Wand der Turnhalle stand ringsum in grossen Buchstaben geschrieben: „LASS DEN HELDEN IN DEINER SEELE NICHT STERBEN. NIETZSCHE“ Dieser Satz berührte mich unangenehm, weil ich mir einen von mir unabhängigen Helden in meiner Seele vorstellen weder konnte noch mochte. Als einer, den ich sterben lassen konnte, kam er mir vor wie ein Haustier, das gefüttert werden muss. Der einmal wöchentlich stattfindende Turnkurs wurde jeweils beendet, indem wir, etwa dreissig Jungen, uns auf die langen Bänke verteilten und ein Lied anstimmten, meistens eben jenes verhasste Lieblingslied, von dem hier die Rede sein soll. Seine erste Strophe lautet:
„Kein schöner Land in dieser Zeit
als hier das unsre weit und breit,
wo wir uns finden
wohl unter Linden
zur Abendzeit.“
Sie werden dies Lied sehr gut kennen, Herr Dr. Fuss, denn es wird schon seit über hundert Jahren gesungen. Warum ist’s nun ein Lieblingslied – und warum hasse ich’s trotzdem? Es schmeichelt sich mit seiner gefälligen Melodie ein, es hat sich auch in mein Ohr und Herz eingeschmeichelt und gefiel mir nicht zuletzt deshalb, weil’s im Gegensatz zu dem martialisch-komischen Text an der Turnhallenwand ganz und gar unheldisch, ja, lieblich, beinahe weiblich, süss und mütterlich allumfassend klang. Ausserdem sangen wir’s im Zustand verschwitzter Erschöpfung und Angeregtheit, es legte sich wie ein Band um unsere in Riegen aufgeteilte Gruppe, es heimelte an. Dann aber kam einige Jahre später der Tag, an dem wir „Nacht und Nebel“ sahen, den französischen Dokumentarfilm über das KZ Auschwitz. Mit diesem Tag endete die naive Nachkriegszeit, endeten die etwa zehn Jahre, in denen Eltern und Lehrer versucht hatten, uns einzulullen in das Gefühl, es habe sich ausser der unverdienten deutschen Teilung nichts wirklich geändert seit der „guten alten Zeit“. Wir erwachten zu einer Wirklichkeit, in der das Lied „Kein schöner Land“ keinen Platz mehr hatte. Es gehörte zu den Einlullversuchen wie der deutsche Heimatfilm, das Verschweigen, das Beschönigen und das „Wir haben nichts gewusst“. Ja, mehr noch: Weil dieses Lied eine so bezaubernde Wirkung auf mich gehabt hatte, begann ich jetzt, es zu hassen wie vielleicht ein Mann ein bildschönes Mädchen hasst, das ihn hereingelegt, betrogen und ausgenutzt hat. Ich forschte nach und stellte fest, dass ein überaus umstrittener Musiker namens Wilhelm von Zuccalmaglio dieses wahrscheinlich eigene Machwerk in eine Sammlung vorgeblich gefundener Volkslieder geschmuggelt hatte. So haftete ihm schon der Geburtsfehler der Lüge und Anmassung von Volkstümlichkeit an, es war gleichsam das Gegenstück zu „Ich weiss nicht, was soll es bedeuten“, das die Nazis zum Volkslied erklärt hatten, um den Namen seines jüdischen Dichters verschweigen zu können, was ich hiermit auch tue – denn er ist so berühmt, dass es überflüssig ist, ihn zu nennen. So hasse ich also nun ein ehemals geliebtes Lied und danke dafür, hier darüber nachzudenken von Ihnen angeregt worden zu sein, sehr verehrter Pädagoge!
Lieber rot als tot!
Propagandageschwätz unserer lieben Linken! Am besten, man hört gar nicht hin. Sie wollen uns weismachen, dass wir nur als Kommunisten eine Überlebenschance hätten. Ich gestatte mir, anderer Meinung zu sein und wage es, in aller Dezenz an einen wunderbaren Kommunisten zu erinnern, dem sein Kommunismus nicht viel genützt hat. Sein Name war Trotzki. Stalins langer Arm ereilte ihn im Exil. Ein anderer Kommunist, den ich zu schätzen mir erlaube, mögen mir auch die Genossen mit entblösstem Achtersteven ins Gesicht springen, ist der Erzpropagandist Münzenberg. Das Schlimmste, was man über ihn sagen kann, ist, dass er unabsichtlich zum Lehrmeister des diabolischen Goebbels wurde. Ansonsten war er ein Kommunist von Geblüt und reinsten Wassers. Was haben sie mit ihm gemacht? Aus einem französischen Lager vor den Nazis fliehend, ist er von Schergen Stalins ermordet worden. Welchen Grund habe ich also, mich als Kommunist vor Kommunisten in Sicherheit zu fühlen? Der Satz homo homini lupus darf sinngemäss auf Kommunisten angewandt werden: Jeder Kommunist ist dem anderen ein Wolf. Mit Sicherheit würde es mir nicht gelingen, dem Verdikt des Abweichlers, des Renegaten, des Revisionisten, des Reformisten, des Spalters, Trotzkisten, Refraktärs oder einfach Verräters zu entgehen – dafür habe ich eine viel zu vorlaute Klappe. Irgendwann einmal würde mir bei aller Vorsicht ein Wort herausrutschen, das ich dann für immer als Kainszeichen auf meiner Stirn trüge. Irgendein depperter Führungsgenosse würde mich dafür zur Verantwortung ziehen, man würde mir einen heiteren Schauprozess angedeihen lassen und mich dann schwuppdiwupp in den Steinbruch, nach Workuta oder in den Eisenbahn- oder Kanalbau stecken, wo ich bei Mangelernährung und fehlender Gesundheitsfürsorge alsbald eines ungemütlichen Todes entschliefe. Töten durch Arbeit! Das ist ein Rezept, das Hitler Stalin oder Stalin Hitler abgeguckt hat, beide geben einander in diesem Punkt nichts nach. Was man zu Stalins Gunsten sagen kann, ist zweierlei: Erstens war er kein Rassist, sondern ermurkste ohne Ansehen der Person, was Hitler auch besser getan hätte, wir stünden dann heute weniger besudelt da, zweitens hat er zur Niederwerfung des Faschismus beigetragen – freilich erst, nachdem er mit ihm ein hübsches Verträglein geschlossen hatte, den Ribbentrop-Molotow-Pakt, mit dem die beiden Chefgangster Osteuropa aufteilten, als ob es Chikago wäre. Ich bin den Russen von Herzen dankbar für den Beitrag, den sie zur Erledigung Hitlers geleistet haben; für den Kommunismus können sie nicht, er wurde ihnen aufgezwungen von anmassenden Intellektuellen, und in Abwandlung eines Wortes von Stalin darf ich sagen: „Die Lenins kommen und gehen, das russische Volk bleibt bestehen!“ Warum nun ist der Kommunismus eine so viel mächtigere Ideologie als der Faschismus, obgleich beide einander hinsichtlich meuchlerischer Gelüste durchaus das Wasser reichen können? Der Grund ist ganz einfach der, dass der Rassenkampf eine schnell durchschaubare vulgärdarwinistische Idiotie ist, wohingegen für den Klassenkampf so einiges spricht. Ist es nicht wirklich so, dass die Betuchten sich in ihren Bratenvierteln gegen uns Ärmere abschotten, uns den Zutritt zu ihren Kreisen verwehren und nur an einem interessiert sind: Ihre Privilegien mittels Erbrecht über die Generationen zu retten? Freilich hat sich zwischen das von Marx konstituierte Proletariat und seinen bürgerlichen Antagonisten längst eine dritte Klasse geschoben: Die der gesichts- und gesinnungslosen Angestellten, die sich mit ihrem Chef identifizieren, obgleich er ihnen pausenlos fröhliche Arschtritte versetzt. Politischer Arm dieser neuen Klasse, die von Marx nicht vorausgesehen wurde und die sein gesamtes imposantes Gedankengebäude zum Einsturz bringt, ist die Sozialdemokratie – auch sie zwischen Kritik am Kapitalismus und hündischer Liebedienerei hin und hergerissen. Trotz ihrer Zwiespältigkeit, vielleicht aber auch gerade ihretwegen ist die Sozialdemokratie das Rückgrat einer Politik, die sagt: Weder rot noch tot! Hierauf setze ich und wäre völlig unpathetisch bereit, sogar mein Leben als Soldat dafür einzusetzen.
Dreigeteilt – niemals!
Aber warum denn eigentlich nicht? Sind nicht viele Dinge und Wesen, ja, sogar der Mensch, und, noch erstaunlicher, der Gott der Christen, dreigeteilt? Warum also nicht unser gutes altes Vaterland? Ich sähe keinerlei Fortschritt darin, wenn man die Stücke, in die man es verdientermassen zerschlug nach dem von uns begonnenen und verlorenen Krieg, wieder zusammenfügte. Sommerfrucht, Winterfrucht, Brache! Das ist die Dreifelderwirtschaft, und sie war ein gewaltiger Fortschritt, als irgendein Zisterziensermönch sie im zwölften Jahrhundert erfand. Warum zur Einfelderwirtschaft zurückkehren? Ich, Überich, Es – was für eine fruchtbare Dreiteilung dessen, was wir vereinfachend uns Seele zu nennen gewöhnt hatten! Warum sollen nicht Deutsche als Minderheit in Polen leben? Warum sollen nicht Deutsche das Experiment des Kommunismus in der ehemaligen Sowjetzone, heutigen DDR, vorantreiben helfen? Warum sollen nicht Deutsche hier in den ehemaligen drei westlichen Besatzungszonen den Kapitalismus sozial zu mildern und zu bändigen suchen? Haben nicht Deutsche bis ins vorige Jahrhundert in Dutzenden von Staaten und Kleinstaaten gelebt, ohne daran Schaden zu nehmen? Leben nicht ohnehin auch noch Deutsche in Russland, in Südwestafrika, in Chile, Kanada, den Staaten, Paraguay und Argentinien? Ist nicht die Zerstreuung eines Volkes in die Welt eine grosse Chance? Dankt Deutschland nicht seiner Zerrissenheit die Werke, die ihm den Titel eines Landes der Dichter und Denker einbrachten? Und hat nicht die Einheit es zu jenen Verbrechen verführt, die es zum Land der Richter und Henker stempelten?
Ich glaube, ein wahrer deutscher Patriot darf ein einiges, starkes Deutschland nicht wollen. Es wird sich nur wieder auf stiernackige Machtpolitik werfen, statt sich auf das unsichtbare Reich des Geistes zu konzentrieren. Kühn fordre ich deshalb: „Dreigeteilt? Immer!“ Leider habe ich nicht die Mittel, um diesen Slogan öffentlichkeitswirksam zu plakatieren. Deshalb plädiere ich für die umgehende Gründung einer Partei, die sich nicht nur die Aufrechterhaltung der Teilung, sondern die weitere Zerstückelung Deutschlands zum Ziel setzt. Verdient nicht das edle Volk der Franken, das immerhin Deutschlands besten Wein anbaut und in die Bocksbeutel genannten Flaschen füllt, längst die Eigenstaatlichkeit, d.h. die Loslösung von Bayern? Und sollte man sie nicht auch den Badenern gewähren, die jetzt an die ihnen wesensfremden Württemberger gekettet sind? Was sage ich von den Oldenburgern? Sie werden nie Hannoveraner werden! Den Dithmarsen aber, diesen letzten störrisch-eigenständigen Bauern auf deutschem Boden, täte es gut, wenn man ihnen die bei Hemmingstedt vergeblich glanzvoll verteidigte Freiheit zurückerstattete. Lübischer Hanseatenstolz aber soll sich nicht länger unter das Joch des öden kaiserlichen Marinehafens Kiel beugen müssen! Und nicht nur eigene Länder sollten diese Stämme und Städte bekommen, sondern wie vorzeiten eigene Souveränität! Lübische Aussenpolitik, lübisches Recht – das war einmal was und soll wieder was sein! Zweierlei liesse sich auf diesem Weg erreichen: Die Welt würde von dem Alptraum neuerlicher deutscher Aggressionen und Expansionsgelüste befreit, und die Deutschen, zurückgeworfen auf die geringen politischen Möglichkeiten vieler Kleinstaaten, würden wieder das Träumen beginnen und die Welt mit den unglaublichsten und förderlichsten Werken beschenken. Ach, wie sehr ich mich sehne nach einem solchen neuen Biedermeier! Wir Deutschen ähneln nun einmal jenen nordischen Berserkern, die man in Ketten halten musste, weil sie sonst alles kurz und klein schlugen. Wer uns Ketten anlegt, rettet uns. Wer uns zerstückelt, stärkt uns. Wer aber unsere äussere faktische Stärke und Einheit will, den sollte man als Staatsverbrecher in den Kerker werfen!
