Was ich in Foren so schrieb

Die alles schrieb und veröffentlichte ich in verschiedenen Literaturforen, die um 2000 wie Pilze aus dem Boden des Internet hervorsprossen, sich später aber den social media geschlagen geben mussten.

Gebrochene Zeilen

Neue Zeitrechnung

1944
Rosshaar sei es, schrie meine Mutter,
Rosshaar! Und kein Menschenhaar!
Aber ich ekelte mich halbtot
vor dem blankbraunen Haar,
das aus meinem Kopfkissen quoll.

1949
Aus dem Drainagerohr schimmerte mir etwas Gelbes entgegen.
Ich griff hinein und hielt einen Salamander in der Hand,
der verdutzt in die Runde sah und davonlief, als ich ihn ins Gras setzte.
Es war ein Krabbeln und schleimiges Sichbewegen in dem Drainage-Rohr,
die Stärkeren und noch Munteren waren auf die Schwächeren gestiegen,
und ganz zuunterst lagen die bereits toten –
Salamander, Eidechsen, Blindschleichen, Frösche, Kröten.

1952
Über der Regenwasser-Zisterne in der Waschküche
sammelten sich im Spätherbst
Zehntausende von Mücken.
Wer liebt schon Mücken?
meine Mutter kaufte Jakutin-Räucherstäbchen,
wir verschlossen Fenster und Tür der Waschküche.
Bald darauf drang ein Jaulen an unser Ohr,
das zu einem Heulen anschwoll,
unter dem das Haus erbebte, 
und wenn es erlosch, fegten wir die Leichen hinaus.

1955
Mit „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais
begann eine neue Zeitrechnung.
Zwischen uns und unseren Eltern brach eine Kluft auf,
die sich nie wieder schloss.
Mit meiner Mutter, die kürzlich starb,
habe ich über diese Dinge nie sprechen können,
„Uns Deutschen hat man schon immer alles Böse in die Schuhe geschoben!“
und als Beweis ihrer Toleranz
zitierte sie oft das Gebet
zur Einleitung des Schabbat,
das sie in der jüdischen Familie gelernt hatte,
in der sie Kindergärtnerin war:
Baruch ata Ado-naj,
Elohenu Melech Ha’Olam,
ascher kideschanu
bemizwotaw, weziwanu
lehadlik ner schel Schabbat
kodesch.
Ihr habt doch keine Ahnung von Juden!
Damit stopfte sie uns den Mund.

Dahin, dahin!

Die Renault Landaulette, polter,
die Sunbeam Limousine, röhr, schnareng,
der RollsRoyce Phantom, wummer, wummer!
Das Lächeln, mit dem sie sagt: „Ich denke darüber nach!“
Die schöne Schulter der Lady  –
und die Hüte! Dieser Prunk auf Damenköpfen!
Cadillacs, Ford Ts, Hudsons, Fiats, Daimlers
mit den senkrechten Winschutzschreiben,
der Wettlauf beim Start,

Danke, KI

und im Rennen die rasenden Namen
von Dunlop, Good Year, Continental, Michelin,
der Duft von Reifen-Abrieb und Gasoline!
Zylinder, bedrohlich getürmt auf Herrenköpfe
und rhythmisch arbeitend unter Kühlerhauben,
Mobiloil mit seinem Pegasus,
auf den ich mich setzte
und schon fiel mir diese Hymne ein:

O herrliche Automobilwelt der 20er Jahre
nicht unseres, des vorigen Jahrhunderts!
All dieser Lack, dieses Blankgewienerte,
diese duftenden Lederpolster
und die Orientzigarette im Mundwinkel,
so viel Verwegenheit, auch bei den Frauen,
die sich den Platz hinterm Volant nicht nehmen ließen,
diese naive Freude an Tempo, Beweglichkeit, Freiheit
und an dem erfrischenden Fahrtwind,
Wo ist sie hin? Wo ist sie hin?

Verloren! Verloren, auf immerdar,
verschwunden im Hades der Vergangenheit –
Aber dort, auf den Asphodelenwiesen,
liefern sie sich, schnareng, brüll! Rennen, bei denen man
über die Toten nur lacht!

Fukushima

Die Kirschknospe welkt,
stirbt geschlossen dahin. Sie
mag Kernschmelzen nicht.

Elegie (2002)

Wieviele Hektoliter Tinte
sind von selbsternannten Dichtern
verbraucht worden, um die Schönheit der Natur zu besingen!
Alles nur, um zu verschleiern und zu beschönigen,
dass wir sie ausplündern, drangsalieren, verderben, niedermachen, unterjochen, ausnutzen, verhunzen, besudeln, missbrauchen und zerstören,
wo immer unser nächster Vorteil es erheischt.
Insofern sind die Dichter immer schon
die Ideologen und Verschleierer,
die Lügner und Schönredner,
die heuchelnden Missionare des naturvernichtenden Systems gewesen,
dem keiner von uns, selbst der radikalste Einsiedler nicht, sich entziehen kann.
Wird die Natur es vermissen, wenn ihre Schönheiten nicht mehr gespiegelt werden
von einem Bewusstsein, das imstande ist, sie wahrzunehmen, zu besingen und aufzuschreiben?
Nein. Die Natur liebt ihr Konstrukt, das sich Mensch nennt, nicht.
Sie lässt es sich in den Untergang vermehren,
um es endlich loszuwerden.
Einmal zuckt sie mit der Schulter eines Vulkans
und reisst Hunderte ins Nichtsein.
Das nächste Mal
können es Milllionen sein – es ist ihr – und dem Gott, der sie schuf oder ist – egal,
ja sie belohnt Stätten des Grauens
mit besonders schönen Himmelsverfärbungen.
Ob Saurier durch die Landschaft trampeln, die sich mit blendender Frostklarheit in die Ferne verliert,
ob Nilpferde, Menschen, Rinder, Ratten, sie begrünt sich,
und selbst wenn ihr die Lust dazu auch verginge,
sie hat Millionen von Planeten in Millionen von Kosmen,
auf denen sie andere und noch hundertmal abenteuerlichere Experimente anstellen kann als das mit uns.

Mannomann (2003)

Ich weiß euch wohl ein Schloss, so hoch gebaut
am Ufer jenes Sees, der mich gebar,
wenn halb der Mond dem Mars sich anvertraut,
dann tanzt dort meiner Flammen bleiche Schar.

Im Gaslichtschimmer kellnern steife Raben,
dienen Getränk den matten Tänzern an,
die, kaum dass sie davon gekostet haben,
bald hüpfen und bald krächzen, Mannomann.

Die dürre Phyllis dort, vor Kummer grau,
sie walzt mit ihm, den sie mir vorzog, doch
er schoss sich in die Stirn ein rundes Loch,
verhöhnend Kinder und die treuste Frau.

Die einst so Fröhliche, die Akne-Narben
verzieren immer noch ihr Antlitz schön,
Melite führt zum Elfenreigen den,
der ihrem Leben austrieb alle Farben.

Und dort die Zierliche mit blut’gen Beinen,
verlief sie sich im frommen Dornenhag?
Chloe nahm Gift an meinem Hochzeitstag
und bat mich brieflich, nicht um sie zu weinen.

Die an der Wand, ein schmollend Mauerblümchen,
noch immer wartend, dass der Retter naht –
was für ein aufgebrezelt Altertümchen –
in Phrynes Brüsten keimte böse Saat.

Dich auch, mein Daphnis, treffe ich hier an –
Wir waren Freunde – oder etwa nicht?
Warum hast du’s verleugnet? Mannomann,
ist Ehrlichkeit nicht erste Freundesflicht?

Und jener dort – was sitzt er so allein
auf der Armsünderbank, die Stirne schwer
in kalte Hand gestützt? Sollt‘ es die meine sein?
O weh – ich bin es selbst – es ist kein „er“!

Doch weiter geht der Tanz; `s ist Damenwahl,
sie trotten und sie rocken, walzen, balzen,
`s wird Rabenbier gereicht; die Kellner schnalzen,
ich trink‘ und klatsche ab so kahl wie fahl.

Bei all dem Treiben ist es gut zu wissen,
dies Schlösschen, das so feenhaft in die Nacht
einstmals gestrahlt, ist lange abgerissen,
hat einer Kreislaufklinik Platz gemacht.

Irgendwo (2003)

Wie gerne führe ich nach Irgendwo,
um irgendeine Tante zu besuchen,
benutzte dieser Tante blaues Klo
und hörte sie beim Kochen leise fluchen.

In Irgendwo, da wär ich gern zu Haus,
verbrächte meine Tage an den Gleisen,
ich hätte einen Freund, der hieße Klaus,
und irgendwie befänd ich mich auf Reisen.

In Irgendwo, da käm ich gern zur Welt,
und hielte dies für mein Geschick und Fatum,
mein Väterlein verdiente dort sein Geld,
ich lernte ferre, fero, tuli, latum.

In Irgendwo wär ich wohl gerne Greis,
und hörte Kinder, die mich schrill verspotten.
Ich legte manchmal mich aufs Bahngeleis,
um dann zurück ins Altenheim zu trotten.

In Irgendwo möcht‘ ich begraben sein,
die Abendsonne soll mich dort bestatten,
und wenn der letzte Zug fährt, sei er mein
Befördrungsmittel in das Land der Schatten.

Himmelsstürmer

Merkur, Merkur, allein Merkur
kann stillen mein Verlangen,
ich brauch auf unser Hausdach nur
zu steigen ohne Bangen.

Ich sah sie alle: Venus und
den rötlichen, den Mars,
zu schweigen von Jupiters Rund,
dem König dieses Jahrs.

Der mit den Ohren, wie ihn nennt
mein kleiner Bruder dumm,
dies ringgeschmückte Monument
ist mein Elysium.

Allein der kleinste, er entging
meiner Planetengier,
doch heut‘, ich weiß es, da bezwing
ich auch dies selt‘ne Tier!

Nur wenige Minuten ist
der mit den Flügelfüßen
zu seh’n, drum raus, bevor die Frist
verstrich, ihn zu genießen!

Hier sitz ich nun auf Daches First,
fröstle im Morgenwehen,
und ahne: Ach, du Armer, wirst
den Merkur nimmer sehen.

Der Sonnenball kam viel zu schnell,
ja, schneller als erlaubt!
Von fern dringt an mein Ohr Gebell –
gibt es ihn überhaupt?

Durchwachsen

Die Eichen, schwarze Strünke, stehn sie nur leicht bewegt,
schwarz auch die Silhouette vom ahlefeldschen Haus,
darüber blauer Himmel, doch nur ein schmales Band,
und dann die Pluderhosen, vom Sonnenlicht durchstrahlt.

Natürlich war die Landschaft auch ohne Windrad schön,
reichen Ertrag verspricht sein eifriges Gekurbel.
Schwarz steht die Silhouette vom ahlefeldschen Haus,
und hinterm Scheunenneubau ein Berg von schwarzem Kalk.

Die Wiesen große Pfützen, in denen Gänse schwimmen,
ein Kiebitz kam zurück, er trotzt den Mähmaschinen,
reichen Ertrag verspricht des Windrades Gekurbel,
es duftet von den Deichen nach Lämmerrumgehopse,

darüber blauer Himmel, doch nur ein schmales Band,
die Gänse fordern laut einand‘ zum Aufbruch auf,
die Eichen, schwarze Strünke, sie stehen leicht bewegt,
durch graue Pluderhosen strahlt grell die Kernfusion.

Paris 1942

Der Spiegel, die Gitarre und der Tisch,
ein Weinglas und ein Tellerchen Oliven,
steht nicht ein Degen an den Tisch gelehnt?
Und, nicht zu übersehn, sein Griff ist rot.


Warum ist alles schräg, verkantet, schief?
Der Spiegel reflektiert ‘nen düstren Schlitz,
und die Zigarre, die am Tischrand liegt,
ist angeraucht und zeigt ein Restchen Asche.


Die Saiten der Gitarre, sicher Darm,
sie sind zerrissen, hängen schlaff herab,
gelangen übers Schallloch nicht zum Steg,
ja, aus den Fugen ist des Malers Welt.


Des Spiegels, der Gitarre blaue Schatten
bringen ins Gleichgewicht das aus dem Lot Geratne,
das Bild träumt von verlorner Harmonie,
der Degengriff ist sicher blutbeschmiert.

Das Herrenzimmer

Zwei Stühle, Louis Quinze, ein Vertiko,
drei Bilder und ein Spiegel an der Wand.
Der Läufer stamme wohl aus Isfahan,
vermutete die längst verstorbne Tante.

Drei Bilder und ein Spiegel an der Wand,
ein Sekretär mit wohlverschlossner Klappe,
an ihm schrieb die Verstorbne manchen Brief,
und auf dem Sekretär die alte Uhr.

Den Läufer schmückt ein Wort in fremder Schrift,
und auf der Uhr erhebt ein Adler sich,
zwei Stühle, Louis Quinze, ein Vertiko,
und eine Kaffeetasse, die noch dampft.

Ein Stapel Feldpost ruht vergilbt im Fach,
bei Mariupol vermisst, der sie gesandt.
Die Uhr ist stehn geblieben auf halb zehn,
der Adler setzte wohl zum Rauben an.

Falshöft

Das Meer, graublauer Stahl, unsichtbar seine Quelle,
der Horizont, gerad, wie mit Lineal gezogen,
darüber baut sich auf ein weißer Wolkenturm,
ganz unten grauer Sand, von Fußspuren gezeichnet.

Im Sand die schwarzen Krusten, wahrscheinlich toter Tang,
ein Segel winzig klein in weiter Wasserwüste,
für sie, die es regiert, bin ich wohl unsichtbar,
das ist nicht neu für mich, geseh’n hat sie mich nie.

Und über allem baut sich auf ein Wolkenturm,
ihr Name Schall und Rauch, in Slangenburg kremiert,
das Segel, winzig klein, kreuzt klug dem Wind entgegen,
ein erster Blitz schießt aus dem weißen Wolkenturm.

Gewalt kann nicht erschüttern das Horizontlineal,
die Menschen sind gefloh’n, die einst hier Ball gespielt,
nur sie, die mich nie sah, hält weiter eisern Kurs
auf jenen Punkt, an dem sich Parallelen schneiden.

Le gouffre de Padirac

Oben vom Rand Stimmen, Urlaubsgelächter,
zwei Männer streiten sich, ob es ein Tor war –
sie leben oben am Rand, ich aber unten am Grund.
Ich kann tiefer nicht mehr fallen, sie hingegen
verharren selbstgefällig und dumm
in fröhlich-unbekümmerter Urlaubsstimmung,
als ob nichts wäre und als ob es nicht auch sie
aus heiterem Himmel treffen könnte.
Nein, sie leben einfach ihr Leben
und ich hätte es auch gelebt, hätte
in Urlaubsstimmung gelacht, hätte
Pastis getrunken, Ball gespielt,
mich bei Madame Blanchard zum Essen
von Schwarzwurzeln im Schlafrock
angemeldet in ihrem angenehm kühlen
Salon mit den Louis-Seize-Möbeln …
Nein, es steht mir nicht zu, herabzuschauen auf die,
die sich da oben ihres Lebens freuen.
Sie sind es, die herabschauen können auf mich,
der ich am Grunde des Gouffre gelandet bin.
Und selbst wenn sie
im rasselnden Fahrstuhl
zu einer Besichtigung herabkommen,
um sich fröstelnd zu gruseln,
nehmen sie mich nicht wahr,
denn ich bin den vielen Steinen,
die hier im Halbdunkel herumliegen,
zum Verwechseln ähnlich.

Sonette (sonnets)

Heimkunft (2004)

Wo eine Mühle steht in fernem Land,
ist dort mir wohl ein Hafen noch bereitet,
in den das Lebensschifflein unverwandt
zu kreuzen strebt, von starker Hand geleitet?

Der Mast brach weg, die Segel sind zerrissen,
und einen Motor hat es nie gehabt.
Das Ruder morsch, die Taue schwer verschlissen –
mich hat als Kind schon Meeresluft gelabt.

Ja, dorthin will ich – und ich traue
noch einmal meinem Glück und innern Sinn.
Ich rieche Brandungsschaum und spür die laue

vertraute Luft, es tönt Watvogelmoll,
am Abendhimmel glänzt die Venus, in
den Gärten blüht’s, und eine Stimm‘ erscholl.

Die Überlistung (2021)

Ein Feind, so winzig klein, dass niemand ihn je sah
mit unbewehrtem Blick, doch ärger als die Wut
von Schwerbewaffneten, kommt er uns allzu nah,
dringt ein in unsern Leib, erobert unser Blut,

beschädigt Lunge, Herz, zerstört die Lebenskraft,
erbarmungslos und wüst wie eine Feuersbrunst.
Verzweifelt warf sich ihm entgegen Wissenschaft,
trieb ihn zurück und hat mit unfassbarer Kunst

ihm abgetrotzt den Bau seiner geheimsten Waffe,
damit sich unser Blut dagegen wirksam feit,
der infizierte Mensch nicht hilflos mehr erschlaffe.

Dank dir, o Wissenschaft, sei wahrhaft benedeit!
Verfrüht wär Jubel noch, doch wartet die Karaffe,
gefüllt mit Wein, dass wir sie leeren leidbefreit!

Ein Dreimalhoch (2021)

Auf eine Winzigkeit, die, tausendfach verleugnet,
gerade schwingt die Keul‘ in Schwarzertodmanier,
ein Virus, das wir uns selbstherrlich angeeignet,
es lebte stillvergnügt in einem Fledertier.

Jetzt mordet‘s hemmungslos, dringt ein in jede Feste,
zerstört die Lungen, Nieren und auch Herz und Hirn,
in Hütten wütet es, verschont auch nicht Paläste,
die Wissenschaft schlägt sich verzweifelt vor die Stirn.

Doch ist der Mensch nicht selbst schon längst sein ärgster Feind,
der maßlos beutet aus den blauen Erdenball,
der tödlich ihn erhitzt, mit Fluten überschwemmt?

Als letztes Warnsignal das Virus jetzt erscheint,
das uns erretten kann vor allzu tiefem Fall
und unsrer Hybris sich mit Macht entgegenstemmt.

Falter (1970)

Nimm sie dir vor, die Zeichnungen von Bosch,
und schau ihn an, den Heereszug der Krüppel:
Wann immer Eisen Menschenfleisch zerdrosch,
ob es bei Cannae war, bei Murten, Düppel –
gab’s nicht nur Tote und den großen Sieg,
gab’s abgeschlagne Beine, Hände, Hoden,
Gedärm im Schild – und neue Marschmusik,
als wärs Kulturarbeit, das Gliederroden.
Und doch ist dieser Kampf mit blanker Waffe
nicht ohne Reiz für den, der ihn gewinnt:
Befleckte Hände heben die Karaffe,
aus der Erwählung durch die Kehlen rinnt.
Was hilft es mir, dass ich den Krieg verdamme?
Ich schwirre wie ein Falter um die Flamme!

Hauch (2022)

Glas, Stahlbeton, so ragen diese Türme
in einen Morgenhimmel voller Rot,
darin die Massen Mensch und ihr Gewürme,
dies Irren zwischen Pflicht, Erotik, Tod.

Noch trägt sie der Planet durch alle Stürme,
beschert Genuss ihnen trotz aller Not,
ich überleg, wie ich aus all dem türme
und mir verdien im Forst mein täglich Brot.

Doch alle Bäume sind verdorrt zu Strünken,
gewaltig wütet Borkenkäfers Macht.
Ich bring sie Stamm um Stamm zum Krachen, Sinken

und wandre in die sternenklare Nacht,
die mich Verzweifelnden lässt Tröstung trinken
aus einem Sein, das über alles wacht.

Largo (2023)

November, Wundermond, der du die Welt verhüllst
und alles Grauen in des Nebels Laken bettest,
der du die Herzen mit geheimer Sehnsucht füllst
und alle Leidenden in deine Weißheit rettest.

Du brachtest sie zur Welt, die Frau, die mich geboren,
in deren Leib ich schwamm, bevor sie mich gebar,
du bist mein Muttermond, aus zwölfen auserkoren,
der Rabenmonat, der mein liebster immer war.

Ist nicht die Welt allein verhüllt noch zu ertragen?
Blut, Leid und Hunger quillt aus allen Fugen ihr.
Die Menschheit wird zur Pest, die den Planeten killt.

Ich seh Gerippe aus dem Mulch, der Erde ragen;
hör die Gequälten schrein, so schreit nicht mal ein Tier.
O nimm mich, Erde, auf, o Mutter mild!

Nationalpark (2005)

Kennst du den Regenwald voll schwarzer Panther,
die hingefläzt auf Riesenästen ruhn?
Der faule Leu, ihr größerer Verwandter,
liebt es wie sie, zu ruhn und nichts zu tun.
Doch während er gelegentlich zum Reißen
lebender Beute aufbricht, schlafen sie
bei Tag und Nacht; scheinen auch nicht zu scheißen,
als ob nur Atmen ihnen Kraft verlieh.
Da liegen sie, die hingestreckten Katzen,
recken sich gähnend, werden immer mehr,
lecken genüsslich ihre scharfen Tatzen,
ihr wilder Wille ist betäubt und leer.

Sind sie mutiert zu stillen Phytophagen?
Einst kommt der Tag, an dem sie wieder jagen.

Phaeton

Es hat des Vaters Gold in Höhen mich getragen,
die ich aus eigner Kraft niemals erklommen hätte.
Ich stürzte tief hinab von seinem Sonnenwagen
Und musste zusehn, wie ich, die mir lieb sind, rette.

Am schlimmsten jedoch ist, dass mein gering‘ Talent
stets unentwickelt blieb, es lag in goldnen Fesseln.
Was mir wie Glück erschien, wie es mich jetzt verbrennt,
setzt einer Scham mich aus, vergleichbar nur mit Nesseln.

Doch wenn schon ich verbrenn‘, verbrenne auch die Welt,
die allzu viel verbraucht fossile Energie,
in der gespeichert ist ein Schatz von Sonnenkraft.

Da ich zugrunde ging in eines Vaters Haft,
kommt alle, alle mit – dass keine(r) mir entflieh‘,
sie geh‘ in Flammen auf, die Erde, die uns hält!

Piazza (2015)

Aus grünem Himmel dringt das Morgenlicht
und alle Schatten sind gestreckt und schwarz.
Die Puffpuff kommt von rechts, macht weißen Dampf,
und doch verharrt sie auf demselben Fleck.

Arkaden links, Arkaden rechts, ein roter Turm
in Bildes Mitte macht was her mit Säulenpracht.
Zwei Männer im Gespräch mit langen Schatten,
auf einem Sockel in der Mitte ruht ein Weib,

ist es Ariadne, die des Weingotts harrt?
Sie ist aus grauem Tuff, am Horizont
erheben sich die Hügel Umbriens,

bei deren Anblick weinte eine einst,
die längst aus meinem Leben schwand hinweg,
im Windhauch flattern Wimpel rechts und links.

Sphärenlärm

Wumwumwumwumwumwumwum
Trööööööööööööööööööööööööööt
Tocktocktocktocktocktocktocktocktock
Quieieieieieieieieieieieieieieieieieieietsch

Bruumumumumumumumumumumm
Wumwumwumwumwumwumwum
Trööööööööööööööööööööööööööt
Tocktocktocktocktocktocktocktocktock

Quieieieieieieieieieieieieieieieieieieietsch
Bruumumumumumumumumumumm
Wumwumwumwumwumwumwum

Trööööööööööööööööööööööööööt
Tocktocktocktocktocktocktocktocktock
Quieieieieieieieieieieieieieieieieieieietsch

Julia

Sie ist nun Asche, deren Lächeln noch
vor kurzem uns und alle Welt beglückte.
In unser aller Dasein klafft ein Loch,
wo sie einst war, die nun ins Nichts Entrückte.
Dass ihr’s verwehrt, die Tochter zu begleiten,
die größtes Glück, nun größtes Leid ihr war,
es musste Angst und Kummer ihr bereiten,
ihr, die so leichthin opferte ihr Haar.
O süßes Nichts, in das sie uns entglitt,
umfang und tröste die so schwer Gequälte,
die physisch, psychisch unerträglich litt,
vergeblich Leiden für mehr Leben wählte.
     Doch unzerstörbar lebst du in uns fort,
     und lauschend hören wir dein leises Wort.

Nachruf

Ich hab mich in einen Friseursalon
verirrt links am Bahnhofsplatz,
es spielte mit einem Luftballon
in der Tür ein Hosenmatz.
Verzeihung, sagte ich, haben Sie Zeit,
mir eben die Haare zu schneiden?
Nicht sofort, war die Antwort, das tut mir leid,
Wartezeit ist nicht zu vermeiden.
Dem Herrn, der dran war, wurden die Ohren
und die Nasenlöcher gewachst.
Dann wurde er recht kurz geschoren,
Sie haben auf Kurdisch miteinander geflachst.
Der Schnitt war in Ordnung, gefiel mir sehr.
Ich wollte wieder hin, doch der Salon steht leer.

Prosa

Der Mulatte

Als ich meine Eltern fragte, ob ich meinen exotischen Studienfreund mit nach Hause bringen dürfe, antworteten sie: „Ja, gern – natürlich!“ Aber so natürlich war es wohl doch nicht – denn er war Haitianer, und meine Mutter sagte einen Tag später: „Lass es doch lieber. So ein schwarzer Mann in meinen weißen Laken!“

Als wir nach dem Besuch des Repetitors schwimmen gingen und unter den Duschen standen, sah ich, dass sein Rücken nicht schwarz, sondern gelbbraun war. Ich fragte ihn danach, er grinste und sagte: „Das ist meine polnische Großmutter!“ Er hieß André Toussaint Louverture und war ein Nachfahre des „schwarzen Napoleon“ von Haiti, François Toussaint Louverture, den die Franzosen so schmählich im Fort Joux im Jura verschmachten ließen. Bescheiden fügte André hinzu: „Es gibt an die dreihundert meines Namens auf Haiti.“

Seine Familie musste die Insel verlassen, als der Arzt François Duvalier, genannt Papa Doc, die Präsidentschaft von seinem Vorgänger Paul Eugène Magloire übernahm und mit seinen Schergen, genannt Tontons Macoutes, eine Voodoo-Diktatur des Schreckens errichtete. Alle hofften auf seinen Tod – doch nach seinem Ableben kam sein Sohn Jean-Claude Duvalier, genannt Baby Doc, an die Macht, und der betätigte sich mehr als Partylöwe, ließ aber die Tontons Macoutes weiter wüten.

„Ich bin ein Mulatte,“ erklärte André, „und die Duvaliers mochten die Mulatten nicht, ganz anders als Magloire, unter dem hätte mir eine diplomatische Laufbahn offen gestanden.“ Ich wunderte mich über das Wort Mulatte. André sagte: „Dieser Begriff vergleicht uns Mischlinge mit Maultieren: Der weiße Elternteil ist natürlich das edle Pferd, der schwarze der Esel. Eine Zeitlang glaubte man, wir wären nicht fortpflanzungsfähig.“ „Und wie viele weiße Vorfahren müsstest du haben, um dich Weißer nennen zu können?“ „Noch nie von der Eintropfenregel gehört? Wenn auch nur ein Tropfen deines Blutes aus Afrika stammt, bist du ein Schwarzer. Lies mal Licht im August von Faulkner! Weißt du, warum der Nagellack in Mode kam? Weil er die Lunula weißer Frauen verbarg, die einen Tropfen schwarzen Blutes hatten, denn an dem Möndchen am Grund des Fingernagels kann man das erkennen.“

André war stolz darauf, aus dem ersten Land zu stammen, das sich aus eigener Kraft von der Sklaverei befreit hatte. „Aber,“ fügte er hinzu, „wir Kreolen haben die Gewalt, der wir als Sklaven unterworfen waren, verinnerlicht – nehmen sie als selbstverständlich hin und üben sie nur allzu furchtbar aus. Kaum war Haiti frei, hat Jean-Jacques Dessalines es aus einer Republik in ein Kaiserreich verwandelt – und wurde ermordet.“ Heute ist Haiti das ärmste Land des Westens, von Korruption, Drogenbandenkämpfen und Naturkatastrophen heimgesucht, und kann sich nur mit Hilfe von außen erhalten. Was mag aus Dir geworden sein, André? Rechtsanwalt in der kleinen französischen Stadt, in der Deine Schwester mit dem Bürgermeister verheiratet war?

Das richtige Maß

Gibt es eigentlich auch eine Friedensbesoffenheit? Nein, mit Sicherheit nicht. Besoffenheit entsteht durch den übermäßigen Genuss eines schädlichen Giftes, nämlich Alkohol, und Krieg als etwas ebenfalls Schädliches kann mit ihm verglichen werden. Frieden hingegen ist etwas, was wir alle brauchen – wie z.B. Vitamine. Aber auch Vitamine können schaden bei Überdosierung. Auch hier muss das richtige Maß gefunden und eingehalten werden – überdosiert können auch Vitamine etwas sehr Schädliches sein und sogar zum Tode führen. Es gibt also allenfalls eine Friedensüberdosierung. 

Was viele Friedensüberdosierte übersehen, ist, dass ein gewisses Maß an Abschreckung tatsächlich den Frieden sicherer machen kann. Die relativ friedliche Zeit des „kalten Krieges“ verdankte sich der Abschreckung, und nicht dem Pazifismus. „Si vis pacem para bellum“ ist eine Weisheit, die nicht dadurch, dass sie lateinisch und uralt ist, sondern dadurch, dass sie sich vielfach bewährt hat, immer noch erwägenswert ist. Aber wahrscheinlich bin ich bereits durch ihre bloße Erwähnung ein kriegsbesoffener Bellizist.

Vom Stuhlgang

In dankbarem Andenken an Sir John Harington und Alexander Cumming

Oft schon nahm ich mir vor, über Lust und Last des Kackens zu schreiben. Aber falsche Scham hielt mich davon ab, die Reinlichkeitserziehung meiner Mutter war allzu erfolgreich. Was gibt es Schöneres als eine Kackwurst, die in nicht enden wollender Fülle den Darm verlässt und laut plumpsend ins wartende Wasser fällt? Das triumphale Gefühl dabei gab mir den Spruch ein: „Ausmarsch der Gladiatoren …“ Wobei Marsch sich kaum zufällig auf Arsch reimen dürfte. Und warum Gladiatoren? Ich weiß es nicht. Im Zusammenhang mit den körperlichen Grundfunktionen ist manches rätselhaft – vielleicht wollte ich mich als Caesar fühlen …

Mit nichts beginnt ja ein Tag mehrversprechend als mit einem erfolgreichen und befriedigenden Stuhlgang! Die Morgentasse Kaffee hat nur die Aufgabe, ihn herbeizuführen, denn das Koffein ermuntert die Peristaltik. Und nichts ist frustrierender, als auf der Brille zu hocken und vergeblich auf eine Kacke zu warten, die sich störrisch im Darm festklammert. „Ich habe gar keine Öffnung!“ rief in dieser vertrackten Situation mein Großvater seiner Frau zu, wenn diese beunruhigt fragte, was er so lange im Klo treibe oder auch, mit ironischem Unterton, ob sie ihn heute noch mal wiedersehe.

Nach Tagen ausbleibender Verdauung hat sich oft ein geradezu versteinerter Fäzes gebildet, dessen Ausmarsch den Schließmuskel fast zu zerreißen droht, hämorrhoidaler Schmerz durchzuckt dann den Scheißenden, aber er wird belohnt dadurch, dass das Klo den Gewaltsbrocken nicht zu schlucken vermag und verstopft ist, wenn man mit der Bürste nicht nachschiebt.

Enzensberger hat der Scheiße eins seiner schönsten Gedichte gewidmet, in dem es u.a. heißt:

Seht nur, wie sanft und bescheiden
sie unter uns Platz nimmt!

Das Gedicht stammt offenbar noch aus der Zeit, als die Toiletten anders gebaut waren: Das Gemachte platschte nicht spritzend ins Wasser, sondern wurde auf einem speziellen Absatz, ja, Sockel liebevoll platziert, auf dem man seinen Anblick gründlich genießen konnte. Natürlich verströmte es hier seinen natürlichen Duft, den angewidert Gestank zu nennen wir von Kind auf gelernt haben. Ich genieße es offen gestanden, auf ein solches altmodisches Klo zu gehen, weil ich es schade finde, wenn mir der Anblick meines Werks so abrupt entzogen wird. Und ist es nicht oft auch wichtig, Größe, Konsistenz und Farbe des ausgeschiedenen Haufens zu analysieren? Es kann von medizinischer Bedeutung, ja lebenswichtig sein, dass man dies Verachtete gebührend würdigt! So können Parasiten, z.B. Spul-, Faden- oder gar Bandwürmer sich in unserem Darm eingenistet haben und dann stückweise oder in voller Länge ausgeschieden werden, worüber informiert zu sein keinesfalls schaden kann. Ich rede gar nicht von Durchfällen, von Eindunkelung durch Blut und anderen Abweichungen vom Normalen.

Die Begutachtung der eigenen Ausscheidungen ist enorm wichtig und wird von Medizinern aller Kulturen und Zeitalter geübt, und es hat sich sogar in letzter Zeit eine neue Hochachtung vorm Kot entwickelt, seit bekannt ist, dass derjenige eines Ausscheiders mit gesunder Darmflora, in den Darm eines mit kranker überführt, diesem Heilung verschaffen kann. Die Stadt Basel plant die Errichtung eines Brunnens, der in stark vergrößerter Form und in Bronze nicht etwa Löwen, Pferde, Stiere oder Adler – sondern die Darmbakterien feiert, die uns am Leben halten, weshalb wir sie durch reichlichen Verzehr von Ballaststoffen erquicken sollten.

Ein anderer Dichter, der sich gelegentlich skatologisch geäußert hat, ist T. S. Eliot:

Unser natürliches waches Ichleben trägt in sich ein Wahrnehmen.
Wir können warten mit unseren Stühlen und unseren Würsten.

Wie oft mag der Vielbeschäftigte Stuhldrang zu unpassender Zeit gespürt haben und musste den Zeitpunkt der Entleerung verschieben! Oft genug hatte sich der Fäzes bis dahin verknörzelt, er ließ sich nieder und drückte ächzend allenfalls ein paar Pillen Schafskot hervor!

Keinesfalls ein Zufall ist es, dass wir für ein schmackhaftes Lebensmittel und für die Ausscheidung allgemein dasselbe Wort benutzen: Wurst. Die eine macht Platz für die andre, ja, es regt regelrecht den Appetit an, wenn im Darm wieder Raum für Nachschub geschaffen wurde! Und wird nicht die im Mund zerkleinerte Nahrung im Darm auf eine Weise verarbeitet, die als Verwurstung zu bezeichnen völlig angemessen ist? Tückisch aber ist das Völlegefühl; es treibt uns in die keramische Abteilung, hoffnungsvoll lassen wir uns nieder – aber nur ein knallender Furz entweicht dem Darm – oder ein markerschütterndes Knattern – und die erhoffte substanzielle Befreiung bleibt aus.

Es blieb dem unsterblichen Charles Bukowski vorbehalten, den Stuhlgang ins rechte Licht zu rücken und seine hohe Position auf der Werteskala zu bestimmen: „Sex ist interessant,“ schreibt er, „aber nicht das einzig Entscheidende. Ich will sagen, er ist nicht mal so wichtig (technisch gesehen) wie das Scheißen. Ein Mann kann 70 Jahre alt werden, ohne je eine Nummer geschoben zu haben, aber ohne Stuhlgang kann er in einer Woche tot sein.“ Noch Fragen?

Ach ja, das gilt natürlich auch fürs weibliche Geschlecht, und Frauen, die an Obstipation leiden und oftmals zum altbewährten Klistier zu greifen sich gezwungen sehen, gibt es in Hülle und Fülle. Meine Mutter, die Erde werde ihr leicht, gehörte dazu. Sie hat sich in ihrer Verzweiflung oft das Verhärtete händisch herausgeholt. Aber sie hat dann damit nicht wie die künsterisch begabte Mitbewohnerin des Seniorenstifts die Wände ihres Zimmers verziert. Urs Widmer erzählt (in „Reise an den Rand des Universums S. 176) eine Geschichte, mit der ich schließen will, weil sie die Metaphysik des Scheißens eindrücklich zusammenfasst: Er erzählt von der „frommen Nonne, die ein Leben lang – beinah ein Leben lang – Verstopfung hatte und Gott anflehte, sie zu erlösen, und endlich einen so großen Haufen Steine kackte, dass sie, zum Dank, aus ihnen eine Kapelle errichten konnte.“

Der Schuss

Ja, Du warst mal, salopp gesagt, die Nr. 1 in meinem Leben, Agnes, ich glaube, Du weißt es, und es ist alles gut und in Ordnung, wie es gelaufen ist. Aber als jener Schuss fiel, der Dich zur Witwe machte, reichte sein Widerhall bis hierher, und ich lebte Monate, ich weiß nicht wie lange, in dem Gefühl: Du musst hin, vielleicht braucht sie dich jetzt, du musst zur Stelle sei. Ruth hat mein verändertes Wesen bemerkt, hat die Ursache ausgemacht und wusste von Anfang an, dass es nicht nur Freundschaft war, wie ich beteuerte, und wie ich auch fest zu glauben versuchte. Aber als ich Dich wiedersah, war ich ganz zittrig und wie gelähmt, spätestens da wusste ich, dass Ruth recht hatte. Jetzt ist der Platz der Nr. 1 in meinem Leben besesetzt, ich kann ihn Dir nicht anbieten und ich scheue mich, Deinem Stolz die Rolle einer Nr. 2 zuzumuten, wobei es mit dem Stolz, denke ich, so weit heute gar nicht mehr her ist. Ich möchte Dich wiedersehen, Dich umarmen, Deinen Schmerz, Deine Einsamkeit mit meiner vermischen. Das ist alles, was ich weiß, aber es wird im verminten Niemandsland stattfinden müssen, wenn es überhaupt einen Ort auf der Welt dafür gibt. (nicht abgesandt)

Finden und Verlieren

Näselnde Saxophonklänge sanken verzerrt vom Casino zur Allee hinab. Der misstönende Schrei eines Blässhuhns drang wie ein Pfeil aus dem Nebel, der über dem ans Ufer schwappenden Süßwasser lag. „Was bin ich für ein Esel!“, dachte der junge Mann, der aus der Abiturfeier hier herunter geflüchtet war, nachdem er den Vater des Mädchens, das er über alles liebte, gebeten hatte, der Kapelle eine Runde zu bringen. „Wie konnte ich ihn für einen Kellner halten! Gerade als ob es nicht auch Menschen im Frack gäbe, die keine Kellner sind! Edwarda wird es mir nie verzeihen!“ Hagen begrub seinen Kopf in den Händen. „Eben noch Festredner vor versammelter Eltern-, Lehrer- und Schülerschaft, und jetzt nur noch ein Häufchen Elend. Was für ein Absturz!“ Das Seewasser gluckste. Der Boden war modrig hier, nicht der ideale Grund, um hineinzugehen. Schritte näherten sich. Zwei Menschen, leise mit einander redend, kamen und setzten sich auf die nächste Bank. Ihr Reden verstummte. Sie hatten Wichtigeres zu tun. Voller Entsetzen erinnerte Hagen sich an den Kuss, den Edwarda nicht ihm, den er nicht Edwarda gegeben hatte, sondern in dem sie miteinander verschmolzen waren. Ihm war, als spüre er den Duft ihres Speichels noch auf seinen Lippen. Es sollte der Anfang gewesen sein. War es das Ende? „Nein“, murmelte Hagen, „nein!“ Das Paar stand erschrocken auf. „Spanner!“, sagte eine Männerstimme. Das war Lothar, er hatte schon den ganzen Abend Ingrid angegraben. Sie war ein nettes Mädchen, aber hölzern. Edwarda hingegen war wie aus Stahl.

Warum aber hatte sie auch von ihrem Vater nie gesprochen? Warum hatte sie ihm nicht wenigstens gesagt, dass er am Abend ins Casino kommen würde? Hagen hatte sich gewundert, warum sie nie von ihm sprach, hatte aber nicht zu fragen gewagt. Es gab so viele Gründe, über die zu sprechen schmerzlich sein musste. Er konnte gefallen sein. Oder verstorben. Die Ehe der Eltern konnte geschieden sein. Oder er konnte Frau und Kinder auch ohne Scheidung verlassen haben wie Ingrids Vater, der von einem Tag auf den anderen stiften gegangen war wegen eines Tuschkastens von blondierter Sekretärin. Nein, das alles musste er nicht wissen. Er wollte Edwarda nicht das Gefühl geben, er dränge sich in ihr Leben. Oder sei gar neugierig. Die Kromers waren ja erst kürzlich nach Krogstedt gezogen. Vor zwei, drei Jahren hatten sie von Häuslebauern, denen das Geld ausgegangen war, ein fast fertiges Objekt oben am Seeufer erworben. Nun ja, woher hätte eine alleinstehende Mutter mit drei Töchtern das Geld nehmen sollen? Edwarda hatte angedeutet, dass ihre Mutter aus einer alten Hanseatenfamilie stammte. Da konnte es ja durchaus noch Vermögenswerte geben, auch wenn der Bombenkrieg viel vernichtet hatte. Wie auch bei Hagens Großmutter, die eines Tages mit einem halb verbrannten Lederköfferchen vor der Tür gestanden hatte. Ihr Haus in der Hoheluft­chaussee war nur noch ein Trümmerhaufen, und oben drauf stand die Badewanne. Hagen schlug sich vor den Kopf. „Eben wollte ich vor Gram noch ins Wasser gehen – und jetzt bin ich schon bei Oma Hedwig!“

Er wollte gerade aufstehen, als ihn der Strahl einer Taschenlampe traf. Die Lampe erlosch, es setzte sich jemand neben ihn. Das war sie. Er roch ihren Duft. Sandelholz. „Warum bist du abgehauen?“ O, wie ihn der Vorwurf dieser Frage berauschte! Sie hatte ihn also vermisst! „Es tut mir so leid“, sagte Hagen. „Ich wollte ihn nicht beleidigen. Aber ich kannte ihn doch gar nicht!“ Edwarda lachte. „Ach, das!“ Ihre Hand suchte die seine, fand sie und umfasste sie fest. Was für eine Wonne, von dieser schlanken Hand umfasst zu werden! „Mein Vater hat gelacht, als er es mir erzählte. ‚Stell dir vor, man hat mich für ein Mitglied des Personals gehalten!‘ Ihm machen solche Sachen Spaß. Ich habe ihn gewarnt, als er den Frack anzog. So etwas tragen doch heutzutage nur noch Kellner! Geschieht ihm recht!“ „Ist das wahr?“ Hagen konnte es nicht fassen. „So wahr!“, sagte sie und drückte ihre Lippen auf seine, was freilich erst klappte, nachdem ihre nicht winzigen Gesichtserker ein Arrangement gefunden hatten. „Und ich dachte schon, alles wär aus!“

Sie genossen einander ein Weilchen stumm. Dann sagte Edwarda plötzlich: „Damit könntest du sogar Recht haben.“ „Womit?“ „Dass zwischen uns alles aus ist. Mein Vater, der vermeintliche Kellner, soll vor Gericht gestellt werden. Wir überlegen ins Ausland zu gehen.“ Hagen schwieg. Was schlug da nun in ihrer beider Leben herein? Tausend Fragen blitzten ihm durch den Kopf, die wichtigsten: Warum und wessen wurde Edwardas Vater angeklagt? Wann? Und warum wollte sie mitgehen? Konnte sie nicht hier bleiben, hier studieren, auch wenn ihr Vater im Ausland war? Als könnte sie in seinem Kopf lesen wie in einem offenen Buch, sagte Edwarda: „Wessen man ihn bezichtigt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er sich für schuldlos hält. Ich würde mit ihm gehen und ihm helfen, sich im Ausland eine neue Existenz aufzubauen. Ich studiere das dortige Recht und helfe ihm in seiner Kanzlei.“ Also war er Anwalt, auch das war neu für Hagen. „Ich muss sogar noch weiter gehen,“ sagte Edwarda und legte ihm die rechte Hand fast mütterlich auf die linke Wange. „Ich weiß zwar nicht, wofür er angeklagt wird. Aber ich weiß, dass es sich um Ungeheuerlichkeiten handelt. Ich mag dich sehr, Hagen. Deine Freundschaft bedeutet mir viel. Du bedeutest mir viel. Du verkörperst für mich – eine Welt der Bildung und des Friedens, eine Welt guter, unspießiger Bürgerlichkeit. Und gerade deshalb muss ich dich warnen. Hänge dich nicht an mich. Auch wenn die Anklagen gegen meinen Vater sich als haltlos erweisen, wie sagt der Lateiner noch mal?“ „Aliquid semper haeret.“ „Danke. Du wirst mir fehlen, Hagen, bitterlich fehlen. Die Gespräche mit dir – über Abälard und Héloïse, über die Göttliche Komodie und den Vers ‘An jenem Tage lasen sie nicht weiter’. Und wie du mich zu einem Burgfräulein auf der Krogstedter Burg gemacht hast. Mit Tütenhut und Schleier! Und mir mit der Laute ein Ständchen bringen wolltest …“

Sie hob seine Hand an den Mund und bedeckte sie mit Küssen. Und mit Tränen, die sie wegküsste. „Es geht nicht anders, Liebster! Ich bin eine Gezeichnete und würde es mir nie verzeihen, dich in den Strudel von Dingen hereingezogen zu haben, für die du überhaupt nichts kannst!“ Das alles kam so überraschend für Hagen, dass es ihm die Sprache verschlug. „Aber auch du kannst nichts dafür!“, brachte er schließlich heraus. „Ich bin seine älteste Tochter. Ich würde es mir nie verzeihen, ihn in dieser seiner schweren Lage allein gelassen zu haben. Meine Mutter ist eine gute Frau, aber in politischen Dingen schnell überfordert. Und meine Schwestern belasten ihn eher, als dass sie ihm helfen. So paradox es ist, aber meine Liebe zu ihm habe ich erst jetzt richtig entdeckt. Ich bin die einzige, mit der er über alles spricht. Würde es dir mit deinem Vater nicht ähnlich gehen, wenn auch er in schwere See geriete? Ich muss dir Adieu sagen, so schwer es mir fällt. Die beiden Plätze im Flieger sind schon gebucht. Wir reisen voraus, weil Eile geboten ist. Leb wohl, lieber Freund!“ Er umarmte und drückte sie an sich wie ein zum Tode Verurteilter. „Ich kriege keine Luft mehr!“ keuchte sie, ertastete den Aufruhr, in dem er sich befand, und gab ihm den Kuss, der ihn nie verließ.

Die stummen Skalden

Zum Beginn des Schuljahrs, und das war damals noch nach den Osterferien, wurden sie ins Nebengebäude umquartiert. Es war baufällig, der Putz bröckelte malerisch von den Wänden, Risse in den Decken ließen befürchten, dass es zu fatalen Durchbrüchen mit durch die Luft fliegenden Schülern und Lehrern kommen könnte. Hinzukam, dass in diesem Gebäude Chemie- und Physiksaal untergebracht waren, und besonders vom ersteren gingen nicht nur üble Gerüche, sondern gelegentlich auch Erschütterungen aus – Bahr und Steenbock, die beiden Chemielehrer, überboten einander im Arrangieren effektvoller Versuche, gleichsam naturwissenschaftliche Populisten, wobei sie sich ansonsten gar nicht ähnlich waren: Bahr ein verlottertes Genie mit oft offener Hose voller Flecken, deren Herkunft nach Auffassung der pubertierenden Schüler eindeutig war, Steenbock hingegen ein immer perfekt in grauen Zweireiher gekleideter Gentleman, den Hagen ein wenig verehrte – sollte er je Lehrer werden, was ja nicht völlig auszuschließen war, so wollte er einer wie Steenbock werden, weshalb er es auch bedauerte, dass nicht dieser, sondern der unappetitliche Bahr sein erster Chemielehrer wurde.

„He, Stempel,“ raunte Rottfeld ihm in der Pause zu, „ich bin nicht mehr lange hier.“ „Wieso, was ist los? Machst du die Fliege?“ Rottfeld grinste über sein eiförmiges sommersprossiges Gesicht, das von einem schütteren Wuschel roten Haares gekrönt war. „Ah, was,“ sagte er, „Fliedner kann mich doch mal! Nein, mein Alter hat sich festgefahren. Er war bisher auf Tramp unterwegs, und jetzt hat die Karibik ihn eingefangen, weiß nicht warum. Wahrscheinlich wegen der Weiber!“ Rottfeld kniff kennerhaft ein Auge zu. „Er hat sich ein Häuschen auf Tobago gekauft, weißt du, wo das liegt? Natürlich nicht – bei Trinidad, und das heißt Dreieinigkeit auf Deutsch. Natürlich weißt du auch nicht, was die Dreieinigkeit ist, weil du nicht am Religionsunterricht teilnimmst, du armer Heide!“ „Was – und da willst du hinziehen?“ „Ich doch nicht allein – mein Muttertier natürlich mit und auch das Wurm, das angeblich mein Geschwisterchen ist, also mütterlicherseits bestimmt …“ Wieder kniff er ein Auge zu, aber diesmal das andere. Er war ein virtuoser Benutzer solcher Zeichen, die dem Gesprächspartner signalisierten: Nimm’s nicht zu ernst! Cum grano salis! Oder auch: Man weiß ja nie! Hagen mochte Rottfeld, er war ein wirklich selbständiger Kopf und dabei weder brutal noch selbstherrlich wie Eggert, der Sohn eines Sattelmeisters aus dem Gestüt Rösthoff. Eggert war Hagens Banknachbar, seine Spezialität war es, von guten Arbeiten abzuschreiben und trotzdem Fünfen nach Hause zu tragen, wo er stilgerecht vom Sattelmeister mit der Pferdepeitsche durchgezogen wurde.  Was für ein hartgesottener Bursche er war, bewies er dann in der Umkleide: Er enthüllte stolz grinsend sein blaurot verfärbtes Gesäß, verbat sich jedes Mitleid. Er war als Sitzenbleiber in die Klasse gekommen, hatte keine Freunde, aber seine Brutalität war gefürchtet genug, um ihn alsbald zum Klassensprecher zu machen. Hagen verabscheute ihn, aber Fräulein Holm hatte ihn zu seinem Banknachbarn gemacht, weil sie glaubte, dass von ihm eine veredelnde Wirkung auf den Übeltäter ausgehen könnte.

„Der Sklave sieht die Rosen blühen. Rottfeld!“ Fliedner, untersetzt und zäh, fliehende Stirn, fliehendes Kinn, als Parachutist über Kreta abgesprungen, verfügte über einen das Trommelfell zerreißenden Befehlston. Rottfeld stand auf und schwieg mit der ihm eigenen sturköpfigen Verlegenheit. Er sagte nicht: „Das weiß ich nicht,“ machte aber auch keinen fehlerhaften Versuch. „Servus videt rosas florere,“ zischte Hagen ihm zu. Rottfeld wiederholte es, aber sehr leise. „Noch mal, ich verstehe nichts!“ Fliedner legte eine Hand hinters Ohr, Rottfeld murmelte den Satz etwas lauter. „Verstehe immer noch nichts! Hast du denn keine Stimme im Leib, Bursche?“ Fliedner befahl ihm, nach draußen auf die Wiese hinterm Nebengebäude zu gehen, riss das Fenster auf und ließ ihn aus rund 20 m Entfernung den Satz wiederholen. Rottfeld hatte ihn freilich vergessen und schwieg erneut. Vielleicht fand er ihn auch blöd und weigerte sich, diesen Schwachsinn zu wiederholen, der auch auf Lateinisch Schwachsinn blieb. „Hoffnungslos,“ murmelte Fliedner und machte mit gespitzten Lippen eine vernichtende Notiz in sein Büchlein. Hagen begriff, dass Rottfeld nicht ungern nach Tobago auswandern würde. Fliedners gab es da mit Sicherheit nicht – dafür aber Ölfässer, auf denen getrommelt wurde, und Massen üppiger halbnackter Weiber, die dazu mit auf und ab wippenden Brüsten tanzten.

„Nein, verkenne mich nicht,“ antwortete Rottfeld auf eine entsprechende Zettelbotschaft Hagens, die unter der Bank weitergereicht wurde, „ist die Holmsche denn nicht hinreißend?“ Fräulein Holm war platt wie ein Bügelbrett, eine mal giftig fauchende, mal kaltschnäuzig abkanzelnde verblasste Blondine, vollgestopft mit abgestandenen Idealen. Hagen betörte sie mit einer Bildbeschreibung von Joseph Anton Kochs „Wasserfall“, für sie ein Meisterwerk, für Hagen triste Genrekunst, aber er hatte gelernt, den Schwächen der Lehrkräfte zu schmeicheln, und Fräulein Holm war aus Gründen, die vielleicht in ihrer Herkunft lagen – sie stammte von der weltabgelegenen Insel Amrum – geistig im 19. Jahrhundert stecken geblieben, und als Dorle, ein stämmiges, kluges Mädchen aus der dritten Bank, sie mit dem Bild eines Kornfelds konfrontierte, über dem Krähen auffliegen, schnarrte sie, es sei ihr unmöglich, in diesem Geschmiere Kunst zu erkennen, und dabei war auch das noch 19. Jahrhundert. Dorle war wütend, aber nicht verletzt, sie war sich ihrer Sache viel zu sicher, ihre blauen Augen funkelten, und sie murmelte in sich hinein: „Vincent van Gogh war ein Genie, und Sie sind nichts als eine elende Nazisse.“

Zu Rottfelds ausgeprägtem Eigensinn gehörte es, dass er als einziger daran festhielt, Hagen „Stempel“ zu nennen. Und von ihm konnte Hagen sich das gefallen lassen, von allen anderen hätte er es als Spott empfunden, denn nicht der Stempel, mit dem ein Bürokrat etwas beglaubigt, war gemeint, sondern der zentrale Teil einer Blüte. Fräulein Dr. Kohlsaat hatte in der ersten Gymnasialklasse die Struktur einer Blüte darstellen lassen von sechs Mädchen mit roten Jacken für die Blütenblätter, sechs Mädchen mit gelben für die Staubgefäße, und wegen seiner besonderen Größe war Hagen auserwählt worden, den Stempel zu repräsentieren. Zunächst war ihm das egal gewesen, ja, er fand es schmeichelhaft, von zwölf Mädchen im Ringelreihn umtanzt zu werden, aber dann hatte Fräulein Dr. Kohlsaat auf Nachfragen geäußert, dies sei der weibliche Teil der Blüte – und schon waren Spitzname und Lacherfolg da, während die Mädchen, die die männlichen Staubgefäße gespielt hatten, ungeschoren blieben. Hagen gewöhnte sich an, auf Stempel nicht zu hören, weshalb die Benennung außer Gebrauch kam. Nur Rottfeld hielt daran fest, grinste freundlich-hintersinnig dabei, und Hagen revanchierte sich, indem er Rottfeld nie bei seinem Vornamen nannte.

„Sehen wir uns heute nachmittag?“, fragte Rottfeld, der auch Präsident des frisch gegründeten Vereins der Stummen Skalden war, als sie sich an der Teichstraße trennten. „Ich will sehen, ob ich mich loseisen kann.“ „Wär gut, wenn du kommst. Wir wollen uns doch eine Verfassung geben.“ „Das könnt ihr auch ohne mich.“ „Dein Alter ist doch so ein Paragrafenfuchs.“ „Meinst du, das vererbt sich?“ „Was wir brauchen, ist eine gute Präampel.“ „Eine Prä-was?“ „Ampel. Oder Ambel, egal. So nennt man das Vorwort einer Verfassung. Im Bewusstsein unserer Verantwortung vor uns selbst und dem Wort.“ „Ein Wort, ein Satz,“ Hagen begann leise zu rezitieren, „aus Chiffren steigen/ erkanntes Leben, jäher Sinn,“ Rottfeld neigte seinen roten Wuschel an Hagens Kopf, so dass ihre Haare sich mischten, und raunte: „Die Sonne steht, die Sphären schweigen, /und alles ballt sich zu ihm hin.“

Das mit dem Loseisen gestaltete sich unschwieriger, als Hagen erwartet hatte. Emil und Vilma erwogen zu bauen, und da Rottfelds Onkel Bauunternehmer war, war es durchaus sinnvoll, dass der Sohn den Kontakt zum Neffen pflegte. „Ich beneide ihn um seinen Namen. Wenn ich noch einen Sohn bekommen hätte, er hätte unbedingt Rüdiger heißen müssen.“ Vilma liebte die deutschen Sagen, besonders das Nibelungenlied und seine Verarbeitung durch Richard Wagner. Sie konnte sich, das jeweils passende Reclam-Textbuch auf dem Knie, durch den gesamten „Ring“ fressen, wenn er aus Bayreuth übertragen wurde – mit der überragenden Martha Mödl als Brunhilde. Emil bevorzugte Verdi. Seine Lieblingsarien waren „Sie hat mich nie geliebt“ aus dem „Othello“ und „Holde Aida“ aus der gleichnamigen Suezkanaleröffnungsoper. Wenn eine von ihnen oder auch Bellinis „Casta diva“ erklang, verließ Vilma die Veranda, in der das NordMende Radio mit dem grün zwinkernden magischen Auge stand. „Dein Vater hat Greta Garbo immer mehr geliebt als mich,“ sagte sie mal zu Hagen. „Und glaub ihm nicht, wenn er behauptet, ich hätte für Italo Balbo geschwärmt. Was für ein Unsinn! Bewundert habe ich ihn, ich wäre selbst gern Fliegerin geworden!“

Der schwarze Schuppen von Herrn Nordmann, genannt Onkel Max, roch durchdringend nach Karbolineum. Der bejahrte Pädagoge schwor auf die Holz konservierende Wirkung des Teerprodukts und tränkte alles damit, was irgend tränkbar war. Die Freundschaft mit den Skalden war entstanden, als Rottfeld bei ihm Birnen geklaut hatte. Nordmann hatte einen Baum, auf dem gedieh eine Sorte von geradezu göttlicher Süße und Zartheit, die man besser nie probierte, denn dann kam man nicht mehr von ihr los: Clapps Liebling. Zu Rottfelds war eine über den Zaun gefallen, Rottfeld probierte sie – und wurde zum Dieb. Anders als Kirchenvater Augustin bereute er es aber nie; Max Nordmann, der unter Arthritis litt, sah großzügig davon ab, Madeleine, Rottfelds über und über sommersprossige Mutter, zu benachrichtigen, und drückte dem Dieb ein Beil in die Hand. Damit durfte er einmal wöchentlich Holz für den Kamin des alten Recken und seiner Martha machen, und bei dieser Gelegenheit erfuhr Nordmann von der Not der Skalden, die nach einem außer Kontrolle geratenen Besäufnis aus dem Keller von Schwanhild Asmussen herausgeflogen waren. Die Verfassung wurde deshalb in Nordmanns schwarzem, intensiv nach Karbolineum stinkenden Schuppen beschlossen und ein von Hagen stammendes Gemälde der nackerten Madeleine enthüllt, auf die die versammelten Skalden stabreimende Gesänge anstimmten.: „Wie springt ins Aug dein Sprossenkleid!“